II. Abteilung, Band 1

Nr. 119

1890 Januar 30

Bericht1 des Gesandten Dr. Wilhelm Graf von Hohenthal und Bergen an den sächsischen Außenminister Alfred Graf von Fabrice

Ausfertigung

Bericht über eine Unterredung mit Bismarck: Der Reichskanzler informiert den Gesandten über den Konflikt mit Wilhelm II., seinen Rücktritt als Handelsminister und über weitere Rückzugspläne

Euer Exzellenz beehre ich mich im Anschluß an mein chiffriertes Telegramm2 vom heutigen Tag folgendes ganz gehorsamst zu berichten.

Fürst Bismarck ließ mich heute früh bitten, ihn um 11 Uhr aufzusuchen. Seine Durchlaucht empfing mich sehr freundlich und sagte mir, die von der königlichen Staatsregierung in Aussicht genommenen Arbeiterschutzanträge, bezüglich deren ich in Befolgung des hohen Erlasses Nr. 22 vom 25. d. M. dem Staatssekretär des Innern eine amtliche Mitteilung gemacht hatte,3 veranlaßten ihn, mir seinen Standpunkt dieser Angelegenheit gegenüber auseinanderzusetzen. Er halte dies für um so mehr geboten, als die Angelegenheit in den letzten Tagen schon zu einer partiellen Ministerkrisis [ Druckseite 492 ] geführt habe und ihn bestimmen werde, Seine Majestät den Kaiser um seine Entlassung zu bitten, falls sie fortgesetzt werden sollte. Der Kaiser habe sich bei dieser Frage von Persönlichkeiten beraten lassen, denen eine Befugnis hierzu in keiner Weise zustehe. Sein ehemaliger Lehrer, der Geheimrat Hinzpeter in Bielefeld habe angefangen, Graf Douglas und der Oberpräsident von Berlepsch seien diesem Beispiel gefolgt. Da die von dieser Seite dem Kaiser erteilten Ratschläge sich auch auf die Behandlung der Bergarbeiterfrage erstreckt hätten, und da der Kaiser, dessen Anschauung auch hier von derjenigen des Reichskanzlers abgewichen habe, sich hierbei auf Herrn von Berlepsch berufen habe, so habe er, der Fürst, dem Kaiser seine Demission als Handelsminister angeboten und als seinen Nachfolger Herrn von Berlepsch empfohlen. Der letztere treffe heute hier ein und werde jedenfalls das Portefeuille annehmen. „Geht das so fort“, fügte der Reichskanzler hinzu, „so wird Hinzpeter wohl noch nächstens Reichskanzler werden,4 denn ich kann mir mit meinen 75 Jahren und mit meiner nicht ganz erfolglosen Vergangenheit nicht gefallen lassen, daß mein Herr von Leuten beraten wird, die hierzu nicht berufen sind. Schließlich fragt der Kaiser irgendeinen beliebigen Husarenoffizier, wie er die soziale Frage lösen soll, und will mir dann dessen Meinung aufzwingen, wenn ich nicht beizeiten gegen eine derartige Behandlung der Staatsgeschäfte Einspruch erhebe.“

