II. Abteilung, Band 1

Nr. 84

1888 September 10─13

Protokoll1 der Verhandlungen des 25. Kongresses für Innere Mission in Kassel

Druck, Teildruck

Der von Theodor Lohmann in der Denkschrift des Zentralausschusses von 1884 vorgeschlagene Weg einer „Pflege der Beziehungen zu den Arbeitgebern“, „freiwilliger sozialer Wirksamkeit auf dem Grunde des Evangeliums“ und „Pflege von Arbeitervereinigungen“ zur Abwehr der „sozialistischen Irrtümer“ werden in Referaten begründet und in Resolutionspunkten gefordert

Die Aufgabe der inneren Mission der evangelischen Kirche in den sozialen Kämpfen der Gegenwart

Pastor Nelle2: Hochverehrte Versammlung, teure Väter und Brüder in Jesu Christo! Was gibt uns ─ ganz abgesehen von der Schranke persönlicher Erfahrung und Einsicht ─, was gibt uns den Mut und die Berechtigung, einen Gegenstand, der so oft ins umfassendste und ins einzelnste hinein behandelt worden ist, nochmals zu erörtern? Einen Gegenstand, von dem wir von vornherein bekennen müssen, daß wir nicht imstande sind, neue Wege, neue Ziele zu zeigen; so unermüdlich sind alle Seiten desselben mit dem Lichte des Evangeliums beleuchtet und ergründet?

Nicht nur die Tatsache, daß für die sozialen Wunden, an denen unser Zeitalter blutet, immer noch und immer neue falsche Heilmittel angepriesen und von der erregungssüchtigen, weil sittlich erschlafften Zeit oft gerade um so gieriger ergriffen werden, je abenteuerlicher sie sind; nicht nur die schmerzliche Wahrnehmung, daß trotz aller angestrengten Tätigkeit opferreicher Liebe im großen ganzen die soziale Kluft in unserem Volksleben sich eher erweitert als schließt, nein, daß wir mit Freudigkeit das uns gestellte Thema in Angriff nehmen, geschieht doch um deswillen, weil wir einen Umschwung in der Behandlung der sozialen Schwierigkeiten bezeugen dürfen, welchen mitzuerleben wir für eine große Gnade Gottes halten.

Es ist das letzte Jahrzehnt der Geschichte unseres Volkes, welches allerwärts lichte Spuren gesunder, auf christlicher Sittlichkeit gegründeter erfolgverheißender Arbeiten zur Heilung der sozialen Notstände aufweist.

Vergleichen wir mit diesem letzten Jahrzehnt die Jahre von 1871 bis 1878: War es nicht, als hätten damals mit Gewalt die Güter vergeudet werden sollen, welche unser Volk durch seine Siege errungen hatte? Ein Arbeitsverdienst, wie er in Deutschland nie erhört war, und doch, wie wenig Segen und Gewinn, wieviel Fluch vielmehr und Verarmung, äußere und innere Verarmung, im Arbeiterstand wie in den oberen Schichten der Gesellschaft! Mächtiger noch als das Anschwellen der Industrie ─ das Anwachsen der Sozialdemokratie, welche in den Schwindeljahren unser Volk mit Ruten und in den darauf folgenden Rückgangsjahren mit Skorpionen peitschte ─ welche den Königsmord predigte, bis er zur Tat ward! Nach den wunderbaren, gottgeschenkten Errungenschaften der drei Kriege, im ersten Jahrsiebent des [ Druckseite 346 ] neuen Deutschen Reiches, konnte es geschehen, daß dem Arbeiterstand durch die sozialdemokratische Wühlerei der Begriff einer fest geordneten Staatsgewalt schier abhanden kam! Wir sahen die Lockerung altgeheiligter Bande, das Preisgeben ehrwürdiger Ordnungen an die Willkür des einzelnen, eine nie geahnte Vermehrung der Verbrechen ─ eine Abnahme des theologischen Studiums: nur ein Symptom des Schwindens idealen Sinns überhaupt ─, in den Versuchen, mit dem roten Gespenst sich auseinanderzusetzen, neben anderer Ohnmacht auch diese: seine utopischen Forderungen zum Teil für prinzipiell berechtigt, ja für christlich begründbar zu erklären.

Diese unheimliche und unhaltbare Lage, in deren tobende Stimmen die Kirche und ihre innere Mission zwar treu und ernst, aber wenig erfolgreich ihren Warn- und Weckruf erschallen ließ, ward erst durch die beiden Attentate des Sommers 18783 vor aller Augen als ein Abgrund offenbar, der unser Volksleben zu verschlingen drohte.

Gott hat es nicht nur unserem von seinen Wunden genesenden Kaiser vergönnt, das letzte Jahrzehnt seines Lebens mit Erfolgen auf dem Gebiet der Heilung sozialer Schäden gekrönt zu sehen, sondern auch das Volk begnadigt, sich aufzuraffen zur Erkenntnis und Beseitigung der Gefahren, die ihm drohten.

Nicht erst mit der Kaiserlichen Botschaft von 1881, welche die großartige soziale Gesetzgebung der letzten Jahre ankündigte, nein, schon mit dem Jahre 1878 läßt sich die beginnende soziale Tätigkeit des Staates erkennen. Wir denken hierbei nicht sowohl an das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie als vielmehr an die positiven Maßnahmen wie die allgemeine Einführung der Fabrikinspektoren, das Gesetz zum Schutz jugendlicher Arbeiter4, das preußische Gesetz betreffend die Unterbringung verwahrloster Kinder5 ─ Gesetze, die alle dem Jahre 1878 angehören.

Die öffentliche Meinung, in welcher im Zeitalter der Gründungsseuche bis 1878 so manche Stimmen der Zuchtlosigkeit überlaut geworden waren, fing an zu fühlen, daß sie sich wieder mehr in Zucht nehmen müsse. Der Höhepunkt im Wachstum der Kriminalität war überschritten. Ebenso bedeutsam fast wie die gesetzgeberische Tätigkeit erscheint uns, was seitens einzelner Arbeitgeber und Vereinigungen solcher geschaffen worden ist in bezug auf Arbeiterschutz und Arbeiterwohl. Der bergische Verein „Gemeinwohl“, eine Vereinigung von Arbeitgebern, unter denen die besten Namen von Trägern innerer Missionsarbeit des Bergischen Landes vertreten sind;6 die durch den Geh[eimen] Kommerzienrat Oechelhäuser7 ins Leben gerufenen [ Druckseite 347 ] Vereinigungen in den sächsischen Landen; die vielgelesenen Zeitschriften und sonstigen Veröffentlichungen aus diesen Kreisen, durch welche sie den Arbeitgebern das Gewissen schärfen und den Blick erweitern; die Einrichtungen von Arbeiterwohnungen, Volksküchen und Kaffeehäusern, Flickschulen, Häusern zur Pflege edler Geselligkeit; die immer mehr als selbstverständlich angesehene Tätigkeit der Arbeitgeber für Wohlfahrtseinrichtungen,8 so daß man sagen kann, diejenigen Arbeitgeber sind in Deutschland heutzutage leicht zu zählen, welche nichts auf diesem Gebiet für ihre Arbeiter tun ─ vergleichen wir das mit den einsamen Seufzern eines Viktor Aimé Huber aus den fünfziger und sechziger Jahren9, mit dem Vereinzeltbleiben solcher Bestrebungen in den siebziger Jahren, so müssen wir sagen, die Zeit ist eine andere geworden.

