II. Abteilung, Band 1

Nr. 95

1890 Januar 5

Bericht1 des Staatssekretärs des Innern Dr. Karl Heinrich von Boetticher an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Eigenhändige Ausfertigung mit Randbemerkungen Bismarcks

Wilhelm II. will den preußischen Landtag nur dann persönlich eröffnen, wenn er ein Arbeiterschutzgesetz ankündigen kann

Eurer Durchlaucht beehre ich mich hierneben den Entwurf einer Eröffnungsrede2 für die bevorstehenden Sitzungen des Landtags3 vorzulegen, wie solcher in einer heute abgehaltenen Sitzung des Staatsministeriums beschlossen worden ist.4

Ich habe heute5 Gelegenheit gehabt, mit Seiner Majestät dem Kaiser darüber zu sprechen, ob es angezeigt sein möchte, daß der hohe Herr den Landtag selbst eröffnet. Als ich bei dieser Besprechung den Inhalt der Rede als einen materiell wenig bedeutenden bezeichnete, äußerte Seine Majestät, daß er unter diesen Umständen darauf verzichte, die Eröffnung allerhöchstselbst vorzunehmen. Er würde dies gern dann tun, wenn darin die Verheißung auf Erlaß eines Arbeiterschutzgesetzes6 enthalten wäre. Ein solches Gesetz liege ihm sehr am Herzen, und er halte es für durchaus nötig, die Initiative auf diesem Gebiet den Parteien, insbesondere der Sozialdemokratie7, aus der Hand zu nehmen. Ich habe mich darauf eingelassen, die Gründe, welche gegen den Erlaß von Arbeiterschutzvorschriften im Sinne der im Reichstag hervorgetretenen Aktion8 durch ein Gesetz streiten, zu entwickeln, ohne damit auf einen fruchtbaren Boden gekommen zu sein.

Über diese sowie über einige andere Angelegenheiten dringlicher Natur möchte ich Eurer Durchlaucht persönlich Vortrag halten, und ich werde mir, der mir erteilten [ Druckseite 450 ] Erlaubnis9 gemäß, gestatten, am Dienstag, den 7. d. M. mit dem um 8 Uhr 30 Min. früh hier10 abgehenden Zug nach Friedrichsruh zu kommen und also dort um 1 Uhr einzutreffen.11

[ Druckseite 451 ]

Registerinformationen

Regionen

  • Düsseldorf, Regierungsbezirk
  • Sachsen, Königreich

Personen

  • Holstein, Friedrich von (1837–1909) , Wirklicher Geheimer Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Mirbach, Julius Freiherr von (1839–1921) , Rittergutsbesitzer in Sorquitten (Kreis Sensburg), MdR (konservativ)
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845–1907) , Chef der Reichskanzlei

