II. Abteilung, Band 1

Nr. 133

1890 Februar 1

Brie1 des Geheimen Legationsrats im Auswärtigen Amt Dr. Paul Kayser an den Legationsrat Dr. Philipp Graf zu Eulenburg und Hertefeld

Abschrift

Bericht über das Ergebnis der Staatsministerialratssitzung vom Vortag; Kayser sieht seine Vorschläge verwirklicht

Noch bin ich so naiv zu glauben, daß Sie in Oldenbur2 weniger von dem Gang der Ereignisse unterrichtet sind als ich hier, und deshalb schreibe ich Ihnen, bis Sie mir das Gegenteil versichern.

Zwei Dinge sind in der letzten Staatsministerialsitzung, die gestern stattgefunden hat, beschlossen worden:

1. ein allerhöchster Erlaß an den Handelsminister, wonach die Arbeiterschutzgesetzgebung in Angriff genommen werden soll, ferner

2. ein allerhöchster Erlaß an den Reichskanzler, wonach zu einer internationalen Konferenz über die Arbeiterschutzfragen die erforderlichen Schritte zu geschehen sind.

Sehe ich davon ab, daß der erste Erlaß statt an das Staatsministerium an den Handelsminister zu ergehen hat ─ eine Differenz, der ein sachlicher Wert nicht beizumessen ist ─, so sind diese Beschlüsse im Sinne der Vorschläge gefaßt, die ich mir erlaubt hatte, Ihnen zu unterbreiten3 Ich finde diesen Erfolg der kaiserlichen Initiative außerordentlich; er trifft nach meiner Überzeugung sachlich das Richtige, und wenn jene Erlasse auch noch in der Form schön werden, so bin ich überzeugt, daß wir in den nächsten Tagen einen Jubelhymnus über den Kaiser in allen Blättern des In- und Auslands finden werden. Die Ära der allerhöchsten Botschaften Kaiser Wilhelm I. hat mit dem ihre Endschaft erreicht; wir bedürfen jetzt einer neuen Leitung und Direktive, und ich sehe in den zu erwartenden Erlassen Kaiser Wilhelm II. ein neues für uns notwendiges Leitmotiv.

Ich weiß, daß Sie mit Ihrem warmen Herzen nicht schnell genug den Zeitpunkt für gekommen ansehen, an welchem eine Milderung des allgemeinen Elends und eine größere Zufriedenheit eintreten soll. Allein, Sie sind lange genug im Zivildienst, [ Druckseite 540 ] um auch zu wissen, daß Maßnahmen dieser Art nicht wie ein Befehl im Manöver ausgeführt werden können, wo mit einem Schlag das ganze Bild ein anderes wird.

Sachlich ist eine nationale Arbeiterschutzgesetzgebung nicht in vollem Maß zu verwirklichen ohne eine internationale Abmachung: Ich glaube Ihnen das genügend in meiner Denkschrift ausgeführt zu haben. Deshalb liegt in dem zweiten vom Staatsministerium beschlossenen Erlaß keine Verschleppung der Angelegenheit: im Gegenteil ist anzunehmen, daß eine längere Dauer, durch welche sich alle notwendigen Verhandlungen in den einzelnen Stadien hinziehen, dem kaiserlichen Einfluß zugute kommt. Von der Botschaft Wilhelm I4 haben die staatserhaltenden Parteien nahezu 7 Jahre gelebt und in ihr die Voraussetzungen für ihre Existenz gefunden. Es wäre nur zu begrüßen, wenn die zu erwartenden kaiserlichen Erlasse auf die gleiche Dauer von Jahren das Banner bildeten, um welches sich das Kartell schart.

Ich weiß nicht, ob die Stylisten unserer Ministerien soviel Begeisterung für die Sache empfinden, um mit einem von staatsmännischer Vorsicht getragenen Inhalt auch eine warme Sprache zu verbinden. Beides ist notwendig. Es ist nicht zu vergessen, daß der Kaiser es ist, der das Wort führt. Er darf nicht Hoffnungen erwecken, die zu erfüllen außerhalb seiner Kräfte liegen, und er muß doch dem Volk zeigen, wie mächtig seine große Seele für die Hebung der niederen Klassen seines Volkes schlägt: Denn das „roi des gueux“ Friedrich des Großen ist heute das „soziale Königtum“ geworden. Deshalb halte ich es für wünschenswert, wenn in dem an den Reichskanzler bestimmten (oben zu 2 genannten) Erlaß hervorgehoben wird, was in Deutschland bereits unter seiner Geschäftsführung während der früheren Regierung geschehen ist. Es müßte m. E. folgender Passus vorkommen:

Im Deutschen Reich sind unter der Regierung meines in Gott ruhenden Herrn Großvaters und unter Ihrer bewährten Leitung der Geschäfte Einrichtungen zum Besten der Fabrikarbeiter ins Leben gerufen worden, welche sie nicht nur gegen Krankheit und Unfall, gegen Alter und Invalidität sicherstellen, sondern auch ihr leibliches und sittliches Wohl zu schätzen und zu sichern geeignet sind. Soweit in letzterer Beziehung noch Ergänzungen innerhalb unserer Grenzen möglich sind, wird das Erforderliche im Wege der Gesetzgebung nach meinen, Ihnen bekannten, Intentionen im Reich und in Preußen veranlaßt werden5