Die innere Mission sieht auf geradezu allen Gebieten ihre Tätigkeit sich immer weiter entfalten, und weit entfernt, durch jene humanitären Bestrebungen in den Hintergrund gedrängt zu werden, gewinnt sie immer mehr das Interesse der öffentlichen Meinung für sich. Was auf den Gefängniskongressen10 sowie in den Verhandlungen für Armenpflege und Wohltätigkeit11 mit sittlichem Ernst verhandelt wird, wie arbeitet das und vieles andere mit der inneren Mission Hand in Hand! Ja, mit den 50jährigen Jubiläen ihrer grundlegendsten und vorbildlichsten Anstalten12 hat sie in den letzten Jahrzehnten die Stiftung neuer, bis dahin nicht gekannter und gepflegter Zweige ihrer Tätigkeit erleben dürfen ─ wir nennen nur die Schöpfung und Ausbreitung von Arbeiterkolonien und Trinkerasylen und den gewaltigen Aufschwung der Stadtmissionstätigkeit, vor allem in Berlin. Welche Teilnahme finden die theoretisch-praktischen Kurse für innere Mission seitens unserer jungen Geistlichen und wie wird dadurch die Mitarbeit an dem gesegneten Werk Gemeingut der Kirche!

Und die evangelischen Arbeitervereine, deren erster 1882, nicht lange nach dem Erlaß der Kaiserlichen Botschaft, entstand,13 und die jetzt über 60 Vereine mit etwa 20 000 Mitgliedern geworden sind, meinen wir auch unter den Mitarbeitern der innern Mission in den sozialen Kämpfen der Gegenwart aufführen zu müssen. Auch der evangelischen Männer- und Jünglingsvereine muß hier gedacht werden, deren praktische Tätigkeit im Dienst der inneren Mission an manchen Orten gegenwärtig nicht unbeträchtlich sich entfaltet.

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Ganz besonders aber müssen wir betonen, daß mehr und mehr die Bestrebungen auf dem Gebiet sozialheilender Tätigkeit sich als voll und ganz deutsch geartet herausgestalten. Die Zeit ist vorüber, wo wir ausschließlich oder vorwiegend auf englische Vorbilder hingewiesen wurden und angewiesen waren.

Vergleichen wir aber einmal die Arbeits- und Arbeiterverhältnisse überhaupt, den sittlichen und sozialen Stand der arbeitenden Klassen unseres Vaterlandes mit denen anderer Länder, so dürfen wir sagen, daß die sozialen Notstände, wie sie in Frankreich und Belgien in den letzten Jahren hervorgetreten sind, das Einreißen sozialistischer Neigungen in den englischen Gewerkvereinen und bei den nordamerikanischen „Rittern der Arbeit“14, dazu das Anarchistentum in jenen Ländern ─ von Rußland ganz zu schweigen ─ von den bei uns herrschenden besorgniserregenden Zuständen wahrscheinlich nicht erreichen, gewiß nicht überboten werden.

Angesichts dessen, was im letzten Jahrzehnt zugunsten der Herbeiführung gesunder Verhältnisse in der industriellen Bevölkerung geschehen ist, muß denn auch das Urteil über die Industrie überhaupt und ihren Einfluß auf das Volksleben allmählich ein günstigeres werden. Der alte Streit, ob die Industrie der leiblichen, geistigen und sittlichen Volksgesundheit mehr Förderung gebracht oder mehr geschadet hat, soll hier nicht entschieden werden ─ die Frage wird sich auch für die verschiedenen Bezirke und Zweige des gewerblichen Großbetriebs verschieden beantworten. Aber das darf wohl gesagt werden, daß in der Darstellung der Notstände oft zu sehr generalisiert worden ist und daß hier und da auch Vertreter der inneren Mission die segensreichen Folgen unterschätzt haben gegenüber der Hervorhebung der in ihrem Gefolge auftretenden Schattenseiten. Warum rief Oberlin15 seinerzeit die Industrie in das Land? Wie viele Gegenden sind durch sie nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sittlich gehoben worden! Die „bäuerliche Glaubens- und Sittenlehre“ industrieloser Gegenden, die ländlichen Zustände, wie ein J. Gotthelf16 und O. Glaubrecht17 sie uns mit erschütternder Wahrheit schildern, sollten uns doch vor dem im Grunde Rousseauschen Irrtum18 bewahren, als seien jene ländlichen Gebiete ─ ich will nicht sagen, soziale Paradiese ─, als seien sie nicht mit ähnlichen schweren Schäden erfüllt, wie sie die Industrie zwar überall hervorruft, aber auch an ihrer Beseitigung arbeitet. Die wirtschaftliche Entwicklung unseres Zeitalters, die unzähligen Gliedern gerade der arbeitenden Klassen zu einem menschenwürdigeren Dasein verholfen hat, hat damit zugleich viele Vorbedingungen auch eines sittlich reineren Lebens geschaffen; viel frisches Wasser ist in stagnierende Sümpfe des Volkslebens geleitet, viele Türen sind geöffnet worden, das Evangelium den einzelnen Seelen näherzubringen.

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Es darf nun nicht wundernehmen, daß die Steigerung der Löhne, die Vermehrung der Existenzmittel, kurz die Verbesserung der äußeren Lage der arbeitenden Klassen diese noch keineswegs im ganzen zufriedener mit ihrem Los gemacht oder sie an die Arbeitgeber angenähert hat. Das liegt einmal nicht in der Macht jener Mittel. Ja, auch die staatliche Gesetzgebung hat nicht vermocht, die einmal unzufriedenen Arbeitermassen versöhnlicher zu stimmen: Wie groß sind doch die Kreise, welche allen diesen Versuchen nach wie vor mißtrauisch gegenüberstehen! Gott hat unser Volk so unvergleichlich reich gesegnet mit volkstümlichen und vorbildlichen Gestalten, daß man wohl sagen darf, zu keiner Zeit sei die Leitung seiner Geschicke einer solchen Zahl von Männern weltgeschichtlicher Bedeutung, wunderbarster Erfolge, edelster Pflichttreue in Beruf und Haus anvertraut gewesen, die sich zugleich einer solchen Volksbeliebtheit erfreuen. Demgegenüber hat die sozialdemokratische Bewegung nur auf Ritter so elender Gestalt wie Lassalle, Marx, Most als auf ihre erhabensten Helden hinzuweisen ─ und trotzdem, und nach nun zehnjährigem Bestehen des Sozialistengesetzes, bei der letzten Reichstagswahl ein bedeutendes Anwachsen der sozialdemokratischen Stimmen!

