II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil
Nr. 155
1884 April 1
Bericht1 über die dritte Sitzung der VII. Kommission des Reichstags
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[Beratung über die §§ 2─5 der dritten Unfallversicherungsvorlage]
Die betr. Reichstagskommission setzte am 1. d. M. die erste Lesung des Gesetzentwurfs, betr. die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle, fort. Von den Abgg. Eysoldt und Genossen lag eine große Zahl von Anträgen zu den nächsten Paragraphen vor. Zunächst wurde beantragt, nach dem § 1 folgenden § 1a einzufügen: “Durch statutarische Bestimmung eines weiteren Kommunalverbandes kann für dessen Bezirk die Versicherungspflicht erstreckt werden: 1. auf alle in der Landwirtschaft beschäftigten Personen, sofern deren Beschäftigung bei Herden oder in Betrieben stattfindet, in welchen Zugvieh zur Verwendung kommt; 2. auf alle in der Forstwirtschaft beschäftigten Personen, sofern der Betrieb nicht ein integrierender Teil eines landwirtschaftlichen Betriebes ist.” Während die Antragsteller hierfür den Zweck des Gesetzes und das dringende Bedürfnis wenigstens in vielen Gegenden Deutschlands anführten, widersprachen die Mitglieder der Rechten und des Zentrums sowie der Regierungsvertreter Direktor Bosse teils wegen formeller Mängel des Antrags, teils und hauptsächlich, weil die vorgesehene Organisation auf die Land- und Forstwirtschaft nicht passe und die erforderlichen Spezialbestimmungen das Gesetz übermäßig beschwerden würden. Abg. Dr. Buhl beantragte zu der statutarischen Bestimmung die Zustimmung des Versicherungsverbandes zu erfordern; aber auch in dieser Fassung wurde der Antrag mit Stimmengleichheit abgelehnt; dagegen Zentrum und Konservative. Nach § 2 Abs. 1 soll durch statutarische Bestimmung der Berufsgenossenschaften die Versicherungspflicht auf Betriebsbeamte mit einem 2000 M übersteigenden Jahresarbeitsverdienst erstreckt werden. Hierzu beantragen die Abgg. Eysoldt und Genossen den Zusatz: “jedoch nur auf den vollen Betrag des Jahresarbeitsverdienstes”, um zu verhüten, daß die Genossenschaften nicht willkürlich nur einen Teil des Gehaltes zum Maßstab der Entschädigung machen. Nachdem der Staatssekretär v. Bötticher erkärt, daß die Vorlage im Sinne der Antragsteller zu verstehen sei, wurde der Antrag zurückgezo-
[ Druckseite 553 ]gen und § 2 angenommen. § 3 handelt von der Ermittlung des
Jahresarbeitsverdienstes, und zwar in Absatz 3 bezüglich solcher Personen,
welche wegen noch nicht beendigter Ausbildung keinen oder einen geringen Lohn
beziehen. Für diese soll als Jahresarbeitsverdienst das Dreihundertfache des
ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagearbeiter gelten, jedoch nicht über 300
M. Die Deutsch-Freisinnigen [Eysoldt, Dr. Gutfleisch, Dr. Hirsch] beantragten,
diese untere Grenze als inhuman und gar nicht erforderlich zu streichen, dagegen
für die Zeit nach Ablauf der üblichen Ausbildungszeit den Lohn derjenigen
Beschäftigungsart, zu welcher der Verletzte ausgebildet werden sollte, als
Maßstab zu nehmen. In der Diskussion wurde der erste Antrag von allen Seiten als
richtig anerkannt, der zweite der Tendenz nach ebenfalls von der Mehrzahl
gebilligt, besonders auch mit Rücksicht auf die Volontäre. Der erste Antrag
wurde einstimmig, der zweite in der von dem Abg. Dr. Lieber abgeänderten Fassung
mit großer Majorität angenommen. § 4 lautet: “Auf Beamte, welche in
Betriebsverwaltungen des Reichs, eines Bundesstaats oder eines Kommunalverbandes
mit festem Gehalt und Pensionsberechtigung angestellt sind, findet dies Gesetz
keine Anwendung.” Ein Antrag der Deutsch-Freisinnigen [Eysoldt, Dr. Gutfleisch,
Dr. Hirsch] zu diesem Paragraphen bezweckte den großen Nachteil, welcher hierin
für die Staats- und Kommunalbetriebsbeamten liegen würde, indem ihre
Pensionsansprüche weit niedriger sind als die Unfallentschädigung, zu verhüten.
