II. Abteilung, Band 1

Nr. 100

1890 Januar 15

Bericht1 des Gesandten Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein an den badischen Ministerpräsidenten Dr. Ludwig Turban2

Ausfertigung

Sachsen will im Bundesrat einen eigenen Gesetzentwurf zum Arbeiterschutz einbringen

Eurer Exzellenz beehre ich mich, ergebenst anzuzeigen, daß die Erlassung eines auf die Frauen-, Kinder- und Sonntagsarbeit bezüglichen Arbeiterschutzgesetzes demnächst durch einen Antrag vom Königreich Sachsen im Bundesrat in Anregung gebracht werden wird.

Über die Vorgeschichte dieses Antrags vermag ich Eurer Exzellenz ganz vertraulich nachstehendes zu melden: Seine Majestät der Kaiser interessiert sich seit längerer Zeit für die Erlassung eines solchen Gesetzes, welches bekanntlich im Reichstag wiederholt von fast sämtlichen Parteien als eine notwendige Ergänzung unserer sozialpolitischen Gesetzgebung gefordert wurde, bisher aber stets und ausschließlich an dem Widerspruch des Herrn Reichskanzlers gescheitert ist.

Ich glaube in der Annahme nicht irrezugehen, daß auf die Anschauungen Seiner Majestät sowohl Unterredungen mit Seiner Königlichen Hoheit dem Großherzog3, unserem gnädigsten Herrn, wie in der letzten Zeit namentlich auch gutachtliche Äußerungen des Geheimen Rats Hinzpeter von Einfluß gewesen sind.4 Als nun Staatsminister von Boetticher vor etwa 10 Tagen Vortrag über die Thronrede zum preußischen Landtag hielt, verlangte der Kaiser, daß in den Passus, der von den jüngsten Bergwerkstrikes handelt, auch eine ausdrückliche Zusage bezüglich der demnächstigen Ausdehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung aufgenommen werde, und beauftragte, als ihm Herr von Boetticher die entschiedene Gegnerschaft des Reichskanzlers gegen diesen Gedanken dargelegt hatte, den Minister, dem Reichskanzler mündlich und eventuell persönlich von allerhöchstseinem Wunsch in Kenntnis zu setzen bzw. die Zustimmung zu einem solchen Passus in der Thronrede zu erwirken. Die bezüglichen Schritte des Herrn von Boetticher sind jedoch erfolglos geblieben;5 wie er mir vertraulich mitteilte, hat ihm der Herr Reichskanzler bei seiner jüngsten Anwesenheit kategorisch erklärt, daß, wenn Seine Majestät Arbeiterschutzgesetze wünsche, er sich einen anderen Ministerpräsidenten suchen müsse; er, der Reichskanzler, sei stets ein Gegner eines derartigen Eingriffs in das Recht des Arbeiters, seine Arbeitskraft nach Belieben auszubeuten, gewesen; man könne ihm nicht die Heuchelei zumuten, für eine Maßregel einzutreten, die er mißbillige. Auf bezüglichen Vortrag des Herrn von Boetticher hat sich Seine Majestät sodann ─ um [ Druckseite 457 ] eine Krisis in diesem Augenblick zu vermeiden ─ damit einverstanden erklärt, daß in die Thronrede der ganz allgemeine ─ allerdings auch nichtssagende ─ Passus aufgenommen werde: „daß auch weiter hervortretende Bedürfnisse sorgfältig zu beachten und deren Befriedigung anzustreben sei“.6

Inzwischen hat Seine Majestät sowohl unserem gnädigsten Herrn wie auch dem König von Sachsen bei seiner jüngsten Anwesenheit in Berlin7 sein unentwegtes Festhalten an der Durchführung eines Arbeiterschutzgesetzes ausgesprochen, mit Lebhaftigkeit den von dem König von Sachsen angeregten Gedanken, einen bezüglichen sächsischen Antrag beim Bundesrat einzubringen, begrüßt und sich eine ausdrückliche, dahingehende Zusage von dem König geben lassen. Wie mir Graf Hohenthal mitteilt, ist das Erforderliche bereits in die Wege geleitet, und wird der sächsische Antrag vermutlich auf der Grundlage eines früher vom Herrn Geheimen Rat Lohmann ausgearbeiteten Entwurfs gestellt werden.

Herr von Boetticher sagte mir heute ganz vertraulich, daß ihm der Kaiser von dem Resultat seiner Unterredung mit dem König von Sachsen mit dem Anfügen Kenntnis gegeben habe, er wünsche, daß die preußische Stimme für diesen Antrag abgegeben werde. Dabei habe Seine Majestät bemerkt, er glaube nicht, daß der Herr Reichskanzler wegen dieser Angelegenheit seine Entlassung nehmen werde.

Auch bezüglich des Sozialistengesetzes hat der Kaiser Herrn von Boetticher allerhöchstseine ─ der Ansicht des Herrn Reichskanzlers direkt entgegengesetzte ─ Anschauung dahin kundgegeben, daß, wenn eine Einigung unter den Kartellparteien nicht möglich sei, es besser erscheine, die Beratung des Entwurfs nicht weiter fortzusetzen; unter allen Umständen möge Herr von Boetticher dahin wirken, daß der Herr Reichskanzler bei dieser Gelegenheit keine große Rede halte, welche die Eintracht der Kartellparteien zu schädigen vermöchte.

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Registerinformationen

Orte

  • Berlin
  • Friedrichsruh (Kreis Herzogtum Lauenburg)

Personen

  • Albert (1828–1902) , König von Sachsen
  • Bosse, Robert (1832–1901) , Direktor der II. Abteilung im Reichsamt des Innern
  • Hohenthal und Bergen, Dr. Wilhelm Graf von (1853–1909) , sächsischer Gesandter in Berlin
  • Lohmann, Theodor (1831–1905) , Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern

Sachindex

  • Bergarbeiter
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Kartell
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Sachsen
  • Streik
  • 1Ausfertigung: GLA Karlsruhe 233 Nr. 34798, n. fol.; Entwurf: GLA Karlsruhe 49 Nr. 2019, fol. 3 f. »
  • 2Dr. Ludwig Turban (1821─1898), seit 1876 badischer Ministerpräsident und Außenminister, seit 1881 auch Innenminister. »
  • 3Friedrich I. »
  • 4Vgl. Nr. 94. »
  • 5Vgl. Nr. 95. »
  • 6Vgl. Nr. 101. »
  • 7König Albert von Sachsen hielt sich am 11.1.1890 beim Begräbnis der Kaiserwitwe Augusta in Berlin auf. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 100, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0100

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