Es ist eben der übermächtige Zug unserer Zeit zur Auflösung alter Ordnungen noch nicht zum Stillstand gekommen, sondern höchstens im einzelnen stutzig geworden. Noch hat der Individualismus die Herrschaft, jene Anschauung, als ob der Einzelmensch der Ausgangspunkt aller Gemeinschaft sei und als ob alle verschiedenen Gemeinschaftskreise nur gleichsam ein kontraktliches Verhältnis seien zwischen den atomistischen voneinander ganz unabhängigen Individuen. Nichts hat wohl seit dem Bestand der menschlichen Gesellschaft so sehr zur Atomisierung derselben beigetragen als der rasche Übergang vom Kleinbetrieb zur Großindustrie. Ungebundenheit, Verantwortungslosigkeit ist das Ideal oben und unten! Dieser Individualismus aber muß da, wo das einzelne Individuum sich des Schutzes und Haltes der gottgesetzten Ordnung alles Gemeinschaftslebens beraubt hat oder beraubt sieht, zum Sozialismus ausschlagen. Der Sozialismus ist nur die Konsequenz der Vereinzelung und Zersetzung, der Atomisierung der menschlichen Gesellschaft. Er besteht und er will bestehen aus Einzelwesen, deren keines dem andern über- oder untergeordnet sei. Indem er so dem „Ichtum“ das „Gemeintum“ gegenüberstellt und das Ichtum durch das Gemeintum überwinden will, zerstört er sowohl die Einzelpersönlichkeit in ihrer Eigenart, als er zugleich den Egoismus pflegt und sanktioniert.

Von hier aus wird es ersichtlich, daß der Individualismus und der aus ihm sich entwickelnde Egoismus die Vorfrucht der Sozialdemokratie19 sind. Alle Klassen, soweit sie diesem falschen Prinzip huldigen, bereiten gleichmäßig dem Sozialismus das Feld. Die Entfesselung des rücksichtslosen Konkurrenzkampfes proklamiert den Sozialismus so gut und so sicher wie den Individualismus.

Noch deutlicher wird es, daß alle Stände gleichermaßen an den sozialen Notständen schuldig sind, wenn wir auf die Verbreitung der materialistischen Weltanschauung unsern Blick richten. Der Materialismus bekennt das Genußleben als höchstes Gut. Ihm ist nicht die Arbeit, sondern der Genuß Bestimmung und Ziel des Menschen, die Arbeit ist ihm nur der Durchgangspunkt zum Genuß. Ohne Arbeit reich werden, ohne Arbeit es gut haben, „je weniger Arbeit, je mehr Genuß, desto besser [ Druckseite 350 ] steht‘s!“ ─ wer erkennte nicht in dieser Losung das verhängnisvolle Band, welches die höchsten mit den niedrigsten Klassen in bezug auf die Lebensgrundsätze eint. Wie oben so unten wird da die Arbeit nur heuchlerisch geehrt. Das moderne Heidentum verachtet die Arbeit ebenso wie das antike. Daß die Arbeit Bestimmung des Menschen ist, ihm Ehre, Segen und Gottesdienst, daß sie ihn gesund und fröhlich macht und erhält, daß Gott der Herr sie als das vornehmlichste Mittel gebraucht, unsere Herzen zu füllen mit Speise und Freude, das ist in den oberen Kreisen vielfach eine verhöhnte, wo nicht ganz verklungene Wahrheit ─ davon wollen aber auch ebenso die sozialdemokratischen Proklamationen nichts wissen bei allem falschen Pathos, mit dem sie den einzigartigen, ja alleinigen Wert der Arbeit entdeckt zu haben vorgeben. In dieser Verneinung christlich-sittlicher Wahrheit ist ein tiefer Zusammenhang zwischen der Lebensanschauung der niederen und der höheren Stände (beiläufig bemerkt, in seiner Einheit klassisch ausgeprägt in der Persönlichkeit Ferdinand Lassalles).

Was darum gegen die sozialen Gefahren unternommen werden soll, muß in allen Ständen gleichermaßen eine sittliche Gesamthebung bezwecken. Es darf sich nicht darauf beschränken, im einzelnen Fall zu heilen oder vorzubeugen, sondern muß der Läuterung und Entfaltung der sittlichen Grundordnungen alles sozialen Lebens dienen. Nicht nur der Erfolg, sondern auch die ausdauernde Kraft und stete Freudigkeit in der sozialheilenden Arbeit ist dadurch bedingt, daß wir ein Prinzip, eine reale Macht besitzen, welche, einfach und allumfassend zugleich, allen Schäden sich gewachsen zeigt. Wir haben diese Gewalt in dem Evangelium von Christo.

Es ist nun durchaus dem Prinzip des Evangeliums entsprechend, was der Staat seinerseits zur Lösung der sozialen Frage in neuerer Zeit unternommen und vorbereitet hat. Daß der Staat sich nicht darauf beschränken dürfe, nur der schrankenlosen Konkurrenz offene Bahn zu schaffen und zu lassen, ist immer mehr erkannt und zugestanden worden, je mehr jener Individualismus als negatives und negierendes Prinzip in seinen verhängnisvollen Folgen offenbar wurde. Von den verschiedensten Seiten ist der Weckruf an den Staat ergangen; nicht in letzter Linie hat die innere Mission die Forderung staatlichen Schutzes und staatlicher Sicherung der sittlichsozialen Grundordnungen zugunsten der arbeitenden Klassen erhoben.20 Ist und bleibt doch der bewunderns- und verehrungswürdige Mann, welcher vor 10 Jahren, anfangs 1878, seine christlich-soziale Partei begründete, vor allem auch, um den Forderungen an den Staat Nachdruck zu verleihen, uns in erster Linie ein Vertreter der inneren Mission.21

Wenn die Arbeiterschutzgesetzgebung im Sinne Kaiser Wilhelms I. vollendet wird ─ und wir haben ja das Wort unseres jetzigen Kaisers als Bürgschaft dafür22 ─ so werden wir in derselben eine so bedeutsame und segensreiche Schöpfung der inneren Politik besitzen, wie die Völkergeschichte keine größere kennt.

Indem ich es mir selbstverständlich versagen muß, auf die Gesetzgebung im einzelnen näher einzugehen, bemerke ich nur, daß auch betreffs der die Gesetzgebung vorbereitenden Tätigkeit der Staat den durchaus richtigen Weg einschlägt, die Beteiligten selbst mittels angestellter Erhebungen zu Worte kommen zu lassen. Als wir [ Druckseite 351 ] jüngst das Ergebnis der Enquete über Sonntagsarbeit23 lasen, erbebte uns nicht das Herz vor Freude über das mächtige Zeugnis zugunsten der Sonntagsruhe und -feier, das da von Arbeitgebern und Arbeitnehmern niedergelegt ist? Dem Zeugnis kann niemand vorwerfen, es sei Pastorensprache; aber um so wirksamer geht ein tiefer, starker, voller Ton der Sehnsucht nach Sonntagsfreiheit durch die Mehrzahl der Gutachten hindurch, welcher von Gesundheit und Kraft der Anschauungen in unserem Volksleben Kunde gibt. Da ist die Stimme der Menschennatur, die auf die Sonntagsfeier angelegt ist und nach ihr verlangt wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, zum Ausdruck gekommen ─ ich glaube viel anders als mancher gedacht, ganz anders als die Stimme der sogenannten öffentlichen Meinung bisher dekretiert hat.

Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, in welchem Maße staatliche Behörden es sich angelegen sein lassen, die Urteile der verschiedensten Vertreter des Groß- und Kleingewerbes sich austauschen und zu ihrer Kenntnis gelangen zu lassen. Es geschieht dies in jedem Regierungsbezirk durch die Gewerbekammern resp. wirtschaftlichen Konferenzen. Diese wirtschaftlichen Konferenzen bestehen z. B. in der Rheinprovinz, unter der Leitung des Regierungspräsidenten, aus Vertretern der Landwirtschaft, des Handwerks, der Industrie und des Handels.24 Da sollen Arbeiter und Arbeitgeber ─ im Regierungsbezirk Düsseldorf einige 40 an der Zahl ─ „eine sachgemäße Vorbereitung der die wirtschaftlichen Interessen berührenden Maßregeln der Gesetzgebung und der Verwaltung in gemeinsamer Tätigkeit bewirken“. Die Verhandlungen der beiden bis jetzt abgehaltenen Versammlungen dieser Düsseldorfer Bezirkskonferenz über die Wohnungsfrage und über den Branntweingenuß ─ die nächste wird der Einschränkung der öffentlichen Lustbarkeiten gelten ─ gehören zu dem Gediegensten, was ich über diese brennenden Fragen gelesen habe. Sie fördern eine Fülle neuer Anschauungen zutage und zeigen insbesondere, daß die Vertreter des Arbeiterstandes in jenen Konferenzen meist vorangehen, wo es sich um die Durchführung strenger und gründlicher Maßregeln handelt. Aus diesen Verhandlungen ist ersichtlich, daß die staatliche Gesetzgebung nicht mit dem bereits Geschaffenen zum Abschluß gelangt sein, sondern sich auch auf eine Anzahl weiterer brennender Fragen unserer gewerblichen Verhältnisse erstrecken soll. Der Sinn, in welchem das angebahnt wird, kennzeichnet sich allerdings als „praktisches Christentum“ in der vollen Bedeutung des Wortes.

So wird die innere Mission hoffen dürfen, eine Reihe dringender Notstände, wegen deren sie zum Teil seit Jahrzehnten beim Staat aufgrund umfassender Erhebungen in Petitionen Abhilfe heischt, mit der Zeit gehoben zu sehen. Es ist ihre Aufgabe, immer wieder betreffs der Sonntagsruhe, des Kampfes wider die öffentliche Unsittlichkeit und die Trunksucht die Geltendmachung der Forderungen des Evangeliums in der Gesetzgebung nachdrücklich zu fordern.

Neben diesen auf alle Stände gleichermaßen bezüglichen Gebieten hat die innere Mission aber auch diejenigen besonders ins Auge zu fassen, bei denen es sich für den gewerblichen Arbeiterstand um Sicherung und Schutz für Gesundheit und Sittlichkeit handelt, und den Staat auf seine Pflichten hinzuweisen. Zwar sind hier gewisse Frage noch nicht spruchreif, z. B. die, ob und inwieweit die Großindustriellen [ Druckseite 352 ] gesetzlich zu verpflichten sind, gute Mietwohnungen für einen gewissen Teil ihrer Arbeiter zu beschaffen; vor allem die Frage des Maximalarbeitstages, dann die Ausrüstung von Arbeiterberufsvereinigungen mit Korporationsrechten, die Ausbildung des Genossenschaftswesens, die Einrichtung von Arbeitskammern behufs Verständigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Aber daß alle diese Fragen als Objekte staatlicher Gesetzgebung in den Kreisen der für das Arbeiterwohl besorgten Arbeitgeber gegenwärtig erwogen werden, beweist doch, daß auch die innere Mission ihr Augenmerk darauf richten darf und soll.

Nicht anders steht es mit den Forderungen betreffs weiterer Entwicklung der Gesetzgebung über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken und Hausindustrie und über die Beschäftigung von Frauen und Mädchen in der Industrie, vor allen Dingen aber mit der Forderung schärfster Bestimmungen über das Kostgängerwesen25: Hier muß, auch bei herrschendem schwachen Arbeitsverdienst und auch wenn die behördlichen Maßregeln als Härte erscheinen sollten, ein energisches Durchgreifen gefordert werden. Denn das Kostgängerwesen bezeichnet in seinen Mißständen den Tiefpunkt proletarischer Verkommenheit. Wir sehen, es bleibt eine Menge von Fragen, zu deren Lösung die innere Mission das Eingreifen des Staates aufgrund des Evangeliums aufzurufen hat, hier ganz zu schweigen von der Verpflichtung des Staates als des größten Arbeitgebers, auf allen diesen Gebieten mit gutem Beispiel voranzugehen.

Verhängnisvoll wäre es nun, wenn man, während noch in den letzten Jahrzehnten die Meinung dahin ging, der Staat habe nur die Rolle des Zuschauers am Ufer der gewerblichen Strömungen zu spielen, jetzt in das andere Extrem verfallen und alle Pflichten zur Erhaltung des sozialen Friedens auf den Staat abwälzen wollte. Gegenüber denen, die im Vertrauen auf die Staatshilfe über die Bedeutung der sittlichen Tätigkeit des einzelnen, über die Verpflichtung der Arbeitgeber und Arbeiter geringschätziger denken möchten, müssen wir an die Tatsache erinnern, daß auch die vollkommenste und umfassendste staatliche Gesetzgebung den Gegensatz zwischen Reich und Arm nicht aufheben, ja nicht einmal mindern kann.

Weil sie die gegenwärtige Verteilung der Güter nicht umwandeln und auf die Lohn- und Wertverhältnisse dauernd keinen Einfluß üben kann, darum vermag sie auch Neid und Bitterkeit der Arbeiter gegen die Arbeitgeber, Härte und Rücksichtslosigkeit der Gesinnung dieser gegen jene nicht wegzuschaffen.

So sehen wir denn die staatsgesetzliche Tätigkeit als die Bahnbrecherin an, welche der sozialversöhnenden Arbeit der einzelnen Stände die Wege ebnet, welche Hemmnisse, die der Entfaltung der sittlichen Grundordnungen des sozialen Lebens entgegenstehen, hinwegräumt.

Der heutigen Kulturwelt klingt’s nun durchweg, „als wären’s Märlein“, wenn man der Kirche eine Bedeutung für die Lösung der sozialen Frage zuschreibt. Höchstens traut man das der römischen Kirche zu, unter Schmähungen auf die evangelische Geistlichkeit, sofern sie in sozialer Beziehung nichts tue, und unter gesteigerten Schmähungen, wenn einmal ein evangelischer Geistlicher auf diesem Gebiet etwas Außergewöhnliches unternimmt.

Sofern in unserer heutigen öffentlichen Meinung der Götzendienst vor Macht und Erfolg anstelle der Würdigung reiner sittlicher Mächte getreten ist, ist es ja begreiflich [ Druckseite 353 ] und selbstverständlich, daß man, in Deutschland wenigstens, der römischen Kirche die Palme reicht, wo es sich um soziale Beeinflussung des Volkslebens handelt.

Wir würden in These 6 nicht die Schwäche und Unfähigkeit, zu welcher die römische Kirche auf diesem Gebiet kraft ihrer Prinzipien verurteilt ist, anzudeuten für nötig gehalten haben, wenn wir nicht immer wieder erleben müßten, daß man auch in einzelnen evangelischen Kreisen, wo man Rom nicht aus der Nähe kennt, die katholische soziale Tätigkeit als Vorbild hinstellt und mit Neid oder Sehnsucht zu ihr hinüberblickt; daß man der inneren Mission seitens der ihr abgeneigten Kreise vorwirft, sie ahme Rom nur nach; daß Nationalökonomen nicht selten alle evangelischen Bestrebungen auf diesem Gebiet mit den doch prinzipiell und praktisch verschiedenen römischen zusammenwerfen.

