II. Abteilung, Band 1

Nr. 138

1890 Februar 4

Erlaß1 des Deutschen Kaisers und preußischen Königs Wilhelm II. an den preußischen Handelsminister Hans Freiherr von Berlepsch und den preußischen Minister der öffentlichen Arbeiten Albert von Maybach

Ausfertigung

Die Bestimmungen der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter sollen überprüft werden; Errichtung von Arbeitervertretungen; staatliche Bergwerke als Musteranstalten; der erweiterte Staatsrat soll darüber beraten

Bei Meinem Regierungsantritt habe Ich Meinen Entschluß bkundgegeben, die fernere Entwicklung unserer Gesetzgebung in der gleichen Richtung zu fördern, in welcher Mein in Gott ruhender Großvater sich der Fürsorge für den wirtschaftlich schwächeren Teil des Volkes im Geist christlicher Sittenlehre angenommen hat.b

So wertvoll und erfolgreich die durch die Gesetzgebung und Verwaltung zur Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes bbisherb getroffenen Maßnahmen bsind, so erfüllen dieselben doch nicht die ganze mir gestellte Aufgabe.b

Neben dem weiteren Ausbau der Arbeiterversicherungsgesetzgebung bsind die bestehenden Vorschriften der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter einer Prüfung zu unterziehen,b um den auf diesem Gebiet laut gewordenen Klagen und Wünschen, soweit sie begründet sind, gerecht zu werden.

Diese Prüfung hat davon auszugehen, daß es eine der Aufgaben der Staatsgewalt ist, bdie Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben.b

bFür die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind gesetzliche Bestimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen, in denen die Arbeiterb durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bbeib Verhandlung mit den Arbeitgebern bund mit den Organen meiner Regierungb befähigt werden. bDurch eine solche Einrichtung ist den Arbeitern der freie und friedliche Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden zu ermöglichen und den Staatsbehörden Gelegenheit zu geben, sich über die Verhältnisse der Arbeiter fortlaufend zu unterrichten und mit den letzteren Fühlung zu behalten.b

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Die staatlichen Bergwerke wünsche Ich bezüglich der Fürsorge für die Arbeiter zu Musteranstalten entwickelt zu sehen, und für den Privatbergbau berstrebe Ich die Herstellung eines organischen Verhältnisses Meiner Bergbeamten zu den Betrieben, behufs einer der Stellung der Fabrikinspektionen entsprechenden Aufsicht, wie sie bis zum Jahre 1865 bestanden hat.b

Zur Vorberatung dieser Fragen will Ich, bdaß der Staatsrat unter Meinem Vorsitz und unter Zuziehung derjenigen sachkundigen Personen zusammentrete, welche Ich dazu berufen werde. Die Auswahl der letzteren behalte ich Meiner Bestimmung vor.b

Unter den Schwierigkeiten, welche der Ordnung der Arbeiterverhältnisse in dem von Mir beabsichtigten Sinn bentgegenstehen, nehmen diejenigen, welche aus der Notwendigkeit der Schonung der heimischen Industrie in ihrem Wettbewerb mit dem Ausland sich ergeben, eine hervorragende Stellung ein.b Ich habe daher den Reichskanzler angewiesen, bei den Regierungen der Staaten, deren Industrie mit der unsrigen den Weltmarkt beherrscht, den Zusammentritt einer Konferenz anzuregen, um die Herbeiführung bgleichmäßiger internationaler Regelungen der Grenzen für die Anforderungen anzustreben, welche an die Tätigkeit der Arbeiter gestellt werden dürfen. Der Reichskanzler wird Ihnen Abschrift Meines an ihn gerichteten Erlasse2 mitteilen.b

Registerinformationen

Sachindex

  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Beamte
  • Bergarbeiter
  • Fabrikinspektoren
  • Reichskanzler
  • Staatsrat, preußischer
  • 1GStA Berlin I. HA Rep. 120 BB VII 1 Nr. 29, fol. 16─17 Rs. Der Erlaß wurde im Reichsanzeiger in der Abendausgabe vom 5.2.1890 veröffentlicht.Zur Erstfassung v. Boettichers vgl. Nr. 128. Von Boetticher übergab Bismarck seinen eigenhändigen Entwurf am 30.1.1890, der am 31.1. im Staatsministerium beraten wurde (vgl. Nr. 127). Otto v. Bismarck überarbeitete eine Reinschrift des Entwurfs v. Boettichers erheblich (vgl. Faksimile, S. 514 ff.), ließ anschließend eine zweite Reinschrift erstellen, die er wiederum erheblich abänderte. Auch auf der schließlich am 4.2.1890 abgezeichneten dritten Reinschrift nahm Bismarck noch Abänderungen vor (BArch R 43 Nr. 431, fol. 211─ 222). Die auf Bismarcks Abänderungen zurückgehenden Textteile haben wir mit b-b gekennzeichnet. »
  • 2Vgl. Nr. 137. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 138, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0138

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