Auf die Arbeiterschutzanträge eingehend, sagte mir der Kanzler, er habe von jeher die Anschauung vertreten, daß derartige Gesetze, die man eigentlich Arbeiterzwangsgesetze nennen müsse und als Arbeiterschutzgesetze nur dann bezeichnen könne, wenn man damit ausdrücke, daß man den Arbeiter vor sich selbst beschützen wolle, nichts taugten, daß sie nicht versöhnend wirken würden, daß sie die Produktion verteuern und erschweren, ja teilweise zugrunde richten, daß sie die vorhandenen Gegensätze verschärfen und last not least einen Beweis dafür liefern würden, daß die Regierungen sich der Sozialdemokratie gegenüber für schwach hielten. Die soziale Frage sei nicht mit Rosenwasser zu lösen, hierzu gehöre Blut und Eisen; er sei zu seinem tiefen Bedauern bei Seiner Majestät dem Kaiser der Anschauung begegnet, daß man den revolutionären Tendenzen gewisse Konzessionen machen könne, ja sogar machen müsse, bevor es hierzu „zu spät“ sei. Hierzu könne er, der Fürst, die Hand nicht bieten, er werde vielmehr vermöge seiner ganzen politischen Vergangenheit dazu gezwungen sein, die beregten Anträge, wenn sie von uns gestellt würden, zu bekämpfen. Nachdem indessen der Kaiser schon jetzt erklärt habe, daß er diesen Anträgen zustimmen wolle, so müsse der Minister dem Willen seines Herrn weichen. Seine Frau5 und sein Arzt6, fuhr der Fürst fort, hätten ihm schon seit Jahren [ Druckseite 493 ] geraten, sich von den Geschäften zurückzuziehen, auch er persönlich sehne sich schon lange danach, „von der Galeere, von der Ruderbank“, an die er geschmiedet sei, loszukommen, und habe er sich daher vorgenommen, sein Amt nach und nach „abzubröckeln“, das Handelsministerium sei er bereits los; auch den preußischen Ministerpräsidenten habe er im Lauf dieses Jahrs ablegen wollen, um sich ganz und gar auf sein „Altenteil“, die auswärtige Politik und die Führung der preußischen Stimme im Bundesrat, zurückzuziehen. Seine Einflußnahme auf die inneren Fragen habe er auch mit der Zeit aufgeben wollen, und zwar dies um so mehr, als ein Mann von 75 Jahren immerhin noch voll beschäftigt sein werde, wenn er nur das erwähnte Altenteil behalte. Würden indessen die Anträge gestellt, so werde sich ihm die erwünschte Gelegenheit bieten, aus allen seinen Ämtern auszuscheiden. Ihm und seiner Familie werde hiermit nur gedient sein, er gebe aber zu bedenken, ob es im allgemeinen Interesse läge, wenn der einzige Mann innerhalb des preußischen Ministeriums, der dem Kaiser gegenüber eine gewisse Autorität habe, ausscheide. Hierzu komme, daß er in bezug auf die Aufrechterhaltung des europäischen Friedens sich doch gewisse Verdienste erworben habe, Verdienste, die auch von seinen Gegnern anerkannt würden, die er indessen in der Hauptsache seinem persönlichen Einfluß in Petersburg, London, Wien und Rom verdanke. Diesen persönlichen Einfluß könne er allerdings auf seine Nachfolger nicht vererben.

Ich habe versucht, den Fürsten über unsere Stellung der Arbeiterschutzgesetzgebung gegenüber aufzuklären, und glaube ihn davon überzeugt zu haben, daß unser Interesse an der Regelung dieser Frage ein rein sachliches ist. Dagegen habe ich selbstverständlich nicht vermocht, ihn von seinen Ansichten abzubringen. So erwiderte er mir z. B. auf meine Bemerkung, daß sämtliche Parteien des Reichstags einer Vermehrung des Arbeiterschutzes geneigt seien: „Das ist nur Stimmenfang; wenn ich jemals mit der öffentlichen Dummheit gerechnet hätte, so wäre ich nicht 28 Jahre Minister geblieben.“

Endlich hat mir der Reichskanzler eine schriftliche Antwort auf meine eingangs erwähnte Note an Herrn von Boetticher in Aussicht gestellt, mit dem Hinzufügen jedoch, daß dieselbe etwas Weiteres nicht enthalten werde, als die Bitte an die königliche Staatsregierung, die beregten Anträge nicht vor den Wahlen einzubringen.7

Meines unmaßgeblichen Dafürhaltens wird es nicht erforderlich sein, dem Fürsten schon in den allernächsten Tagen etwas anderes zu antworten, als daß man diesem letzteren Wunsch Rechnung tragen werde und das Weitere sich vorbehalte.

Ich darf zum Schluß nochmals erwähnen, daß der Reichskanzler während der ganzen Unterredung außerordentlich liebenswürdig war, mir aber den Eindruck von einem Mann machte, der fest entschlossen ist, das zu tun, was er sagt.

