II. Abteilung, Band 1

Nr. 132

1890 Februar 1

Bericht1 des Gesandten Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein an den badischen Ministerpräsidenten Dr. Ludwig Turban

Ausfertigung

Bericht über die Staatsministerialratssitzung vom Vortag; die geplanten Erlasse werden bereits ausgearbeitet

Eurer Exzellenz beehre ich mich, in Ergänzung meiner chiffrierten Depesch2 vom Heutigen ergebenst anzuzeigen, daß in der gestrigen Sitzung des preußischen Ministerrats, bei welcher sich Seine Majestät der Kaiser unerwartet eingefunden hatte, ein vorläufiger Ausgleich der bestehenden Differenzen dahin erzielt wurde, daß Seine Majestät demnächst zwei Ordres erlassen wird, die eine an die Minister für Handel und Gewerbe und für öffentliche Arbeiten, in welcher die Minister aufgefordert werden, der Frage näherzutreten, ob nicht die auf die Fabrikarbeiter bezüglichen Vorschriften der Gewerbeordnung einer Ergänzung in der Richtung bedürfen, daß einer übermäßigen Ausbeutung der Arbeitskraft der Arbeiter mehr wie bisher vorgebeugt werde ─ die andere an den Herrn Reichskanzler mit der Anregung, demnächst eine Konferenz der Mächte zu berufen, um eine internationale Regelung der Arbeiterfrage anzubahnen. Seine Majestät der Kaiser gab zu diesem modus procedendi seine Zustimmung, und auch der Herr Reichskanzler, der nach wie vor sich gegen jede weitere Einschränkung der Frauen-, Kinder- und Sonntagsarbeit aussprach, erklärte sich im Prinzip mit diesem Vorgehen einverstanden. An der Redaktion der beiden Erlasse wird gegenwärtig im Auswärtigen Amt und im Reichsamt des Innern gearbeitet und wäre es dringend zu wünschen, daß nicht über die Fassung neue Differenzen entstehen. Der Herr Reichskanzler wird natürlich bestrebt sein, für beide Erlasse eine so allgemeine Form zu finden, daß seine Anschauung über Arbeiterschutz in keiner Weise präjudiziert wird.

Nachdem Seine Majestät in Erfahrung gebracht hatte, daß der Herr Reichskanzler den sächsischen Gesandten vorgestern empfangen3 ließ er gestern den Grafen Hohenthal zu sich rufen und bat ihn um eine Mitteilung über den Inhalt seiner Unterredung mit dem Reichskanzler4 Graf Hohenthal konnte unter diesen Umständen nicht umhin, dem Kaiser von der ihm gemachten Eröffnung ─ vgl. Bericht vom Gestrigen Nr. 5 ─ Kenntnis zu geben, worauf allerhöchstderselbe ihn beauftragte, nach [ Druckseite 539 ] Dresden zu melden, daß er den König von Sachsen dringend bitte, die Arbeiterschutzanträge möglichst bald beim Bundesrat einzubringen. Graf Hohenthal ist diesem Auftrag nachgekommen, sagte mir aber heute, daß vor den Wahlen die Fertigstellung des Antrags nicht mehr möglich sein werde.

Registerinformationen

Orte

  • Oldenburg

Personen

  • Albert (1828–1902) , König von Sachsen
  • Eulenburg und Hertefeld, Dr. Philipp Graf zu (1847–1921), , preußischer Gesandter in Oldenburg, Braunschweig, Lippe-Detmold und Schaumburg-Lippe
  • Kayser, Dr. Paul (1845–1898) , Geheimer Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Bundesrat
  • Fabrikarbeiter
  • Reichskanzler
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1890
  • 1Ausfertigung: GLA Karlsruhe 233 Nr. 34798, n. fol.; Entwurf: GLA Karlsruhe 49 Nr. 2019, fol. 7 f. »
  • 2In dieser hatte Marschall v. Bieberstein um 13.45 Uhr gemeldet: In dem gestrigen Ministerrat wurde beschlossen, daß Deutschland internationale Konferenz wegen Arbeiterschutz einberufe; auch wird Kaiser bei Bundesregierungen die Frage anregen. Kaiser vorläufig befriedigt, Krise ...t (nicht entziffert), aber persönliches Verhältnis sehr schlecht, da Kaiser Unterredung Reichskanzlers mit Gesandten von Sachsen erfuhr (dechiffriertes Telegramm: GLA Karlsruhe 233 Nr. 34798, n. fol.). »
  • 3Vgl. Nr. 119. »
  • 4Vgl. Nr. 126. »
  • 5Vgl. Nr. 124. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 132, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0132

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