II. Abteilung, Band 1

Nr. 86

1889 Januar 19

Die Post1 Nr. 18 Die ausgleichende Tendenz der Sozialreform

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Der Beitragszwang der gesetzlichen Sozialversicherung ist notwendig

Die soziale Reform, wie man sie zufolge der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 in Angriff nahm, konnte allerdings nicht eine staatliche Regelung der Produktion, eine Verstaatlichung sämtlicher Produktionsmittel und damit alles nicht zum augenblicklichen Verzehr dienenden Eigentums zum Ziel haben, da diese Forderung einer sozialdemokratischen Richtung sich nicht auf dem Boden der realen Verhältnisse oder überhaupt nur in den Grenzen historischer Möglichkeit bewegt, sondern lediglich als das Resultat utopischer, mit den Verhältnissen der realen Wirklichkeit nicht rechnender philosophischer Spekulation sich darstellt. Der Weg, der einzuschlagen war, mußte vielmehr der sein, die unsichere Existenz der industriellen Arbeiterklassen allmählich zu verbessern und in eine gesicherte zu verwandeln. Dies geschah, indem man vom verhältnismäßig Einfachen und Leichten aus der nunmehr fast durchgeführten Versicherung der Arbeiter gegen Unfälle und Krankheiten zu dem schwierigeren Problem der Alters- und Invalidenversicherung, bei dem wir jetzt stehen, überging. Diese Maßnahmen sind aber wohl geeignet, ausgleichende Wirkung in bezug auf die Verteilung des Einkommens zu äußern, auf welche es hier überhaupt nur ankommen kann.

Wenn man die Versicherung gegen Unfälle dem Arbeitgeber allein, die Versicherung gegen Krankheit dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer gemeinschaftlich auferlegte, die Alters- und Invalidenversicherung dagegen unter drei Faktoren, den Staat, den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer verteilen will, so beruht diese Verteilung der Lasten keineswegs auf rein willkürlichen oder praktischen Zweckmäßigkeitsgründen, sondern findet ihre innere Berechtigung in der Erkenntnis, daß die Beseitigung des Monopolismus und der Hindernisse für die freie Erwerbstätigkeit zwar eine Vermehrung der Produktion, nicht aber eine gerechtere Verteilung der Einkommen zur Folge hatte, und in dem Bestreben, eine solche gerechtere Verteilung herbeizuführen.

Eine Gesellschaft, welche alle ihre Bürger in den Stand setzen will, ihren Unterhalt während der ganzen Lebensdauer aus dem Ertrag ihrer Arbeit zu beziehen, muß sie zunächst zwingen, ihre Einnahmen auf die ganze Lebenszeit gleichmäßig zu verteilen. Denn die Arbeitskraft des Menschen und damit die Einnahmen des von der Handarbeit lebenden Arbeiters sind veränderlich, nehmen in der Jugend zu und im Alter ab und unterliegen außerdem Krankheiten und unglücklichen Zufallen, wodurch sie bald zeitweise, bald dauernd gemindert oder ganz aufgehoben werden. Ferner übersteigt der durchschnittliche Lohn der Arbeiter mit Familie meist nicht die [ Druckseite 379 ] Notdurft, während der Lohn der Unverheirateten und Kinderlosen mehr als ausreichend ist. Es hat also eine Ausgleichung stattzufinden in der einzelnen Person zwischen den Zeiten der Jugend und Gesundheit und den Zeiten des Alters und der Invalidität sowie zwischen den ehelosen und den verheirateten Individuen, indem auch die ersteren zur Fürsorge für die Familie hinzugezogen werden.

