II. Abteilung, Band 1

Nr. 129

1890 Februar 1

Bericht1 des preußischen Gesandten in Dresden Karl Graf von Dönhoff an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Ausfertigung mit Randbemerkungen Bismarcks

Die sächsische Regierung hat mit dem Verbot der Sonntagsarbeit gute Erfahrungen gemacht, wünscht aber gleiche Konkurrenzbedingungen

Der hohe Erlaß vom 31. v. M2 beauftragt mich, umgehend über die Gründe zu berichten, wodurch sich die königlich sächsische Regierung veranlaßt sieht, bei dem Bundesrat den Entwurf eines Gesetzes über sogenannten Arbeiterschutz, insbesondere über Einschränkung der Frauen- und Sonntagsarbeit einzubringen.

Nach meinen Informationen glaubt die genannte Regierung mit dem sächsischen Gesetz vom 10. September 1870 über Sonntagsfeier und Einschränkung der Sonntagsarbei3 in wirtschaftlicher und moralischer Beziehung gute Erfahrungen gemacht zu haben und ist der Meinung, daß sich das Gesetz von Jahr zu Jahr mehr Freunde erworben hat. Sie hat es jedoch bisher nicht in vollem Umfang anwenden können, weil ihr von der einheimischen Industrie der Einwand erhoben wurde, daß die sächsischen Gewerbtreibenden, solange nicht gleiche gesetzliche Bestimmungen in den deutschen Nachbarländer4 zur Geltung gelangten, bei strenger Durchführung des eigenen Gesetzes denjenigen der Nachbarstaaten gegenüber, im Nachtei5 sein würden. Die sächsische Regierung hegte daher schon lange den Wunsch, gleichartige gesetzliche Bestimmungen im ganzen Reich eingeführt zu sehen6 weil nach ihrer Ansicht nur auf diese Weise für jeden einzelnen Bundesstaat die angeblich günstigen Wirkungen der Einschränkung der Sonntagsarbeit voll zur Geltung gelangen könnten.

Wegen der ablehnenden Haltung, die der Bundesrat den öfters und noch vor kurzem wiederholten entsprechenden Anträgen des Reichstags gegenüber bisher eingenommen7 zögerte die sächsische Regierung bis jetzt, einen ihren Wünschen Rechnung [ Druckseite 533 ] tragenden Gesetzentwurf einzubringen, und beschränkte sich darauf, ihre abweichende Ansicht im Bundesrat zu Protokoll zu geben.

Als jedoch in der preußischen Thronrede vom 15. v. M. zum Ausdruck gelangte8 daß die königlich preußische Regierung in ihrer Fürsorge für die Wohlfahrt der arbeitenden Klassen nicht ablassen werde, weitere in dieser Richtung hervortretende Bedürfnisse sorgfältig zu beachten und deren Befriedigung anzustreben, da hielt sich die sächsische Regierung für berechtigt, anzunehmen, daß sich ihren Wünschen durch jene Zusicherungen der preußischen Thronrede günstige Aussichten auf Erfüllung um so mehr eröffneten, als sie ähnlich auch im Reichstag zutage getreten waren9 und hielt daher den Zeitpunkt für gekommen, denjenigen Gesetzentwurf auszuarbeiten, dessen Einbringung Graf Hohenthal jetzt angekündigt hat.

Die sächsische Regierung hofft, durch dessen Annahme die Vorteil10, die Sachsen angeblich aus seinem Gesetz geschöpft hat, auf das ganze Reich auszudehnen und begegnet der Frage hinsichtlich des Ersatzes des dem an Sonntagsarbeit gewöhnten Arbeiter entzogenen Verdienstes mit dem Einwand, daß die Berücksichtigung derartiger Bedenken jede Bestimmung über Sonntagsheiligung, wie u. a. die über Schließung der kaufmännischen Geschäfte, unmöglich machen würde.

Einen ungünstigen Einfluß auf die Wahlen fürchtet die hiesige Regierung durch Anregung der Frage während derselben nicht, ist aber, wie ich glaube, auch bereit, den betreffenden Gesetzentwurf erst nach den Wahlen einzubringen.

Was den Inhalt desselben betrifft, so soll er, wie ich höre, außer der Bestimmung über die Einschränkung der Sonntagsarbeit, einige solche über Erleichterun11 in der Frauenarbeit für besondere Fälle, wie z. B. eine längere Ruhefrist für schwangere Frauen, und über die Kinderarbeit enthalten. Letztere sollen die in bezug auf Befreiung der Kinder von der Arbeit viel zu weitgehenden Wünsche des Reichstags bedeutend einschränken.

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Registerinformationen

Regionen

  • Bayern, Königreich
  • Preußen
  • Schweiz

Personen

  • Albert (1828–1902) , König von Sachsen
  • Crailsheim, Krafft Freiherr von (1841–1926) , bayerischer Außenminister
  • Hohenthal und Bergen, Dr. Wilhelm Graf von (1853–1909) , sächsischer Gesandter in Berlin
  • Lerchenfeld-Koefering, Hugo Graf von und zu (1843–1925) , bayerischer Gesandter in Berlin, Bundesratsbevollmächtigter
  • Wilhelm H. (1859–1941) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Fabrikarbeiter
  • Februarerlasse
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (21.6.1869)
  • Handel, siehe auch Freihandel
  • Kinderarbeit
  • Kronrat, preußischer
  • Mutterschutz
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Preußen
  • Reichskanzler
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1890
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Staatsministerium, preußisches
  • Thronreden
  • Thronreden – 15.1.1890
  • 1Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin, R 2475, n. fol. »
  • 2Vgl. Nr. 123. »
  • 3Gesetz, die Sonn-, Fest- und Bußtagsfeier betr., in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen, 1870, S. 313─317. Das Gesetz verbot Arbeiten und Dienste für andere, öffentlichen Handel, landwirtschaftliche und gewerbliche Arbeiten außerhalb der Wohnungen und Ökonomiegebäude sowie alle Arbeiten, die sich durch Geräusche nach außen hin bemerkbar machten. »
  • 4Bismarck: wie auch wir den größeren Nachbarn gegenüber. »
  • 5Bismarck: also doch Nachteil. »
  • 6Bismarck: socios habere malorum! Eigentlich: „Solamen miseris socios habuisse malorum“ (auf Spinoza zurückgehendes geflügeltes Wort). »
  • 7Der Reichstag hatte am 24.1.1890 die Bundesregierungen aufgefordert, ein Arbeiterschutzgesetz vorzulegen (vgl. Nr. 196 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung). Zur Ablehnung von Reichstagsbeschlüssen zum Arbeiterschutz durch den Bundesrat im Jahr 1889 vgl. Nr. 174─177 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 8Bismarck: falsch, schon bei Beisetzung am 10. Januar hat der König hier gewirkt. Die Beisetzung der Kaiserwitwe Augusta fand am 11.1.1890 statt. »
  • 9Gemeint ist der Reichstagsbeschluß vom 24.1.1890, in dem der Bundesrat aufgefordert wurde, ein Arbeiterschutzgesetz vorzulegen (vgl. Nr. 196 Bd. 3 der H. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 10Bismarck.: Schäden. »
  • 11Bismarck: Verbot. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 129, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0129

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