Sachindex

  • Familie
  • Hunger
  • Jugendliche Arbeiter
  • Kartell
  • Landwirtschaft
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen – Düsseldorf
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1890
  • Witwen
  • 1BArch N 1025 (Boetticher) Nr. 48, n. fol. »
  • 2Reinschrift (I. Entwurf) mit Abänderungen und Randbemerkungen Bismarcks: GStA Berlin I. HA Rep. 90 a (M) VIII 2 b Nr. 6 Bd. 5, fol. 12─16. Kopfvermerk Bismarcks: Es ist besser, S(eine) M(ajestät) eröffnet nicht selbst, sonst müssen Dinge darin stehn, die bei den Wahlen gemißbraucht werden. Von Boetticher schrieb daraufhin die Thronrede stilistisch um und nahm ─ wohl auf Anweisung Bismarcks bei seinem Besuch in Friedrichsruh ─ noch einige Abänderungen vor (Entwurf von der Hand v. Boettichers (II. Entwurf. Von S[einer] Durchlaucht gebilligter Entwurf): fol. 30─36.) »
  • 3Die II. Session der 17. Legislaturperiode des preußischen Landtags wurde am 15.1.1890 eröffnet. Vgl. Nr. 101. »
  • 4Niederschrift: GStA Berlin I. HA Rep. 90 a B III 2 b Nr. 6 Bd. 103, fol. 12─21. »
  • 5Von Boetticher hatte mit Wilhelm II. bereits bei einer Jagd in Trachenberg in Schlesien (2.-5.1.1890) gesprochen (vgl. Nr. 98 Anm. 4). Nach der Rückkunft des Kaisers in Berlin am 5.1.1890, am späten Nachmittag, hatte sich v. Boetticher erneut mit ihm getroffen. »
  • 6Bismarck: Was ist darunter zu begreifen? »
  • 7Bismarck: Die wird immer darüber hinausgehn. »
  • 8Gemeint sind die vom Reichstag am 17.6.1887 bzw. 7.3.1888 beschlossenen Novellen zur Gewerbeordnung zur Frauen- und Kinderarbeit bzw. zur Sonntagsarbeit. Beide Gesetzentwürfe wurden vom Bundesrat am 19.11.1888 abgelehnt. Vgl. hierzu Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 9Franz v. Rottenburg hatte v. Boetticher am 5.1.1890 mitgeteilt: S(eine) D(urchlaucht) wird sich sehr freuen, Euere Exzellenz am 7.(1.1890) in Friedrichsruh zu begrüßen (Ausfertigung von der Hand v. Rottenburgs: BArch N 1025 [Boetticher] Nr. 48, n. fol.). »
  • 10Berlin. »
  • 11Von Boetticher hielt sich vom 7. bis 10.1.1890 in Friedrichsruh auf. Er berichtete in seinen im Jahr 1902 niedergeschriebenen und 1920 posthum veröffentlichten Erinnerungen über diesen Aufenthalt: Bei der Besprechung über den Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung fand ich ihn jedoch den kaiserlichen Absichten gegenüber durchaus ablehnend. Er meinte, er könne keinen Wechsel unterschreiben, der mit seiner ganzen Vergangenheit und mit seinen wirtschaftlichen Anschauungen im Widerspruch stehe; er vermöge es nicht zu verantworten, dem hungernden Arbeiter und der notleidenden Arbeiterwitwe die Gelegenheit zum Verdienst zu beschränken, er halte die Beschäftigung jugendlicher, der Schule entwachsener Arbeiter für sie und für ihre Familien für segensreich und werde niemals seine Zustimmung dazu geben, daß der Humanitätsdusel auf diesem Gebiet zu Zuständen führe, welche die vaterländische Wirtschaft schädigen und Unzufriedenheit innerhalb der arbeitenden Klassen erzeugen müßten. Der Kaiser übersehe die Tragweite seiner Pläne nicht, er werde von unverantwortlichen Ratgebern beeinflußt, und er, der Fürst, werde, sobald er nach Berlin zurückgekehrt sein werde, den Kaiser hierüber ins klare setzen. Das werde ihm unschwer gelingen. Meine Gegenvorstellungen hatten keinen Erfolg. Ich sagte dem Fürsten, daß ich nach der Bestimmtheit, mit welcher S(ein)e Majestät mir gegenüber seine Absichten ausgesprochen habe, nicht annehmen könne, daß es leicht sein werde, ihn davon zurückzubringen, daß ich auch der Meinung wäre, daß man ohne Schaden und Bedenken dasjenige Maß von Arbeiterschutz, welches beispielsweise im Königreich Sachsen und im preußischen Regierungsbezirk Düsseldorf eingeführt sei, auch in den übrigen Teilen des Reichs gesetzlich zur Durchführung bringen könne und daß, wenn die kaiserlichen Pläne weiter und bis zu einem Maß gingen, welches politisch, sozial oder wirtschaftlich gefahrlich sei, es unsere, seiner Minister, Aufgabe sein werde, den kaiserlichen Herrn hiervon abzuhalten. Ein prinzipieller Widerstand werde dagegen den Kaiser verletzen, ihm eine so wirkungsvolle Teilnahme an den Regierungsgeschäften, wie man sie von dem Oberhaupt des Reichs nur wünschen könne, verleiden und auch die Aufgabe der Regierung, dem Drängen der Parteien im Reichstag gegenüber, außerordentlich erschweren (Niederschrift von der Hand v. Boettichers: GStA Berlin I. HA Rep. 89 Nr. 3582/1, fol. 5 Rs.─7 Rs.; vgl. BArch N 1025 [Boetticher] Nr. 49, n. fol.; Abdruck bei Georg von Eppstein [Hg.], Fürst Bismarcks Entlassung, Berlin 1920, S. 36─39). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 95, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0095

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