[ Druckseite 494 ]

Registerinformationen

Regionen

  • England
  • Italien
  • Österreich
  • Preußen
  • Rußland

Orte

  • Bielefeld

Personen

  • Berlepsch, Hans Freiherr von (1843–1926) , Regierungspräsident in Düsseldorf; später: Oberpräsident der Rheinprovinz; später: preußischer Handelsminister
  • Bismarck, Johanna Fürstin von, geb. von , Puttkamer (1824–1894) , Ehefrau Otto von Bismarcks
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Douglas, Hugo Sholto Graf von (1837–1912) , Bergwerksbesitzer in Aschersleben, MdPrAbgH (freikonservativ)
  • Fabrice, Alfred Graf von (1818–1891) , sächsischer Außenminister
  • Friedrich I. (1826–1907) , Großherzog von Baden
  • Hinzpeter, Dr. Georg (1827–1907) , Philologe, Geheimer Regierungsrat in Bielefeld, Erzieher Wilhelm II.
  • Marschall von Bieberstein, Adolf Freiherr (1842–1912) , Landgerichtsrat in Mannheim, MdR (konservativ); später: badischer Gesandter in Berlin
  • Schweninger, Dr. Ernst (1850–1924) , Privatarzt der Familie Bismarck, a. o. Professor für Hautkrankheiten in Berlin
  • Wilhelm H. (1859–1941) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Arzt
  • Außenpolitik
  • Bergarbeiter
  • Bundesregierungen
  • Februarerlasse
  • Frauenarbeit
  • Handelsministerium, preußisches
  • Kinderarbeit
  • Kronrat, preußischer
  • Lehrer
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Sachsen
  • Reichskanzler
  • Reichstag
  • Revolution
  • Sonntagsruhe
  • Soziale Frage
  • Staatsministerium, preußisches
  • 1SächsHStA Dresden Bestand 10717 Außenministerium Nr. 6184, n. fol. »
  • 2Das Telegramm lautete: Lange Unterredung mit dem Reichskanzler gehabt. Derselbe legt wegen Differenzen in der Arbeiterfrage preuß. Handelsministerium nieder und will sich ganz von den Geschäften zurückziehen, dafern wir auf dem Arbeiterschutzantrag verharren. Bericht wird dem Herrn Minister heute abend durch Herrn Geheimrat (Hermann Gustav) Held überbracht (teilweise chiffriertes Telegramm mit handschriftlicher Dechiffrierung: SächsHStA Dresden Bestand 10717 Außenministerium Nr. 6184, n. fol.). »
  • 3Vgl. Nr. 118. »
  • 4Marschall v. Bieberstein notierte hierzu am 29.1.1890 in seinem Tagebuch: Reichskanzler hat mit Hinzpeter Unterredung gehabt. „Sie werde ich als Reichskanzler vorschlagen.R(eichs)k(anzler) tadelt den Kaiser. [Hinzpeter:] „Sie verachten also meinen Kaiser“ (abgedruckt bei Walther Peter Fuchs, Großherzog Friedrich von Baden und die Reichspolitik 1871─1907. 2. Band: 1879─1890, Stuttgart 1975, S. 699). Herbert Graf v. Bismarck notierte in seinem Tagebuch am 28.1.: Hinzpeter 2 {1/2} Stunden bei Papa (Bismarck-Archiv Friedrichsruh N 48). Das Gespräch zwischen Hinzpeter und Bismarck wird auch erwähnt bei Lucius von Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen, Stuttgart/Berlin 1920, S. 514. »
  • 5Johanna Fürstin von Bismarck, geb. von Puttkamer (1824─1894), seit 1847 Ehefrau Otto von Bismarcks. »
  • 6Dr. Ernst Schweninger (1850─1924), seit 1881 Privatarzt der Familie Bismarck, auf Betreiben Bismarcks seit 1884 a. o. Professor für Hautkrankheiten in Berlin. »
  • 7Vgl. Nr. 121. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 119, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0119

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