II. Abteilung, Band 1

Nr. 131

1890 Februar 1

Bericht1 des Gesandten Dr. Wilhelm Graf von Hohenthal und Bergen an den sächsischen Außenminister Alfred Graf von Fabrice

Ausfertigung

Lagebericht zum Konflikt zwischen Bismarck und Wilhelm II.; Bismarck soll die Zusage gegeben werden, daß der sächsische Arbeiterschutzantrag erst nach den Wahlen eingebracht wird; der Konflikt ist nicht überbrückbar; Bericht über die Staatsministerialsitzung vom Vortag

Bei näherer Betrachtung der für die königliche Staatsregierung durch das eigentümliche Vorgehen des Fürsten Bismarck, welcher dem ausgesprochenen Willen seines Kaisers und Königs entgegen, unserem allergnädigsten Herrn gegenüber die Kabinettsfrage gestellt hat, geschaffenen überaus peinlichen Situation bin ich doch zu der Überzeugung gelangt, daß dieselbe durch den gestrigen Schrit2 Seiner Majestät des Kaisers eine ganz wesentliche Besserung erfahren hat.

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Es wäre sehr schwierig gewesen, Seine Majestät den Kaiser über die Angelegenheit vollständig aufzuklären, wenn allerhöchstderselbe nicht das Bedürfnis gefühlt hätte, sich nach allen Einzelheiten derselben eingehend zu erkundigen. Allerdings habe ich einen Augenblick geschwankt, ob ich Seiner Majestät die volle Wahrheit sagen solle, weil ich mich der Erwägung nicht verschließen konnte, daß hierdurch ein sofortiger Bruch zwischen dem Kaiser und dem Kanzler hätte herbeigeführt werden können. Daß ich es dennoch getan habe, beruhte auf dem Gefühl, daß ich dem Kaiser, allerhöchstwelcher mir sein Vertrauen schenkte und eine ehrliche Antwort erwartete, um so weniger etwas verschweigen zu sollen glaubte, als es meine Überzeugung war, daß nur durch volle Aufrichtigkeit die Loyalität der Haltung der königlichen Staatsregierung auch in diesem Moment gewahrt bleiben konnte.

Es erübrigt nur noch zu überlegen, in welcher Weise das an mich gerichtete Schreiben des Herrn Reichskanzlers vom 30. vor[igen] Mon[ats]3 (Bericht Nr. 54) zu beantworten sein wird. Ich glaube, daß man unbedingt dem Fürsten die Zusage machen kann, daß die Angelegenheit königlich sächsischerseits vor dem 20. Februar nicht weiter verfolgt werden wird, denn nur hierdurch kann vermieden werden, daß die Ministerkrisis noch vor den Wahlen akut wird, was meines Erachtens zu einer heillosen Verwirrung führen würde. Ein längeres Zusammenwirken des Kaisers mit dem Kanzler halte ich nach den Vorgängen der letzten Tage für ganz undenkbar, schon deswegen, weil die Gegensätze das sachliche Gebiet schon längst verlassen haben; gleichwohl ist es unmöglich, und hiervon ist auch Seine Majestät der Kaiser, wie ich aus bester Quelle weiß, schon halb und halb überzeugt, daß die Trennung vor den Wahlen erfolgt. Ich glaube, es würde sich kaum im gegenwärtigen Augenblick ein auch nur halbwegs hervorragender Staatsmann finden, der geneigt wäre, die Entlassung des Kanzlers zu kontrasignieren und dessen Erbschaft zu übernehmen. Erwägt man ferner, daß die Anträge noch in der Vorbereitung begriffen sind und daß Seine Majestät der Kaiser aus meinem Mund erfahren hat, daß diese Vorbereitung eine gründliche sein muß, so kann man wohl ganz unbedenklich in der obenerwähnten Weise die vorläufige Einstellung der Aktion motivieren.

Die gestern publizierte Ernennung des Freiherrn von Berlepsch zum Chef des Handelsministeriums, dessen Ressort dem Vernehmen nach durch die Abtrennung der Bergwerks-, Hütten- und Salinenverwaltung von dem Geschäftsbereich des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten vergrößert werden soll, hat in hohem Grad überrascht. Die liberalen Morgenzeitungen sind der Meinung, daß nunmehr in den Arbeiterschutzfragen die preußische Stimme im Bundesrat im Sinne einer aktiveren Politik abgegeben werden soll. Sie beziehen sich zur Begründung dessen auf eine Andeutung der „Berliner Politischen Nachrichten“, die hiernach aus dem kanzleroffiziösen in das kaiseroffiziöse Lager übergegangen zu sein scheinen. Als Regierungspräsident in Düsseldorf, welches Amt er bekleidete, bevor er infolge der Bergarbeiterbewegung das Oberpräsidium der Rheinprovinz erhielt4 hat Herr von Berlepsch im Wege einer Polizeiverordnun5 betreffs mancher Fragen des Arbeiterschutzes, [ Druckseite 537 ] z. B. der Nacht- und Sonntagsarbeit, im Sinne der jetzt im Reichstag bestehenden Bestrebungen eingegriffen, und zwar, wie es scheint, mit gutem Erfolg.

