II. Abteilung, Band 1

Nr. 125

1890 Januar 31

Bericht1 des Gesandten Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering an den bayerischen Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim

Ausfertigung

Prinzipielle Ausführungen zum Konflikt zwischen Bismarck und Wilhelm II.; ein Rücktritt Bismarcks ist nicht zu erwarten

Im Verfolg meiner gestrigen Berichterstattung2 über die Differenz zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler kann ich Euer Exzellenz noch folgendes melden:

Der Reichskanzler hat bereits aus Anlaß des Sozialistengesetzes Freitag, den 24. d[ieses] Monats seine Entlassung angeboten. Der Kaiser hat daraufhin im Kronrat, welcher am gedachten Tage stattfand, nachgegeben, und das Gesetz ist, dem Wunsch des Reichskanzlers entsprechend, im Reichstag gefallen. Man hatte nun gehofft, daß der Fürst Bismarck seinerseits dem Kaiser im Arbeiterschutz entgegenkommen werde, [ Druckseite 503 ] und bis Sonntag, den 26. d. M. hatte es auch den Anschein, daß dies geschehen werde; dann zeigte sich der Reichskanzler schwankend, bis er vor zwei Tagen endlich den Standpunkt absoluter Verneinung einnahm.

Der Gegensatz ist, wie ich schon früher berichtet habe, ein prinzipieller. Der Kaiser hat sich für die Verbesserung des Loses der Arbeiter begeistert und will mit allen Mitteln eine friedliche Lösung der sozialen Frage herbeiführen. Der Reichskanzler stellt sich seit geraumer Zeit auf den Standpunkt, daß die Arbeiter nicht zu befriedigen seien und mit Pulver und Blei behandelt werden müßten. Aus dieser pessimistischen Auffassung erklärt sich auch die Stellung des Reichskanzlers zum Sozialistengesetz. Er hält es für nützlich, wenn die Sozialdemokraten eine Zeitlang frei sich entfalten können, damit die besitzenden Klassen zum Bewußtsein der Gefahr kommen.

Von solcher Politik will der Kaiser nichts wissen; er hat bei jeder Gelegenheit erklärt, daß er seine Regierung nicht mit Blutvergießen seiner Untertanen beginnen wolle und friedliche Mittel verlange, um den Ausbruch der Krisis zu vermeiden.

Nun ist, wie ich Euer Exzellenz schon wiederholt berichtet habe, der Kaiser Vorstellungen zugänglich und hat ja zuletzt auch bei dem Sozialistengesetz bewiesen, daß er dem Reichskanzler gegenüber das Opfer seiner Überzeugung bringt. Es wären darum gute Beziehungen zwischen beiden trotz des Unterschieds des Alters und der Auffassung denkbar, wenn der Reichskanzler seinen Herrn anders zu behandeln verstünde und ihn mehr sähe. Aber seit dem Beginn der Regierung Wilhelms des II. hat er ihn meist entweder ohne Führung gelassen und ihm alles nachgegeben oder er hat sich, wie jetzt, zu ihm in einen schroffen Gegensatz gestellt. Es entspricht dies dem nicht zu ergründenden Naturell des großen Mannes, der keine andere als eine angriffsweise geführte Verteidigung je gekannt hat.

Das ist es auch, was die gegenwärtige Situation zu einer ernsten macht. Die offiziöse Presse ist zwar noch nicht angespannt worden, aber dafür hat der Reichskanzler in den letzten Tagen eine Reihe von Leuten rufen lassen und hat ihnen ohne jeden Rückhalt seine Ansicht über die Lage und über den Kaiser gesagt.3 Unter diesen befand sich auch der frühere Erzieher und Vertraute des Kaisers, Herr Hinzpeter, der die ganze Schale des Zorns und des Hohns des Fürsten zu kosten bekam, unter anderem das Angebot, ihn ─ Hinzpeter ─ zum Reichskanzler vorzuschlagen.4 Alles dies wird dem Kaiser wieder zugetragen, und so ist es erklärlich, daß auch Seine Majestät in einer sehr gereizten Stimmung ist.