Nach der klassischen Darstellung Uhlhorns26 brauchte ich eigentlich kein Wort darüber zu verlieren, daß die Prinzipien Roms, seine Auffassung von Besitz, Arbeit, Familien- und Gemeindeleben es ihm unmöglich macht, die sittlichen Voraussetzungen für die Lösung der sozialen Frage zu schaffen. Es ist nur durch den gänzlichen Mangel an Verständnis, den unsere Zeit für alles Dogmatische bekundet, erklärlich, daß z. B. die Hinweisung des Papstes auf die Lehre des Thomas von Aquino über Roms Ansichten und Absichten auf sozialem Gebiet der gebildeten Welt von heute die Augen nicht geöffnet hat. Man hält eben alles Dogmatische für praktisch unwirksam und tot ─ eine Täuschung, die den Gegnern Roms immer wieder Niederlagen bereitet.

Nicht nur gemäß seiner Glaubens- und Sittenlehre, auch aus der geschichtlichen Erfahrung läßt sich nachweisen, daß Rom nicht die Macht ist, welche gesunde soziale Verhältnisse schaffen kann.

Auf die politischen und sozialen Notstände in Polen und Spanien, in Irland, Belgien, Frankreich, Italien ist so oft hingewiesen worden, daß man angesichts der belangreichen sozialen Tätigkeit der römischen Kirche in Deutschland, welche doch zum größten Teil dem Wettstreit mit der evangelischen Kirche zu verdanken ist, jene Mißstände nicht vergessen sollte. Die falsche Art Roms, sich zu akkommodieren, springt in die Augen, wenn wir z. B. seine gegenwärtige soziale Haltung in Belgien mit der in Nordamerika vergleichen: Dort ist sie die Verbündete eines Kapitalismus, welche die Arbeiter aussaugt und verbraucht,27 in Nordamerika hält sie es mit dem Stand der Arbeiter, in der Hoffnung, durch ihn am sichersten ihre dort mächtig sich emporringende Herrschaft zu stützen.28 Der Einfluß auf die Massen, den Rom sucht, soll die Herrschaft der Kirche als höchster irdischer Macht sicherstellen und gewährleisten. Aber es kann nicht ausbleiben, daß die so im fremden Interesse benutzten Volksmassen, nachdem sie lange Zeit Folge geleistet, endlich einmal den Zwiespalt zwischen ihrem wahren Interesse und dem politischen Interesse der römischen Kirche wahrnehmen und um so energischer von ihr sich abwenden. Und wenn der Generalsekretär des katholischen Vereins „Arbeiterwohl“ in M[önchen]gladbach, Dr. Hitze, als Hauptmittel zur Belebung der Arbeitervereine auf der Katholikenversammlung [ Druckseite 354 ] zu Breslau „die Entfaltung der ganzen Pracht der katholischen Kirche“ begehrte,29 müssen da nicht die arbeitenden Klassen auf den Verdacht kommen, daß die römische Kirche sich selbst höchster Zweck und die Arbeitervereine ihr nur Mittel zum Zweck seien?

Je mehr es Not tut, auf das politisch und sozial Bedenkliche des römischkirchlichen Systems hinzuweisen, desto bereitwilliger soll es anerkannt werden, daß unzählige einzelne Persönlichkeiten sowohl unter den beruflichen Arbeitern katholischer Liebestätigkeit als auch insbesondere unter den Arbeitgebern, welche Wohlfahrtseinrichtungen ins Leben gerufen haben, von reinen Beweggründen geleitet, ihre Opferfreudigkeit betätigen. Dieses wird aus Erfahrung bestätigen können, wer jenes, das Bedenkliche des falschen Prinzips aus Erfahrung zu beklagen Veranlassung hat.

Wenden wir uns von der römischen zur evangelischen Kirche. Gerade die Theologie unserer Zeit hat es sich angelegen sein lassen, jene hier und da auch in der evangelischen Kirche übersehene Seite der reformatorischen Wahrheit ins Licht zu stellen, wonach, wie Luther30 es einmal ausdrückt: „Glaube an den Herrn Christum und tue die Werke deines Berufs“31 der Inbegriff der christlichen Vollkommenheit ist. „Das römisch-katholische Vollkommenheitsideal“ ist „in seinen antik-heidnischen Wurzeln“, in seinem morschen Stamm, in seinen kranken Früchten uns dergestalt dargestellt, daß uns doch der Neid oder die Lust zur Nachahmung vergehen müssen.32 Die Stellung des Christen in Familien- und Berufsleben, in Kirche und Staat ist in der evangelischen Glaubens- und Sittenlehre so biblisch klar bestimmt und wird von den evangelischen Kanzeln so unmißverständlich gepredigt, daß schon hierin ein unermeßlicher Vorzug der sozialen Bedeutung unserer Kirche und ihrer Tätigkeit vor jener Roms beruht.

Je reicher aber der Lehrgehalt unserer Kirche, desto größer unsere Verantwortung. Und wir wollen nicht etwa nur in geschichtlicher Darstellung, sondern unserer [ Druckseite 355 ] persönlichen Mitschuld uns bewußt, als Glieder unserer evangelischer Kirche Buße tun für die Unterlassungssünden, deren unsere Kirche angesichts der wachsenden sozialen Schwierigkeiten unseres Jahrhunderts sich anzuklagen hat. Ehe aus dem Nationalismus heraus die Kirche zu freier und frischer Gestaltung insbesondere ihres Gemeindelebens kommen konnte, sind namentlich in den Großstädten und Industriezentren die Gemeinden so ungeheuer schnell angewachsen, daß die kirchlichen Einrichtungen und gemeindlichen Neuschöpfungen damit vielfach nicht gleichen Schritt gehalten haben. Was die innere Mission zur Abhilfe der daraus entstehenden Schwierigkeiten tun konnte, war vielfach nur der Tropfen auf den heißen Stein ─ vor 1848, vor 1870 und nun erst recht nach 1871, wo das Anwachsen der Industriebevölkerung an einzelnen Orten ein immer gewaltigeres wurde.