Nachschrift

Staatsminister von Boetticher teilte mir heute nachmittag folgendes mit:

Seine Majestät der Kaiser sei gestern nach 4 Uhr unerwartet in einer gerade stattfindenden Staatsministerialsitzun6 erschienen und habe den anwesenden Ministern gesagt, er habe mich eben kommen lassen, um von mir in Erfahrung zu bringen, wie weit die von der königlich sächsischen Regierung angekündigten Arbeiterschutzanträge gediehen seien. Hieran anknüpfend sei Seine Majestät nochmals eingehend auf die beregte Frage zurückgekommen und habe darauf bestanden, daß der von mir schon mehrfach erwähnte allerhöchste Erlaß an das Staatsministerium nunmehr unverzüglich zur Vorlage komme. Wider alles Erwarten sei der Reichskanzler entgegenkommender gewesen wie sonst und habe Seiner Majestät vorgeschlagen, von diesem Erlaß zwar abzusehen, dagegen anzuordnen, daß er, der Reichskanzler, beauftragt werde, die internationale Regelung der Arbeiterschutzfragen namens des Deutschen Reichs anzuregen, und daß die preußischen Minister für öffentliche Arbeiten und für Handel und Gewerbe angewiesen würden, eine Untersuchung darüber anzustellen, inwieweit die in der Gewerbeordnung enthaltenen Bestimmungen bezüglich der Fabrikarbeiter dem gegenwärtigen Bedürfnis noch entsprächen. Der Kaiser sei auf diesen Vorschlag eingegangen, welchen der Kanzler offenbar gemacht habe, um Zeit zu gewinnen.

Abends hat Seine Majestät der Kaiser Herrn von Boetticher kommen lassen und ihm seine ganze Unterredung mit mir mitgeteilt.

Vorausgesetzt, daß über die Fassung der beiden erwähnten Erlasse zwischen dem Kaiser und dem Kanzler keine neuen Differenzen entstehen, was immerhin möglich ist, ist Herr von Boetticher der Meinung, daß die Krisis zur Zeit ihren akuten Charakter verloren hat. Derselbe könne allerdings jeden Tag wiederkehren.

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Registerinformationen

Regionen

  • Baden, Großherzogtum
  • Düsseldorf, Regierungsbezirk

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Marschall von Bieberstein, Adolf Freiherr (1842–1912) , Landgerichtsrat in Mannheim, MdR (konservativ); später: badischer Gesandter in Berlin
  • Turban, Dr. Ludwig (1821–1898) , badischer Ministerpräsident, Außenminister, Innenminister

Sachindex

  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Auswärtiges Amt
  • Bundesrat
  • Bundesregierungen
  • Fabrikarbeiter
  • Februarerlasse
  • Frauenarbeit
  • Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (21.6.1869)
  • Handelsministerium, preußisches
  • Kinderarbeit
  • Polizei
  • Presse
  • Presse – Berliner Politische Nachrichten
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Sachsen
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen – Düsseldorf
  • Reichsamt des Innern
  • Sonntagsruhe
  • Staatsministerium, preußisches
  • 1SächsHStA Dresden Bestand 10717 Außenministerium Nr. 6184, n. fol. »
  • 2Gemeint ist hier die klärende Unterredung Wilhelm II. mit Graf Hohenthal (vgl. Nr. 126), denn die Vorgänge auf der Kronratssitzung (vgl. Nr. 127) werden von Graf Hohenthal erst in der Nachschrift zu diesem Bericht erwähnt. »
  • 3Vgl. Nr. 121. »
  • 4Hans Freiherr v. Berlepsch war von 1883 bis 1889 Regierungspräsident in Düsseldorf. Im Oktober 1889 wurde er zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz ernannt. »
  • 5Unter Freiherr v. Berlepsch war 1884 eine seit 1853 bestehende Polizeiverordnung zur Sonntagsruhe konkretisiert worden (Anweisung an die Orts-Polizeibehörden über die Zulassung der Sonntagsarbeit in Fabriken vom 24.6.1884, in: Amtsblatt Regierung Düsseldorf 1884, S. 197; vgl. Nr. 38 und Nr. 42 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung). Zu weiteren Vorschlägen der Regierung Düsseldorf zu Arbeiterschutzfragen unter dem Regierungspräsidenten v. Berlepsch vgl. Nr. 49, Nr. 105, Nr. 112, Nr. 119, Nr. 123, Nr. 125 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 6Vgl. Nr. 127. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 131, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0131

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