Nun wird zwar allseitig das Institut der Versicherung als ein segensreiches betrachtet. Die liberale Doktrin, welche alles von der freien Entfaltung der Individualität erwartet, will aber von einem staatlichen Versicherungszwang als einem Eingriff in die persönliche Freiheit nichts wissen. Demgegenüber ist einzuwenden, daß es den arbeitenden Klassen an der rechten Gelegenheit und an der Gewöhnung zum Sparen fehlt. Dieselben leben meist von der Hand in den Mund aus dem einfachen Grund, weil ihre Einnahmen in der Zeit der besten Jugendkraft, wo überall am wenigsten Neigung zum Sparen vorhanden ist, verhältnismäßig am größten sind, während diese Einnahmen nicht wie bei den übrigen Gesellschaftsklassen, mit dem zunehmenden Alter, wo der Sinn für Sparsamkeit erwacht, wachsen, sondern sich gleichbleiben, während die Ausgaben für die Familie zunehmen. Der Zwang zur Sparsamkeit, wie er in der obligatorischen Versicherung liegt, läßt sich auch vom Standpunkt der staatlichen Gesellschaft leicht rechtfertigen. Denn da die Gesellschaft verpflichtet ist, Alte, Kranke und Kinder, die sich nicht selbst erhalten können, von dem Ertrag der Arbeit der Gesellschaft zu ernähren, so muß dieselbe auch ein Recht dazu haben, Garantie dafür zu fordern, daß jeder in der Zeit, wo er dazu in der Lage ist, dafür sorge, daß nicht er oder seine Kinder der Gesellschaft zur Last fallen. Denn niemand hat nach einem treffenden Ausspruch Roschers das Recht, Menschen in die Welt zu rufen, welche andere Leute ernähren sollen.2 Übrigens wird jeder, auch der unverheiratete Beamte, gezwungen, zur Witwenkasse und zum Pensionsfonds beizutragen ─ obgleich doch gewiß bei den Beamten kein besonderer Grund vorliegt, sie zur Sparsamkeit zu zwingen ─, und dieser Zwang wird durchaus nicht als ein Eingriff in die persönliche Freiheit empfunden. Auch ist der Nichtversicherte in seiner persönlichen Freiheit weit mehr beschränkt, wenn er später im Elend lebt und die Armenpflege in Anspruch nehmen muß, als der Versicherte durch den Versicherungszwang. Gerade in dem Versicherungszwang soll ein erziehendes Moment zur Sparsamkeit liegen, und deshalb ist es von großer Wichtigkeit, daß der Versicherte durch seine Einlagen auch wirklich etwas spart, also auf keinen Fall seinen Anspruch wieder verlieren kann, und daß es ihm auch ermöglicht wird, sich eine höhere Rente durch vermehrte Einlagen zu sichern, damit es ihm klar wird, daß er die Verbesserung seiner Lage wesentlich der eigenen Tatkraft zu verdanken hat. Soweit die Ausgleichung zwischen den verschiedenen Lebensaltern des einzelnen und in der ganzen Klasse.

Die Beiträge des Arbeitgebers und des Staats sollen aber indirekt eine Lohnerhöhung bewirken und tun dies auch unfehlbar, soweit der Arbeitslohn das Bedarfsminimum nicht übersteigt. Die Gründe dieser Beitragspflicht ergeben sich aus höheren, [ Druckseite 380 ] im gesamten ökonomischen Leben des Volkes liegenden sozialpolitischen Gründen. Bekanntlich entspricht der Lohn, welcher für die Arbeit gezahlt wird, nicht der aufgewandten Arbeit oder mit anderen Worten, der Arbeiter erhält nicht vollständig den Wert der durch ihn geschaffenen Güter im Lohn zurück. Vielmehr bleibt ein Teil des Arbeitsprodukts in den Händen desjenigen, welcher das Arbeitswerkzeug ─ im Sinne der Nationalökonomie ─ gegeben hat, als Kapitalbodenrente oder Unternehmergewinn. Der Beitrag des Arbeitgebers, welcher jedenfalls den Lohn erhöht, ist tatsächlich im nationalökonomischen Sinn eine Ausgleichung zwischen Arbeitgeber und Arbeiter, indem ersterer von seiner vom Arbeitswerkzeug bezogenen Rente einen Teil abgibt, durch welchen der auf die bloße Arbeit entfallende Anteil des Arbeiters am Arbeitsprodukt erhöht wird.

