Chronologische Liste aller Quellen

Band- und Abteilungsübergreifende chronologische Liste aller Quellen. Aktuell enthalten: Band 1, Abteilung II. Sortiert nach Datum.

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Abteilung II, 1. Band

Nr. 122

1890 Januar 30

Bericht1 des Gesandten Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering an den bayerischen Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim

Ausfertigung, Teildruck

Lagebericht über die Kanzlerkrise; Bericht über eine Unterredung mit Bismarck, der für den Fall der Einbringung des sächsischen Arbeiterschutzantrags mit Rücktritt droht

Euer Exzellenz habe ich in den letzten Tagen nicht berichtet, weil es mir nicht gelungen war, einen klaren Einblick in die innere Lage zu gewinnen.

Was inzwischen geschehen war und was man vernommen hatte, ließ eher darauf schließen, daß die Krisis einer Lösung entgegenginge. In der Thronrede bei Reichstagsschluß war das Sozialistengesetz mit Stillschweigen übergangen und der Frage des Arbeiterschutzes nur in einer vorsichtigen, alle Deutungen zulassenden Weise gedacht.2 Der Reichskanzler hatte mit dem König von Sachsen eine 1 {1/4}stündige Unterredung gehabt,3 dabei auch den zu erwartenden Antrag besprochen, ohne einen Versuch zu machen, den König von der Stellung des Antrags abzubringen. Auch vernahm man, daß im Reichsamt des Innern Erwägungen über Arbeiterschutz stattfänden. Alles dies konnte man als beruhigende Symptome deuten.

Andererseits aber waren auch wieder Anzeichen dafür vorhanden, daß die Dinge einen glatten Verlauf nicht nehmen.

Heute mittag hat mich nun der Reichskanzler rufen lassen und hat in einer fast 1stündigen Unterredung mir sein Verhältnis zum Kaiser und die Krisis, wie er es nannte, geschildert.

Die Unterredung war zu lang, und ich war verhindert Notizen zu machen. Ich kann also nicht wörtlich referieren und muß mich beschränken, das Wichtigste der Mitteilungen wiederzugeben.

Der Reichskanzler begann damit, die Stellung des Kaisers und die seine zu dem sogenannten Arbeiterschutz darzulegen. Der Kaiser trage sich mit den weitgehendsten Gedanken. Er wolle auf einmal alle Menschen beglücken. Fremde Einflüsse phantastischer Leute (Hinzpeter, Graf Douglas, der Maler Heyden) seien vorhanden. Auf ihn und seine Minister wolle er nicht hören.

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Er, der Reichskanzler, betrachte diese Beschränkungen der Freiheit des Arbeiters zu verdienen, als eine Torheit. Hier folgte eine lange Entwicklung der bekannten Ansichten des Fürsten über die Frage.

Dann kam der Reichskanzler auf den zu erwartenden sächsischen Antrag über Arbeiterschutz zu sprechen. Wäre dieser ohne weiteres gestellt worden, so hätte er ihn im Bundesrat bekämpft. Nun habe aber der König von Sachsen mit dem Kaiser die Sache abgemacht, und zwar ohne daß sein allergnädigster Herr4 seine Minister gefragt hätte. Unter diesen Umständen könne er nicht im Bundesrat widersprechen. Er sei aber zu alt und habe keine Lust, seinen Namen für Maßregeln herzugeben, welche seiner Überzeugung zuwiderlaufen.

Bisher habe er sich als Anwalt der Bundesstaaten und Fürsten im Reich betrachten können und seine Aufgabe darin erblickt, die Interessen dieser gegen Übergriffe zu schützen. Nun sei eine Reihe deutscher Fürsten, Sachsen, Baden, Weimar, gegen ihn mit seinem kaiserlichen Herrn vorgegangen.

Seine Lage sei unhaltbar und er sei darum fest entschlossen, den übermäßig aufgebauschten Reichskanzler einer Schweningerkur5 zu unterziehen. Der Anfang sei gemacht, indem er dem Kaiser den Oberpräsidenten von Berlepsch, auch einen der nicht ganz legitimierten Ratgeber Seiner Majestät, als Handelsminister vorgeschlagen habe, und der Kaiser sei sehr bereitwilligst darauf eingegangen. So wolle er nach und nach den Reichskanzler gliederweis ablegen und nur den Rumpf, die Leitung der auswärtigen Politik, behalten. Sei er ganz aus dem preußischen Staatsdienst ausgeschieden, dann könnte im Bundesrat die preußische Stimme auch gegen seine Auffassung abgegeben werden.

Hier kam der Fürst wieder auf den sächsischen Antrag und sagte, daß nach seiner Überzeugung Arbeiterschutzgesetze, wie sie gedacht seien, einen höchst ungünstigen Einfluß auf die Wahlen üben würden. Er habe darum nach Dresden geschrieben und gebeten, man möge doch den Antrag bis nach den Wahlen zurückhalten.6

Ich schalte hier ein, daß der Fürst dem sächsischen Gesandten7 gestern ausdrücklich gesagt hat, er könne dem König Albert schreiben, er, der Reichskanzler, werde an dem Tag seine Demission geben, an welchem der Antrag beim Bundesrat einkommt.8

Auf die Wahlen zurückkommend, fuhr dann der Fürst fort, daß der Kaiser eine Proklamation erlassen wolle, worin den Arbeitern alles mögliche an Arbeiterschutz versprochen würde. Dies müßte den denkbar schlechtesten Eindruck auf alle besitzenden Klassen machen. Der junge Monarch wolle alle Leute zufrieden machen. Er wisse noch nicht, daß die absolute Zufriedenheit für niemand in der Welt bestünde. Derartige enthusiastische Bestrebungen seien gefährlich auf dem Thron.

