II. Abteilung, Band 1

Nr. 120

1890 Januar 30

Bericht1 des Gesandten Dr. Wilhelm Graf von Hohenthal und Bergen an den sächsischen Außenminister Alfred Graf von Fabrice

Ausfertigung

Angesichts des Konflikts zwischen Bismarck und Wilhelm II. um den Erlaß an das Staatsministerium ist eine dilatorische Behandlung des sächsischen Arbeiterschutzantrags erwägenswert

Im Anschluß an meinen Bericht Nr. 53 vom heutigen Tag2 beehre ich mich Eurer Exzellenz noch folgendes in Ehrerbietung vorzutragen:

Herr von Boetticher, welchem ich von dem Inhalt meiner Unterredung mit dem Fürsten Bismarck Kenntnis gegeben hatte, war von der Drohung des letzteren, er werde seine sämtlichen Ämter niederlegen, dafern die königlich sächsische Regierung die von ihr angekündigten Arbeiterschutzanträge einbringe, im höchsten Grad überrascht. Und zwar deswegen, weil Seine Majestät der Kaiser in einem vor wenigen Tagen abgehaltenen Kronrat3 ein allerhöchstselbst verfaßtes Promemoria über die Notwendigkeit der gesetzlichen Einschränkung der Sonntagsarbeit und der Frauen- und Kinderarbeit beziehungsweise der Reformen auf dem Gebiet der Montanarbeit verlesen habe, in welchem der Passus enthalten gewesen sei: „es ist Mein unabänderlicher Wille, daß in der beregten Angelegenheit gesetzgeberische Schritte getan werden“.4 Im Anschluß hieran habe Seine Majestät das Staatsministerium beauftragt, einen zur Veröffentlichung geeigneten Allerhöchsten Erlaß auszuarbeiten, welcher die erwähnten Reformen für die nächste Zeit in Aussicht stellt. Fürst Bismarck habe dem Wunsch des Kaisers nicht widersprochen und nur bemerkt, man werde es ihm wohl ersparen, in positiver Beziehung in dieser Angelegenheit mitzuarbeiten; auch sei es ihm nicht möglich, unter diesen Umständen das Handelsministerium beizubehalten. Herr von Boetticher hatte daher gemeint, der Reichskanzler werde die königlich sächsische Regierung ersuchen, der königlich preußischen die Initiative zu überlassen, eventuell die Veröffentlichung des obenerwähnten Allerhöchsten Erlasses abzuwarten. Welche Einflüsse, gleichsam über Nacht, den Fürsten veranlaßt haben, seinen Sinn wiederum zu ändern, war Herrn von Boetticher unverständlich, doch sei, fügte er hinzu, eine derartige Sinnesänderung in der letzten Zeit häufig bei dem Fürsten zu bemerken gewesen.

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Wie die Verhältnisse indessen jetzt liegen, wird sich etwas Weiteres nicht tun lassen, als die Aktion hinauszuziehen. Kommt es demnächst zum Bruch zwischen dem Kaiser und dem Kanzler, was Herr von Boetticher vermutet, da Seine Majestät auf dem obenerwähnten Erlaß bestehen wird, während der Kanzler denselben nach den mir heute gemachten Eröffnungen absolut nicht zeichnen kann, ohne sich selbst ins Gesicht zu schlagen, so wird Preußen zweifellos sofort mit Arbeiterschutzanträgen vorgehen. Kommt es nicht zum Bruch, so kann man vielleicht dem Wunsch des Kanzlers gemäß die Wahl und eventuell die Ergebnisse der im Mai stattfindenden internationalen Konferenz in bezug auf den Arbeiterschutz abwarten.5

Dem allerhöchsten Ermessen unseres allergnädigsten Herrn dürfte anheimzustellen sein, inwieweit Seine Majestät der Kaiser von der Sachlage in Kenntnis zu setzen wäre. Bei dem lebhaften Temperament des Kaisers und mit Rücksicht darauf, daß das Verhältnis zwischen ihm und seinem Kanzler gegenwärtig recht schlecht ist, ist meines Erachtens ein Bruch zu befürchten, wenn man Seiner Majestät die unvermittelte Wahrheit sagt. Vielleicht könnte man andeuten, man wolle nunmehr der preußischen Regierung die Initiative überlassen, nachdem man in Erfahrung gebracht habe, daß dem Kaiser eine solche erwünscht sei.

Jedenfalls möchte ich unmaßgeblich dazu raten, in dieser Beziehung abzuwarten, ob der mehrfach genannte Allerhöchste Erlaß in den nächsten Tagen kommt oder nicht.

Anliegend überreiche ich ganz gehorsamst das Original der mir soeben zugegangenen Antwort des Fürsten Bismarck6 auf meine an Herrn von Boetticher gerichtete Note mit dem ganz gehorsamsten Ersuchen, mir dieselbe hochgeneigtest zurückstellen lassen zu wollen, da ich aus Mangel an Zeit keine Abschrift von derselben habe entnehmen können.

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Registerinformationen

Regionen

  • Preußen
  • Schweiz

Personen

  • Bosse, Robert (1832–1901) , Direktor der II. Abteilung im Reichsamt des Innern

Sachindex

  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Bergarbeiterstreik
  • Bundesrat
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken (9.3.1839)
  • Jugendliche Arbeiter
  • Kinderarbeit
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Preußen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Sachsen
  • Reichstag
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1890
  • Sonntagsruhe
  • Streik
  • 1SächsHStA Dresden Bestand 10717 Außenministerium Nr. 6184, n. fol. »
  • 2Vgl. Nr. 119. »
  • 3Vgl. Nr. 113. »
  • 4Eine Äußerung Wilhelm II. mit diesem Wortlaut läßt sich weder in der von diesem auf der Kronratssitzung vom 24.1. vorgelegten Denkschrift (vgl. Nr. 109) noch im Protokoll dieser Sitzung nachweisen (vgl. Nr. 113). Die Formulierung „unabänderlicher Wille“ ist wohl in einem Gespräch Wilhelm II. mit dem Großherzog von Baden gefallen (Tagebucheintrag Marschall von Biebersteins vom 24.1., abgedruckt bei Walter Fuchs, Großherzog Friedrich I. von Baden und die Reichspolitik 1871─1907. 2. Band: 1879─1890, Stuttgart 1975, S. 697). »
  • 5Gemeint ist die von der Schweiz vorgeschlagene internationale Arbeiterschutzkonferenz, vgl. Nr. 102 Anm. 19. »
  • 6Vgl. Nr. 121. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 120, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0120

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