II. Abteilung, Band 1

Nr. 124

1890 Januar 31

Bericht1 des Gesandten Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein an den badischen Ministerpräsidenten Dr. Ludwig Turban

Ausfertigung

Lagebericht zum Konflikt zwischen Bismarck und Wilhelm II.

Eurer Exzellenz beehre ich mich, im Anschluß an die Mitteilungen meines Berichts vom 15. d. M.2 Nr. 1 ergebenst zu berichten, daß die in denselben angedeuteten Differenzen zwischen Seiner Majestät dem Kaiser und dem Herrn Reichskanzler bezüglich der Arbeiterschutzfrage inzwischen nicht nur keinen Ausgleich gefunden, sondern sich im Gegenteil noch gesteigert haben.

Nachdem der Kaiser bei dem am letzten Freitag stattgehabten Kronrat3 mit seiner auf Abgabe einer entgegenkommenden Erklärung bezüglich des Sozialistengesetzes gerichteten Anschauung infolge des energischen Widerstands des Herrn Reichskanzlers, dem die übrigen Minister beitraten, unterlegen war, gab allerhöchstderselbe mit großer Wärme und Entschiedenheit den Entschluß kund, auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes vorzugehen und zunächst in einem an das Staatsministerium gerichteten zu veröffentlichenden Erlaß diesen Gedanken kundzugeben.

Obgleich Fürst Bismarck auch in dieser Beziehung Widerspruch einlegte, wurde doch beschlossen, auf den kaiserlichen Gedanken einzugehen und der Aufstellung des Entwurfs eines solchen Erlasses näherzutreten. Vergangenen Sonntag fand sodann eine Sitzung des Staatsministeriums statt,4 in welcher ein solcher Entwurf aufgestellt wurde,5 der, wie ich höre, ganz allgemein gehalten ist und den Punkt, auf welchen es dem Kaiser vornehmlich ankommt, nämlich den Arbeiterschutz im Sinn einer Beschränkung der Frauen-, Kinder- und Sonntagsarbeit, nicht erkennen läßt.

Nachdem inzwischen die königlich sächsische Regierung die amtliche Mitteilung gemacht hatte, daß sie demnächst einen Arbeiterschutzantrag in obigem Sinn beim Bundesrat einbringen werde,6 ließ der Herr Reichskanzler gestern vormittag den [ Druckseite 502 ] Grafen Hohenthal zu sich rufen und eröffnete ihm, daß, falls die sächsische Regierung mit einem solchen Antrag hervortrete, er das Einbringen desselben solchen im Bundesrat sofort mit seinem Entlassungsgesuch beantworten werde;7 der Kaiser interessiere sich für den Antrag und werde ihm den Befehl geben, für denselben zu stimmen; da ihm seine Überzeugung dies verbiete, so wolle er einer solchen Situation durch vorherige Einreichung seines Demissionsgesuchs zuvorkommen. Gleichzeitig entwickelte er dem Grafen Hohenthal eingehend seine bekannten Gründe gegen den Arbeiterschutz. Nachmittags ließ er sodann den Grafen Lerchenfeld zu sich rufen, machte ihm die gleiche Mitteilung und erbat die Unterstützung der bayerischen Regierung in dieser Angelegenheit.8

Im Lauf des heutigen Tages wird ein Ministerrat bzw. Kronrat stattfinden, in welchem die Feststellung des kaiserlichen Schreibens an das Staatsministerium erfolgen soll.9 Ob der Herr Reichskanzler, der am Sonntag, wenn auch mit Widerstreben, sich mit einem ganz farblosen Entwurf einverstanden erklärt hatte,10 nicht im letzten Augenblick auf den Standpunkt des prinzipiellen Widerspruchs gegen jede Aktion zurückkehrt, ist mir bei seinen wechselnden Stimmungen und insbesondere nach den Vorgängen des gestrigen Tages einigermaßen zweifelhaft.

Daß das persönliche Verhältnis zwischen Kaiser und Kanzler durch die neuesten Ereignisse schwer Not gelitten hat, liegt auf der Hand.

Registerinformationen

Regionen

  • Bayern, Königreich

Personen

  • Crailsheim, Krafft Freiherr von (1841–1926) , bayerischer Außenminister
  • Hohenthal und Bergen, Dr. Wilhelm Graf von (1853–1909) , sächsischer Gesandter in Berlin
  • Lerchenfeld-Koefering, Hugo Graf von und zu (1843–1925) , bayerischer Gesandter in Berlin, Bundesratsbevollmächtigter

Sachindex

  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Bayern
  • Reichstag
  • 1Ausfertigung: GLA Karlsruhe 233 Nr. 34798, n. fol.; Entwurf: GLA Karlsruhe 49 Nr. 2019, fol. 5 f. »
  • 2Vgl. Nr. 100. »
  • 3Vgl. Nr. 113. »
  • 4Vgl. Nr. 115. »
  • 5Dies ist irrig. Auf der Staatsministerialsitzung vom 26.1.1890 wurde v. Boetticher beauftragt, den Erlaß auszuarbeiten (vgl. Nr. 115), der erst auf der ─ nach diesem Bericht datierenden ─ Staatsministerialsitzung vom 31.1.1890 beraten werden konnte (vgl. Nr. 127). »
  • 6Vgl. Nr. 118. »
  • 7Vgl. Nr. 119. »
  • 8Vgl. Nr. 122. »
  • 9Vgl. Nr. 127. »
  • 10Vgl. Anm. 5. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 124, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0124

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