Ich deutete hier dem Fürsten die frühere Stellung der königlichen Regierung zu den im Bundesrat abgelehnten Anträgen A[c]kermann9 an und sprach dann meine [ Druckseite 499 ] Meinung dahin aus, daß der Kaiser sich doch besinnen werde, den Fürsten abtreten zu lassen.

Der Fürst bestritt dies. Er fühle es lange, daß er dem Kaiser unbequem sei als ein Mentor, der immer widerspricht. Der Kaiser vermeide es, ihn zu sehen, er wolle Leute, welche ihm zu Gefallen sprechen, und glaube, alles selbst machen zu können. Der Kaiser werde aufatmen, wenn er ihn erst einmal los sei.

Er, der Reichskanzler, könne ja einen Konflikt jeden Tag herbeiführen. Das wolle er aber nicht. Er würde sich lieber in der Stille zurückziehen. Wie es gehen werde, wisse er nicht, denn vier der anderen Minister seien auch müde und hätten ihm ihre Entlassung angeboten, Boetticher, Scholz, Goßler, Maybach. Er halte sie aber davon ab.

Am Schluß der Unterredung fragte ich den Fürsten, ob es ihm recht sei, wenn ich den Inhalt seiner Mitteilungen meiner hohen Regierung berichte. Er antwortete, daß er dies wünsche, damit die königliche Regierung die Situation kenne.

Dem Vorstehenden werden Euer Exzellenz entnehmen, daß der Reichskanzler ganz gegen seine Gewohnheit die ganze Angelegenheit akademisch behandelt hat, ohne zu einem bestimmten Schluß zu kommen. Trotz verschiedener Zwischenfragen, die ich gestellt, kann ich nicht sagen, was er vor hat. Er sprach von vollständigem Rücktritt, von Beschränkung seiner Tätigkeit, dabei aber, was die Hauptsache betrifft, dem sächsischen Antrag, von dilatorischer Behandlung desselben, ohne aber anzudeuten, was später geschehen soll. Der Fürst war bei der Unterredung weder heftig noch ernster als gewöhnlich.

Wenn ich meine Ansicht aussprechen darf, so wünscht er durchaus nicht zurückzutreten, sondern nur, daß kein sächsischer Antrag auf Arbeiterschutz kommt. Zu dieser Auffassung bestimmt mich auch, was ich von anderer Seite höre,10 daß nämlich seit Sonntag, den 26., seine Stimmung jeden Tag wechselt und er erst seit gestern mit dieser Bestimmtheit Stellung genommen hat. [...]

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Registerinformationen

Regionen

  • Baden, Großherzogtum
  • Preußen
  • Sachsen, Königreich
  • Sachsen-Weimar-Eisenach, Großherzogtum

Personen

  • Ackermann, Karl Gustav (1820–1901) , Geheimer Hofrat und Finanzprokurator, , Rechtsanwalt in Dresden, MdR (konservativ)
  • Berlepsch, Hans Freiherr von (1843–1926) , Regierungspräsident in Düsseldorf; später: Oberpräsident der Rheinprovinz; später: preußischer Handelsminister
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Dönhoff, Karl Graf von (1833–1906) , Wirklicher Geheimer Legationsrat, preußischer Gesandter in Dresden
  • Goßler, Dr. Gustav von (1838–1902) , preußischer Kultusminister
  • Hohenthal und Bergen, Dr. Wilhelm Graf von (1853–1909) , sächsischer Gesandter in Berlin
  • Maybach, Albert von (1822–1904) , preußischer Minister der öffentlichen Arbeiten
  • Scholz, Dr. Adolf von (1833–1924) , Staatssekretär im Reichsschatzamt; später: preußischer Finanzminister
  • Schweninger, Dr. Ernst (1850–1924) , Privatarzt der Familie Bismarck, a. o. Professor für Hautkrankheiten in Berlin

Sachindex

  • Arbeitszeit
  • Bundesrat
  • Frauenarbeit
  • Handwerk, Handwerker
  • Lohn
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Bayern
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Sachsen
  • Reichskanzler
  • Reichstag
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1890
  • Sonntagsruhe
  • Streik
  • 1Ausfertigung: BayHStA München MA 692, n. fol.; Entwurf: BayHStA München Bayerische Gesandtschaft Berlin 1052, n. fol. »
  • 2Vgl. Nr. 118 Anm. 2. »
  • 3König Albert war am Morgen des 27.1.1890 in Berlin eingetroffen und traf ─ neben Bismarck ─ auch mit Wilhelm II. zusammen; er reiste am Abend des 28.1. wieder ab. »
  • 4Kaiser Wilhelm II. »
  • 5Nach Dr. Ernst Schweninger benannte Abmagerungskur. »
  • 6Vgl. Nr. 121. »
  • 7Graf von Hohenthal und Bergen. »
  • 8Gemeint ist die Unterredung Bismarcks mit Graf v. Hohenthal und Bergen vom selben Tag; vgl. Nr. 119. »
  • 9Gemeint sind die von dem konservativen Reichstagsabgeordneten Karl Gustav Ackermann seit 1885 regelmäßig in den Reichstag eingebrachten Anträge zur Wiedereinführung des 1869 abgeschafften „Befähigungsnachweises“ im Handwerk, die jeweils aufgrund Sessionsschlusses unerledigt blieben. Am 20.1.1890 gelang schließlich eine Annahme in dritter Lesung (Sten.Ber. RT 7. LP V. Session 1889/1890, S. 1118). Im Bundesrat erfolgte am 23.1. eine Überweisung an den vierten Ausschuß (§ 37 der Protokolle), eine endgültige Zurückweisung durch den Bundesrat erfolgte erst am 17.6.1892 (§ 486 der Protokolle). »
  • 10Wohl von v. Boetticher. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 122, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0122

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