Auch diese Tendenz fand allseitigen Anklang; Abg. Frhr. v. Hammerstein
formulierte demgemäß den ursprünglichen Antrag Eysoldt in folgender veränderter
Fassung: [...] Vgl. den Abdruck von § 4 bei Nr. 172. Geh. Reg.-Rat Bödiker
erklärte sich eventuell mit der Fassung einverstanden, worauf seitens des
Zentrums gegen diese Veränderung des föderativen Prinzips, welches in den
Motiven klar ausgesprochen sei, energischer Widerspruch erhoben ward. Dennoch
wurde der Antrag von Hammerstein gegen Zentrum und Frhrn. v. Maltzahn
angenommen. Zu § 5 “Gegenstand der Versicherung und Umfang der Entschädigung”
lagen 11 Anträge der Deutsch-Freisinnigen vor, welche hauptsächlich die
Beseitigung event. Verkürzung der Karenzzeit, die Erhöhung der Entschädigungen
und die Beseitigung des Anspruches von Hinterbliebenen solcher Personen, welche
den Unfall vorsätzlich herbeigeführt haben, bezwecken. Ein Antrag der
Nationalliberalen bezog sich auf die Arbeiter, welche nicht der
Krankenversicherungspflicht unterlagen; ein zweiter Antrag wollte die Abrechnung
zwischen den Kranken- und Unfallkassen, besonders auch hinsichtlich der
Verpflegung über 13 Wochen hinaus, regeln. Nachdem diese Anträge von den
Abgeordneten Dr. Hirsch, Dr. Buhl und Oechelhäuser eingehend begründet worden
und der Abg. Lohren sich gegen die meisten derselben erklärt, wurde die Sitzung
vertagt.2
Registerinformationen
Personen
- Bamberger, Ludwig (1823─1899) Politiker und Schriftsteller, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
- Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
- Gutfleisch, Dr. Egidi (1844─1914) Rechtsanwalt, MdR (Liberale Vereinigung)
- Hammerstein, Wilhelm Freiherr von (1838─1904) Chefredakteur der “Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung”, MdR (konservativ)
- Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
- Lieber, Dr. Ernst Philipp (1838─1902) Jurist, MdR (Zentrum)
- Lohren, Arnold (1836─1901) Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei)
- Marquardsen, Dr. Heinrich (1826─1897) Staatsrechtslehrer, MdR (nationalliberal)
- Miquel, Johannes (1828─1901) Oberbürgermeister von Frankfurt
- Oechelhäuser, Wilhelm (1820─1902) Industrieller, MdR (nationaliberal)
- 1ZfV, 8. Jg. 1884, S. 167, Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3081, fol. 99─104 Rs., Anträge fol. 105─110. »
- 2Am 2.4.1884 schrieb Ludwig Bamberger an Stauffenberg: Haben Sie die süßsauren Avancen verfolgt, welche den N(ational)L(liberalen) in der N.A.Z. gemacht werden? Unter Führung von Marq(uardsen) u. Miquel werden sie jedenfalls sehr weit diesem Ruf entgegengehen. In der Unfall-Komm(ission) sind sie auch darüber vollständig zu Kreuz gekrochen bis auf Buhl; am 13.4.1884 schrieb er dann: M(arquardsen) ergreft die Gelegenheit, mit den Konservativen zu fraternisieren. In der Unfallkomiss(ion) kommandiert er die N(ational)L(iberalen) im selben Sinn. (BArchP 90 Sta 1, fol. 50 Rs. u. 61) ─ Diese Taktik wurde dann durch das Arrangement der Regierung mit dem Zentrum “überholt” (vgl. Nr. 175). »
Zitierhinweis
Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 155, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.
Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0155
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