Der Großherzog von Baden ist bemüht gewesen, möglichst beruhigend auf den Kaiser zu wirken.5 Auch höre ich, daß Graf Waldersee6 sich nicht im geringsten in die Angelegenheit eingemischt hat. Die persönlichen Beziehungen zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler scheinen auch äußerlich die alten geblieben zu sein, wofür spricht, daß in diesen Tagen ein parlamentarisches Diner beim Reichskanzler stattfindet, an welchem Seine Majestät teilnimmt.7

[ Druckseite 504 ]

Wozu sich Sachsen entschließt, ist hier noch nicht bekannt. Ich zweifele aber nicht, daß der König Albert8 jedenfalls auf das Verlangen eingeht, den Antrag für Arbeiterschutz bis nach dem Wahltag auf sich beruhen zu lassen; damit ist vorläufig Zeit gewonnen.

Über die weitere Entwicklung der Dinge scheint mir hier jedermann, am meisten die Minister, im unklaren, nur das kann ich als die communis opinio bezeichnen, daß ein Rücktritt des Fürsten Bismarck trotz der allerdings schlimm verfahrenen Lage als sehr unwahrscheinlich betrachtet wird. Heute ist wieder Staatsministerialsitzung, in welcher der Reichskanzler seine Absichten vor seinen Kollegen entwickeln dürfte. Ich nehme an, daß dabei auch der kaiserliche Erlaß an das Staatsministerium über Arbeiterschutz, welcher nach dem Willen Seiner Majestät veröffentlicht werden soll und den der Reichskanzler in der gestrigen Unterredung mit mir berührt hat, zur Sprache kommt.9 Derselbe soll bereits entworfen sein.

Allmählich fangen weitere Kreise an, sich mit der Krisis zu beschäftigen, und es wird kaum mehr lange währen, bis die Presse von den Dingen Wind bekommt. Auf der Börse haben bereits gestern Gerüchte zirkuliert.

Registerinformationen

Regionen

  • Sachsen, Königreich

Personen

  • Albert (1828–1902) , König von Sachsen
  • Berlepsch, Hans Freiherr von (1843–1926) , Regierungspräsident in Düsseldorf; später: Oberpräsident der Rheinprovinz; später: preußischer Handelsminister
  • Fabrice, Alfred Graf von (1818–1891) , sächsischer Außenminister
  • Friedrich I. (1826–1907) , Großherzog von Baden
  • Hinzpeter, Dr. Georg (1827–1907) , Philologe, Geheimer Regierungsrat in Bielefeld, Erzieher Wilhelm II.
  • Hohenthal und Bergen, Dr. Wilhelm Graf von (1853–1909) , sächsischer Gesandter in Berlin
  • Waldersee, Alfred Graf von (1832–1904) , General der Kavallerie, Chef des preußischen Generalstabs

Sachindex

  • Arbeiterschutz
  • Börse
  • Bundesrat
  • Februarerlasse
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Reichskanzler
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1890
  • Soziale Frage
  • Staatsministerium, preußisches
  • 1Ausfertigung: BayHStA München MA 692, n. fol.; Entwurf: BayHStA München Bayerische Gesandtschaft Berlin 1052, n. fol. »
  • 2Vgl. Nr. 122. »
  • 3Vgl. Nr. 122. »
  • 4Vgl. Nr. 119 Anm. 4. »
  • 5Der Großherzog von Baden hatte sich zuletzt am 29.1.1890 mit Wilhelm II. getroffen. »
  • 6Alfred Graf von Waldersee war seit 1888 als Nachfolger Moltkes Chef des Generalstabs; er war ein Vertrauter Wilhelm II. »
  • 7Dieses fand am 4.2.1890 statt. »
  • 8Der sächsische König war am 27.1.1890 in Berlin eingetroffen und hatte noch am selben Tag eine Unterredung mit Wilhelm II. »
  • 9Vgl. Nr. 127. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 125, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0125

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