In der Beitragspflicht des Staats werden auch diejenigen getroffen, welche als Rentner, Börsenspekulanten von dem Ertrag der Arbeit anderer leben. Ferner ist zu erwägen: Der Organismus des Staats dient doch hauptsächlich zum Schutz des Eigentums; ohne den Staat gibt es kein Privateigentum. Da nun der Staat nicht bloß die Besitzenden zur Verteidigung des Eigentums in der Wehrpflicht aufruft, sondern auch die Nichtbesitzenden, so ist es nicht mehr als billig, daß die Gesamtheit der Eigentümer die Besitzlosen dafür entschädigt, und diese Entschädigung liegt in der Garantie, daß dem Arbeiter seine Existenz durch die Arbeit gesichert wird, also in dem Anerkenntnis des Rechts auf Arbeit, wie es in der denkwürdigen Reichstagssitzung vom 9. Mai 1884 vom Reichskanzler Fürsten Bismarck abgegeben wurde.3 Wenn wir aber überhaupt in der Lage sind, an eine so schwierige und tiefgreifende Aufgabe, wie die der Sozialreform ist, zu gehen, so sind wir dazu nun instand gesetzt durch ein starkes Königtum, welches in der Lage ist, sowohl die Aspirationen der Sozialdemokratie zurückzudämmen wie den Kapitalismus zu Konzessionen zu zwingen. Wozu aber der Mangel einer starken Regierung führt, wenn es sich um soziale Probleme handelt, zeigt wieder Frankreich, wo es nach Abschaffung des Julikönigtums zwischen den Nationalgarden, also dem besitzenden Bürgertum von Paris, und den beschäftigungslosen Arbeitern zu einem der erbittertsten und grauenhaftesten Klassenkämpfe kam, die es jemals gegeben hat, ohne daß es später zu irgendwelchen positiven Reformen gekommen wäre.4

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Registerinformationen

Regionen

  • Frankreich

Orte

  • Paris

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Ludwig Philipp (1773–1850) , König der Franzosen
  • Roscher, Dr. Wilhelm (1817–1894) , Professor für Nationalökonomie in Leipzig
  • Viereck, Louis (1851–1922) , Journalist in München

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterversicherung, siehe auch Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersversorgung
  • Arbeitgeber
  • Arbeitshaus
  • Armenlasten
  • Armenpflege
  • Beamte
  • Börse
  • Heirat, Ehe
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Presse
  • Presse – Münchener Post
  • Recht auf Arbeit
  • Reichstag
  • Revolution
  • Revolution – 1848/49
  • Sozialreform
  • Sparen
  • Staatszuschuß
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Witwen
  • 1Die freikonservative „Die Post“ erschien seit 1866 siebenmal wöchentlich in Berlin. Die Zeitung war 1874 von freikonservativen Politikern angekauft worden. Chefredakteur war Dr. Leopold Kayßler. »
  • 2 Wer keine Kinder glaubt ernähren zu können, der unterläßt ihre Zeugung. Gewiß eine der natürlichsten Pflichten; ja wir dürfen sagen, wer ein Kind erzeugt, von dem er weiß, daß er es nicht ernähren kann, der versündigt sich schwer an der bürgerlichen Gesellschaft und mehr noch an seinem armen Kinde selbst (Wilhelm Roscher, Grundlagen der Nationalökonomie, 18. vermehrte und verbesserte Auflage, Stuttgart 1886, S. 641 [= System der Volkswirthschaft. Erster Band]). »
  • 3Vgl. Nr. 166 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 4Gemeint ist der Sturz des nach der Julirevolution des Jahres 1830 eingesetzten Königs der Franzosen Ludwig Philipp in der Februarrevolution des Jahres 1848. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 86, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0086

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