Ich erachte einen solchen Passus auch aus der Rücksicht gegen den Reichskanzler für geboten. Die Meinung des Kanzlers über die Arbeiterschutzgesetzgebung ist in sehr weiten Kreisen bekannt; es wird seinem Ruhm keinen Eintrag tun, daß das in der Natur begründete Zaudern des 75jährigen Staatsmanns von dem Enthusiasmus seines jugendlichen Herrschers fortgerissen und überflügelt worden ist. Aber damit ist die Grenze auch erreicht. Es wäre nach meiner Ansicht nicht bloß ein politischer Fehler, sondern geradezu ein politisches Verbrechen, wenn aus dieser Frage eine ernste Differenz zwischen dem Kaiser und seinem ersten Staatsmann herausgelesen werden müßte. Denn darüber darf sich niemand einer Täuschung hingeben: Der Abgang des Kanzlers ist etwas Konkretes, in das Auge springendes, demgegenüber die Frage des Arbeiterschutzes als ein theoretisches Abstraktum vom Volk nicht verstanden ist. Geht der Kanzler vor den Wahlen, so ist das Kartell nicht zu halten; man [ Druckseite 541 ] wird die einzelnen Bestandteile wie die Atome im Himmelsraum herumwirbeln sehen. Auf den Grund des Abgangs käme es meiner Ansicht nach gar nicht an; die Tatsache selbst würde genügen, um die Bevölkerung im Reich zu erschüttern. Das ist keine Illusion; der Kanzler ist zu einem Faktor in der Politik geworden. Ich will gar nicht die Frage erörtern, ob es für einen Monarchen klug ist, einen Minister zu einer solchen Stellung heranwachsen zu lassen. Wir müssen mit gegebenen Größen rechnen, und da behaupte ich gegen jedermann und alle: Abgesehen, daß es sich um Hoch- und Landesverrat handelte, würde heut noch das allgemeine Urteil bei einer Differenz zwischen Kaiser und Kanzler zugunsten des letzteren entscheiden. Das ist zu natürlich, und Sie werden meine Meinung noch mehr begreifen, wenn ich Ihnen mitteile, daß ganz ausgesprochene politische Gegner des Kanzlers heut schon zu fürchten beginnen, daß er demnächst abgehen könnte. Diese Auffassung von der Bedeutung des Kanzlers für den Weltfrieden und für eine ruhige und angemessene Entwicklung im Innern steht durchaus nicht im Widerspruch mit der monarchischen Gesinnung unseres Volkes, noch tut es derselben Abbruch. Wenn der Kaiser heut den Kanzler gehen läßt, so wird das Volk den Monarchen nicht weniger lieben, aber es wird ihn beklagen und seine Ratgeber dafür verantwortlich machen, daß er sich von einer solchen Persönlichkeit hat trennen können. Das Volk würde einen Grund wie die Arbeiterschutzgesetzgebung nicht als genügendes Motiv der Trennung ansehen. Daß dieses in Süddeutschland geradezu ein Schlag für unser Prestige wäre, darüber brauche ich Ihnen gegenüber nach Ihrem langjährigen Aufenthalt in Münche6 kein Wort zu verlieren.

Hoffentlich können wir bald mündlich mehr darüber reden; denn Sie werden es glaubhaft finden, daß eine lange Korrespondenz nicht mit meiner sonstigen Tätigkeit im Einklang steht. Vielleicht ist es Ihnen möglich, bei Ihrer demnächstigen Anwesenheit bei mir zu essen oder zu frühstücken: Wir ersparen dann beide Zeit.

[ Druckseite 542 ]

Registerinformationen

Regionen

  • Preußen
  • Süddeutschland

Orte

  • Berlin
  • München

Personen

  • Bismarck, Herbert Graf von (1849–1904) , Sohn und Mitarbeiter Otto von Bismarcks, Staatssekretär im Auswärtigen Amt
  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Friedrich II., der Große (1712–1786) , König von Preußen

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Februarerlasse
  • Frauenarbeit
  • Kartell
  • Kinderarbeit
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kultur
  • Lohn
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen – Düsseldorf
  • Reichskanzler
  • Reichsregierung
  • Soziales Königtum
  • Staatsministerium, preußisches
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • 1BArch N 1029 (Eulenburg) Nr. 8, fol. 61─65. »
  • 2Graf zu Eulenburg und Hertefeld befand sich seit 14.1.1890 wieder an seinem Dienstort Oldenburg. »
  • 3Vgl. Nr. 102. »
  • 4Gemeint ist die Kaiserliche Sozialbotschaft vom 17.11.1881, vgl. Nr. 9. »
  • 5Eine solcher Passus befindet sich inhaltlich am Beginn des Erlaßentwurfs v. Boettichers vom 1.2.1890 (vgl. Nr. 127). Wörtlich übereinstimmend ist die Formulierung meines in Gott ruhenden Herrn Großvaters. »
  • 6Graf zu Eulenburg und Hertefeld war von 1881 bis 1888 Sekretär an der preußischen Gesandtschaft in München. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 133, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0133

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