II. Abteilung, Band 1

Nr. 97

1890 Januar 9

Bericht1 des Gesandten Dr. Wilhelm Graf von Hohenthal und Bergen2 an den sächsischen Außenminister Alfred Graf von Fabrice3

Ausfertigung

Wilhelm H. favorisiert eine Arbeiterschutzgesetzgebung; Ablehnung derselben durch Bismarck mit Rücktrittsdrohung

Staatsminister von Boetticher, welcher sich vor wenigen Tagen nach Friedrichsruh begeben hatte, um daselbst mit dem Reichskanzler die Thronrede für den am 15. d. M. zusammentretenden preußischen Landtag festzustellen,4 hat bei dieser Gelegenheit mit dem Fürsten auch über das Sozialistengesetz und die Arbeiterschutzgesetzgebung konferiert.

Was das erstere anlangt, so hat der Reichskanzler rundheraus erklärt, die königlich preußische Regierung werde, solange er deren Politik zu bestimmen habe, an der Ausweisungsbefugnis festhalten. Komme das Gesetz ohne diese Befugnis zustande, so werde die königlich preußische Regierung dasselbe verwerfen, unbekümmert darum, ob in der nächsten Zeit überhaupt eine ähnliche Vorlage wieder eingebracht werden könne.5 Sollte er sich noch an den Debatten beteiligen, so werde er diesen Standpunkt mit aller Energie vertreten; auf ein Einschwenken der Nationalliberalen glaube er indessen jetzt noch rechnen zu können, nachdem ein Teil der nationalliberalen Presse ─ der Kanzler hat hierbei die Hamburgischen Blätter im Auge gehabt ─ in den letzten Wochen angefangen habe, für die Ausweisungsbefugnis sich auszusprechen.

In bezug auf die Arbeiterschutzgesetzgebung ist in den hiesigen Kreisen insofern eine Wandlung eingetreten, als Seine Majestät der Kaiser allerhöchst sich persönlich hierfür interessiert. Aber auch dieser Umstand hat nicht vermocht, den Fürsten Bismarck von seiner, Euer Exzellenz bekannten, abweichenden Meinung abzubringen.

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Seine Durchlaucht hat Herrn von Boetticher erklärt, er werde niemals, es möge daraus werden, was es wolle, zur Einführung von Arbeiterschutzgesetzen, wie sie schon mehrfach vom Reichstag beschlossen worden seien, die Hand bieten. Seiner Überzeugung nach könne der Staat dem Arbeiter nicht die Möglichkeit nehmen, seine Arbeitskraft voll auszunutzen; diese Überzeugung sei bestärkt worden durch die letzten Strikes, bei denen es sich niemals gehandelt habe um Einschränkung der Frauen- und Kinderarbeit und der Sonntagsarbeit, sondern nur um höhere Löhne. Er sei zu alt, um jetzt noch politisch zum Heuchler zu werden, er werde keinen Gesetzentwurf kontrasignieren, der gegen seine Überzeugung verstoße. Wolle man aus Opportunitätsgründen der öffentlichen Meinung ein Opfer bringen, so sei er gern bereit, sein Amt niederzulegen.

Herr von Boetticher befürchtet, daß dieser Widerstreit der Meinungen doch mit der Zeit zu einem ernstlichen Konflikt zwischen dem Kaiser und dem Kanzler führen werde, und dies um so mehr, als auch auf anderen Gebieten des öffentlichen Lebens der Umstand hervorgetreten sei, daß die große Altersdifferenz zwischen beiden Persönlichkeiten dazu beigetragen habe, Differenzen zu erzeugen. Hierzu komme, daß Fürst Bismarck sichtlich müde sei, sich von Jahr zu Jahr mehr in die Einsamkeit zurückziehe und sich jetzt tatsächlich nach Ruhe zu sehnen scheine.

Der Zeitpunkt der Rückkehr des Fürsten Bismarck nach Berlin steht noch nicht fest, auch hat Seine Majestät der Kaiser denselben von der Teilnahme an den Bestattungsfeierlichkeiten für Ihre Majestät die Kaiserin Augusta dispensiert.6

Registerinformationen

Regionen

  • Württemberg, Königreich

Orte

  • Berlin
  • Trachenberg/Schlesien (Kreis Militsch)

Personen

  • Augusta (1811–1890) , Deutsche Kaiserin und Königin von , Preußen
  • Mittnacht, Dr. Hermann Freiherr von (1825–1909), württembergischer Ministerpräsident und Außenminister
  • Zeppelin, Ferdinand Graf von (1838–1917) , württembergischer Gesandter in Berlin

Sachindex

  • Bergarbeiterstreik
  • Frauenarbeit
  • Kinderarbeit
  • Sonntagsruhe
  • Streik
  • 1Ausfertigung: SächsHStA Dresden Bestand 10717 Außenministerium Nr. 1076, fol. 23─24; (Teil-)Entwurf: SächsHStA Dresden Bestand 10719 Gesandtschaft Berlin Nr. 1163, n. fol. »
  • 2Dr. Wilhelm Graf von Hohenthal und Bergen (1853─1909), seit 1885 sächsischer Gesandter in Berlin. »
  • 3Alfred Graf von Fabrice (1818─1891), seit 1882 sächsischer Außenminister. »
  • 4Vgl. Nr. 101. »
  • 5Die erste Reichstagslesung der Regierungsvorlage zur Verlängerung des Sozialistengesetzes hatte am 5.11.1889 begonnen. Die Vorlage sah eine unbegrenzte Gültigkeit des Gesetzes vor und enthielt weiterhin die (u. a. von den Nationalliberalen abgelehnte) umstrittene Ausweisungsbefugnis. Die Ausweisungsmöglichkeit wurde von der nach der ersten Plenumslesung eingesetzten Reichstagskommission beseitigt, was das Plenum in zweiter Lesung am 23.1.1890 mit 166: 111 Stimmen bestätigte. In dritter Lesung am 25.1.1890 votierten (aus unterschiedlichen Motiven) Konservative, Zentrum, Freisinn und Sozialdemokraten mit 169 : 98 Stimmen gegen diese abgemilderte Fassung. Damit hatte weder die Regierungsvorlage noch die Fassung der Kommission eine Mehrheit im Reichstag erhalten; eine Verlängerung des Sozialistengesetzes war somit gescheitert (vgl. Wolfgang Pack, Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878─ 1890, Düsseldorf 1961, S. 204─235). »
  • 6Augusta, Witwe Kaiser Wilhelm I. und Großmutter Wilhelm II., war am 7.1.1890 gestorben, die Bestattung fand am 11.1. statt. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 97, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0097

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