Doch, und hiermit greifen wir auf unsere Eingangsausführungen zurück, wäre nur überall in evangelischen Kreisen erst die Unwissenheit und Mutlosigkeit (beides ist Glaubenslosigkeit!) gebannt, welche unterschätzt, was im Laufe unseres Jahrhunderts und in den letzten Jahrzehnten (seit 1848) zumal die evangelische Kirche getan hat, um in die fluktuierende Bevölkerung den Halt ewigen Grundes zu senken, in die industriellen Massengemeinden die Organisation christlicher Gemeindetätigkeit zu tragen, an die sittlich Gefährdeten oder Versunkenen aller Stände die Rettungsseile der Liebe anzulegen. Man würde gewahren, daß, wo die Kirche ihre praktische Tätigkeit, die heilige Technik ihres Wirkens angesichts der veränderten Lebensverhältnisse unserer Zeit umgestaltet hat, von Anfang an die innere Mission ein wesentlicher, wo nicht der wesentlichste Faktor in dieser kirchlichen Arbeit gewesen ist. Die innere Mission hat die Notstände und Schwierigkeiten, welche sich aus der Umgestaltung der sozialen Verhältnisse ergaben, aufdecken und die Mittel zur Abhilfe darreichen helfen. Sie ist von Anfang an das nicht gewesen, als was noch heute vereinzelte Stimmen in der Kirche sie darstellen wollen: nur Almosenspenderin, Wohltätigkeitsanstalt; sie ist mehr als nur ein Komplex verschiedenartiger Anstalten und Vereine, die für christliche Liebeszwecke wirksam sind. In ihr stellt sich die Arbeit, welche die Kirche an sich selbst tut, die Reformbewegung der Kirche zu ihrer inneren Erneuerung dar, soweit diese Bewegung die Tat dienender, rettender, heilender Liebe ist. Die ersten und kleinsten Anfänge anstaltlicher Tätigkeit eines Wichern, Fliedner33, Heldring34 ─ sie sind ins Leben getreten, nachdem und weil ihre Schöpfer mit umfassendstem Blick die sozialen Nöte unseres Volkslebens und die Mitschuld der Kirche an denselben erforscht hatten. Der soziale Blick war es, der diese Männer befähigte, so zu handeln, wie sie getan; so eröffnet sich uns bei ihren unscheinbaren anstaltlichen Anfängen gleich die unendliche Perspektive in das Gebiet sozialheilender Tätigkeit im größten Stile.

Kann man unser Zeitalter das kirchenbauende nennen, wie die Kirche seit der Reformation noch keines erlebt hat; nicht selten sind, zumal in Großstädten, die Enthüllungen und Anregungen der inneren Mission die Ursache gewesen, daß man neue Kirchen zu bauen begann. In Hamburg war seit mehr denn 100 Jahren keine Kirche gebaut; die innere Mission baute die Anscharkapelle und gab, wie hernach von seiten [ Druckseite 356 ] der Kirche in Hamburg ausdrücklich bekundet worden ist, durch die im Anschluß an dieses Gotteshaus sich entfaltende Tätigkeit Vorbild und Anstoß zu einer veränderten und neubeginnenden Gemeindetätigkeit im kirchlichen Leben jener Stadt.35 In nicht wenigen Großstädten gibt die innere Mission als Stadtmission die Anregung zu neuer gemeindlicher Tätigkeit, ja zu Gemeindebildungen. Vor allem wird die bahnbrechende Tätigkeit Stoeckers auf dem Gebiet der Berliner Stadtmission als eine im vollsten Sinne des Wortes kirchliche auch von allen Gegnern seiner christlich sozialen Bestrebungen anerkannt. Wenn dereinst in Berlin die ersehnten 100 Kirchen gebaut, 100 Gemeinden gegründet und 100 Geistlichen werden angestellt sein (oder werden’s, wenn es ausgeführt wird, schon gleich je 200 sein müssen?), so wird die Geschichte auf die Stadtmission zurückweisen, welche für diesen gesegneten kirchlichen Fortschritt das Bedürfnis nachgewiesen, aber auch positiv die Vorarbeit getan.36 Die dem Rationalismus und dem modernen Leben zum Opfer gefallene kirchliche Sitte wird mannigfach durch die Bemühungen der inneren Mission wieder angebahnt: Ansätze solcher Sitten wie Hausandacht, christliche Volksfeste, christlich-volkstümlicher Gesang, Wiedererweckung der Kurrende, Bilderschmuck des Hauses, ja Schmuck des Gotteshauses und Gottesdienstes in Kunst und Lied; wie vielfach ist das alles von den Anstalten der inneren Mission aus geweckt und verbreitet worden (es darf wohl auch an die Pflege der Paramentik und Liturgik in Diakonissenanstalten erinnert werden). Diese Früchte der inneren Mission auf dem Gebiet kirchlicher Sitte können in ihrer sozialheilsamen Bedeutung kaum hoch genug gewürdigt werden. Wo irgend man die Volkstümlichkeit der evangelischen Kirche der Gegenwart ins Auge faßt, allerorten gewahrt man die stille Bautätigkeit der inneren Mission.

Aus dem allen geht hervor, daß ihr unter allen Lebensäußerungen der evangelischen Kirche die bedeutsamste Aufgabe auch in den sozialen Kämpfen der Gegenwart zufällt. Welches ist diese Aufgabe?

Nicht die, ein nationalökonomisches oder sozialpolitisches System und Programm aufzustellen, ebensowenig wie sie sich an ein bestehendes oder entstehendes binden kann und darf. Wenn wir das hier als etwas Selbstverständliches aussprechen, so müssen wir uns aufs Entschiedenste dagegen verwahren, als könne sich die innere Mission nun damit begnügen, den nationalökonomischen und sozialen Entwicklungen neutral oder nur so gegenüberzustehen, daß sie sich des Günstigen in denselben allenfalls zu freuen hätte. Vielmehr hat sie unermüdlich prüfend, forschend, mit dem durch das Licht und die Liebe Christi geschärften Blick die vorhandenen Notstände aufzudecken und sich mit Darlegung derselben wie mit Vorschlägen und Forderungen der Abhilfe namens der Kirche des Evangeliums an die zunächst Verpflichteten und Berufenen, an Staat und bürgerliche Gemeinde, an Arbeitgeber und Beamte zu wenden. Wirft man ihr doch nicht vor, sie treibe Kirchenpolitik, wenn sie durch ihre Anstalten, Vereine, Berufsarbeiter das Gemeindeleben mit neuer Kraft und Rührigkeit zu erfüllen sucht, so sehe man auch nicht gleich Sozialpolitik in den Anregungen [ Druckseite 357 ] und Forderungen, die sich nach der Seite staatlichen Eingreifens hin geltend macht. Man hat mit Vorliebe darauf hingewiesen, daß der Apostel Paulus nirgends im Neuen Testament auch nur die Aufhebung der Sklaverei gefordert, geschweige für sie agitiert habe. Nein, fügen wir hinzu, ebensowenig, wie er den Erlaß von Gesetzen gegen die Völlerei und gegen die öffentliche Unsittlichkeit gefordert hat. Dennoch wird niemand behaupten wollen, daß die Bemühungen, die Agitationen christlicher Philanthropen unseres Jahrhunderts den genannten drei Notständen gegenüber dem Evangelium nicht entsprächen. Und wenn das Neue Testament sagt, der Arbeiter ist seines Lohnes wert, und Wehe ruft über die, welche dem Arbeiter den Lohn abbrechen,37 so leitet die innere Mission daraus nicht etwa die utopische Forderung staatlicher Festsetzung eines Mindestlohnes ab, wohl aber macht sie jedem Christen und den mit Macht Autorität und Besitz ausgerüsteten Instanzen in erster Linie zur Pflicht, diejenigen Einrichtungen zu treffen, welche möglichst jedem ein menschenwürdiges Dasein sichern. Das ist eine unabweisliche Forderung des Evangeliums und darum auch ein unablässiges Mühen der inneren Mission.

Und wenn ihre Vorstellungen bei dem Staat und den anderen zunächst Berufenen verhallen, so sucht die innere Mission selbst Mittel und Wege, Einrichtungen ins Leben zu rufen, wodurch sie Not lindern und eine sittlich gesundere Lage den Gefährdeten verschaffen helfen kann. Immer mehr wird die Tätigkeit eines Gustav Werner38 in Reutlingen als Dienst innerer Mission im eigentlichen Sinne des Wortes anerkannt.

Solches Wirken der inneren Mission braucht nicht etwa immer Wohltätigkeit im engeren Sinne zu sein. Wenn sie z. B. Herbergen zur Heimat mit Arbeitsnachweis ins Leben ruft oder zum Bau von Arbeiterwohnungen Genossenschaften bildet,39 so sind das nicht sowohl Werke der Armenpflege als vielmehr Mittel, dem einzelnen und der Familie dazu zu verhelfen, daß ihr sittliches Leben vor Schädigung bewahrt und gehoben werde. Unmöglich kann sich also die innere Mission mit einer bloß religiösen Einwirkung im engeren Sinne begnügen. Indem sie aber auf alle Notstände sittlichen und gesellschaftlichen Lebens Blick und Tätigkeit richtet, hat sie ihre Schranke ─ nicht etwa an den Festsetzungen einer kirchlichen, staatlichen oder sozialen Partei, sondern vielmehr einzig an den Lehr- und Lebensbestimmungen der evangelischen Kirche. In der evangelischen Kirche hat sie Grund und Ziel. Sie stammt und wird geübt und getragen von den lebendigen Gliedern der Kirche und zielt ab auf Belebung der Kirche in allen ihren Gliedern. Nicht umsonst hat sie bisher auf die freilassende Macht, welche der evangelischen Kirche innewohnt, vertraut. Als eine freie hat sie der Kirche gedient.40 Nicht an Amt und Stand in der Kirche gebunden, sondern nur an den Herrn und sein Wort will sie alle Persönlichkeiten und Kräfte der Gemeinde befreien und entbinden helfen zum Dienste evangelischer Liebe. Berufene Träger aller Interessen und Arbeiten der inneren Mission sind darum die kirchlichen Organe, vor allem die Geistlichen und Gemeindekirchenräte (Presbyterien), sodann die berufsmäßigen Arbeiter der inneren Mission, im selben Maße aber alle lebendigen Glieder der Gemeinde, welchen durch das Evangelium der [ Druckseite 358 ] Blick für die Gesundheit der sittlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse geläutert und geschärft ist.

Die innere Mission der evangelischen Kirche sieht in dem Diener der Kirche, vor allem im Geistlichen, den ersten und berufensten Träger der innern Missionsarbeit. Es ist nicht zu bezweifeln, daß das Maß und die Kraft, mit der der Geistliche innere Missionsarbeit tut, auch auf den durchschlagenden Erfolg seiner Predigttätigkeit einwirken wird. Es ist unmöglich, daß er, wenn er wirklich in und mit seiner Gemeinde lebt, nicht allen den besonderen zeitlichen und örtlichen Erscheinungen gegenüber das Wesen des Besitzes und der Arbeit, das Verhältnis der Stände zueinander, die besonderen Aufgaben und Gefahren jedes Standes mit dem Worte Gottes beleuchte. Dennoch aber muß hier nicht nur vor Übermaß und vor den berüchtigten „Affinitäten“ gewarnt werden, sondern es ist auch prinzipiell festzuhalten, daß das Zentrum evangelischer Heilsverkündigung, je tiefer gefaßt, je völliger erlebt und je lebensvoller gelehrt, heute wie vor 300 und vor 1800 Jahren die Verheißung hat, auch für die Hebung sozialer Schwierigkeiten die Herzen am sichersten zu bereiten. Der Apostel Paulus und Luther sind uns da die rechten Wegweiser. Gegenüber der so oft erhobenen Forderung, „den Jakobusbrief müsse man heutzutage vor allem treiben“41, bleibe ich dabei: ja, den auch, den Römerbrief aber mehr. Wer seine Gemeinde kennt, muß auch zugestehen, daß gerade „über den Quellpunkt unseres kirchlichen und christlichen Daseins, über den goldenen Artikel der stehenden und fallenden Kirche, über die Rechtfertigung durch den Glauben, der größte Teil evangelisch sich Nennender heutzutage leider in die trostloseste Unwissenheit geraten ist“42. Die sieben Jahre, die ich in Altendorf, in derjenigen Gemeinde gestanden habe, welche wohl von allen deutschen evangelischen Gemeinden am ausschließlichsten Arbeitergemeinde ist,43 ist es mir aus dem Arbeiterstand bezeugt worden, daß man mir für meine Predigt darum besonders dankbar sei, weil ich gleichmäßig den ganzen Rat Gottes zur Seligkeit verkündigt und nicht, wie man von auswärts bisweilen voraussetzte oder mahnte, Arbeiterfragen oder soziale Probleme systematisch behandelt habe. Wer Seelsorge übt, dem ergibt sich die Beleuchtung der jeweiligen Zeit- und Standesfragen durch das Wort Gottes von selbst.

Nationalökonomie zu studieren kann so wenig dem Geistlichen als Pflicht auferlegt werden wie Rechts- oder Geschichts- oder andere Wissenschaften als Fachstudium. Wenn aber z. B. Wilhelm Roscher44 seine nationalökonomischen Schriften als „Lesebücher für Geschäftsmänner und Studierende“ bezeichnet, so geht daraus hervor, daß sie auch dem Geistlichen den Blick in die Erwerbs- und Lebensverhältnisse seiner Gemeindeglieder schärfen und üben können, ohne Fachstudium zu erfordern. Sie und z. B. Adolph Wagners Volkswirtschaftslehre45 oder Schönbergs Handbuch [ Druckseite 359 ] der politischen Ökonomie46 und manches andere aus diesem Gebiet mit Nutzen lesen heißt noch nicht: Nationalökonomie studieren. Unbedingte Pflicht des Geistlichen, welcher mit industriellen Verhältnissen zu tun hat, ist es aber, mit der betreffenden Gesetzgebung genau bekannt zu sein. Vor allem muß er auch die Berichte der staatlichen Fabrikaufsichtsbeamten studieren.47 Sie sind Fundgruben der Volkskunde in sittlicher und sozialer Hinsicht. Da der Geistliche vieles von dem, was der Fabrikeninspektor zum Gegenstand seiner Erhebungen zu machen hat, auch sieht, und zwar der eine von beiden dies, der andere jenes eingehender und richtiger, jeder von beiden aber die Dinge nur von seiner Seite sieht und erkennt, so sollten beide persönliche Fühlung suchen und ihre Anschauungen austauschen.

In der Kenntnis der Armen- und Waisengesetze, der Verordnungen über Sonntagsruhe, Lustbarkeiten, Kostgängerwesen u. ä. sollte der Geistliche von keinem Mitglied, etwa der bürgerlichen Armenverwaltung, der er angehört, übertroffen werden. Er muß in derartigen Korporationen die Autorität sein, welche über die Anstalten und Vereine der inneren Mission, welche ja in der Armen-, Kranken- und Waisenpflege so bedeutsam eingreifen, sicherste Auskunft zu geben vermag, möglichst aus persönlicher Anschauung (die nicht nur am Jahresfest der bezüglichen Anstalt, sondern während ihres Werktagslebens gewonnen sei!).

Der Schwerpunkt der inneren Missionstätigkeit des Geistlichen liegt in der Seelsorge. Hier allen Ständen mit gleicher Treue zu dienen ist eine Aufgabe, die ernsteste Selbstzucht erfordert. Dem Arbeiterstand im persönlichen Verkehr nahezutreten, sein Vertrauen zu gewinnen und so auch in allen sozialen Fragen seine Anschauungen zu hören und zu klären, ist nicht der schwerste Teil unserer Arbeit. Schwerer ist’s, den sogenannten besitzenden Klassen wirklich nahezukommen. Sie sind durchweg die unkirchlicheren und entbehren darum vielmehr des gemeinsamen Bodens, der uns mit dem noch an kirchlicher Sitte, an Gottesdienst und Gotteswort hängenden Arbeiterstand verbindet. Wenn ich daran denke, wie häufig unsereiner berufen ist, als Anwalt und Fürsprecher des Arbeiters den Arbeitgeber an seine Pflicht zu mahnen, klagend und bittend, ja auch warnend und strafend ─ was wir ja um des sozialen Friedens willen zum wenigsten auf der Kanzel, sondern vielmehr unter vier Augen können und dürfen, so kann ich schwer begreifen, wie die Gefahr, daß wir „Kapitalistenpastöre“ in dem furchtbaren Sinne des Wortes würden, überhaupt möglich sein kann. Und doch, sie wird von allen Seiten bezeugt. Seien wir Kapitalistenpastöre in dem Sinne, daß wir allen der Kirche feindseligen oder in Gleichgültigkeit entfremdeten Kapitalisten unserer Gemeinde unermüdlich nahezutreten wüßten in der Ausrüstung des vollen Reichtums Christi rückhaltlos und furchtlos. Gibt’s eine schwerere, eine notwendigere Aufgabe? Daß wir auf die humane Behandlung der Arbeiter und die Förderung von Wohlfahrtseinrichtungen bittend und ermutigend hinweisen, die humanitären Leistungen anerkennen in ihrem Segen, zugleich aber den Arbeitgebern bezeugen, daß, wenn die Arbeiter zu Fleiß und Sparsamkeit, zu Genügsamkeit und Mäßigkeit ermahnt werden sollen, das nur aufgrund christlicher Motive möglich sei, welche dem Besitzenden ebenso verbindlich sind wie dem Besitzlosen; das fordert stete Selbstverleugnung, steten Kampf mit [ Druckseite 360 ] dem eigenen Ich. Es wird schon viel gewonnen sein, wenn es gelingt, bei den der Kirche entfremdeten Arbeitgebern Anknüpfungspunkte zu finden, wie sie sich uns aus dem Verkehr mit dem Arbeiterstand und der Vertretung seiner Wünsche und Bedürfnisse ergeben. So wird die Stellung des Geistlichen eine sozialvermittelnde und versöhnende. Die Erfahrung zeigt übrigens, daß ein im Glauben unternommener Versuch in dieser Richtung meist mehr Willigkeit und Verständnis findet, als zuerst vermutet werden durfte. Möchten wir denn, wie Stoecker von sich bekennt, „in der Angst um unser Volk“48, in gleicher Liebe zu allen Gliedern und Ständen unserer Gemeinde als Botschafter und Diakonen an Christi statt durch das Werk der inneren Mission der Gemeinde den sozialen Frieden erwerben und erhalten helfen! [...]

Korreferent: Kommerzienrat Conze49 aus Langenberg (Rheinprovinz).

Meine Herren! Als ich auf den Wunsch des geehrten Zentralausschusses das Korreferat über das schwierige Thema: „Die Aufgabe der innern Mission der evangelischen Kirche in den sozialen Kämpfen der Gegenwart“ übernahm, habe ich meine Aufgabe nicht darin gefunden, kontradiktorisch die Behauptungen meines Freundes Nelle50 zu beleuchten, vielmehr glaubte ich die Absicht des verehrlichen Zentralausschusses zu erfüllen, wenn ich zu dem Vortrag des Herrn Referenten, mit dessen Anschauungen und Schlußfolgerungen ich völlig übereinstimme, einige Randbemerkungen mache, die ich aus einer 30jährigen Erfahrung im öffentlichen Leben und im großen gewerblichen Geschäftsverkehr schöpfe, und die geeignet sein könnten, neben der wissenschaftlichen Abstraktion des Herrn Referenten die greifbare Wirklichkeit der bezüglichen Verhältnisse vor Augen zu führen. Ich erhebe für diese Anmerkungen nicht den Anspruch, daß sie aus einer Kenntnis der sozialen Verhältnisse unseres gesamten Vaterlandes hervorgegangen sind; der Horizont des einzelnen bleibt stets ein beschränkter; ich habe mich bemüht, möglichst das allgemeingültige herauszuziehen, werde aber für jede Belehrung, wo ich einseitig, also nicht zutreffend schildern sollte, dankbar sein.

Das Wort: Sozialreform, Lösung der sozialen Frage, ist in jedermanns Mund und wird gemeiniglich gebraucht, als ob seine Bedeutung feststehe und als ob es sich um eine Sache handle, über deren Wesenheit keine Meinungsverschiedenheit obwalte. Mir scheint, daß in diesem Falle das Dichterwort zutrifft: Wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein;51 oder in unserem Falle, es stellt sich zur unrechten Zeit ein.

Was ist Sozialreform? Fragen wir lieber: Was stellen sich die Leute, die so leichthin davon reden, unter Lösung der sozialen Frage vor?

Alle sind darin einig: unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse kranken an dem Mangel eines gleichmäßig in allen Teilen pulsierenden Lebens. Ein [ Druckseite 361 ] fieberhafter Zustand hat den ganzen Organismus ergriffen; gelingt es nicht, das Fieber zu bannen, so gehen wir zugrunde. Drohend redet die Sozialdemokratie vom dröhnenden Schritt der herannahenden Arbeiterbataillone, welche diese niederträchtige Kapitalwirtschaft zerschlagen werden, und ängstlich erblicken die friedlichen Bürger in jeder Unbotmäßigkeit einen Anfang des zu erwartenden allgemeinen Umsturzes.

Merkwürdigerweise sucht man fast immer den Herd der Unzufriedenheit nur in den Kreisen der Lohnarbeiter, und die staatlichen Reformpläne haben sich nur auf diese erstreckt. Ich behaupte aber, daß der Ruf nach Sozialreform nicht minder aus andern Kreisen laut wird, die zwar nicht so zahlreich wie jene, aber durch höhere geistige Bildung ausgezeichnet nicht minder wichtig sind. Unter den Angestellten, Beamten, Lehrern, kleinen Kaufleuten und Handwerkern herrscht Unzufriedenheit mit ihrer Lage und befestigt sich mehr und mehr die Meinung, eine Reform der sozialen Verhältnisse werde alles beseitigen, was sie drückt, und ihnen geben, was sie heute entbehren. Die Lösung der sozialen Frage soll das Schibboleth sein, wodurch dem Menschengeschlecht ein Zeitalter des Wohlbefindens in Frieden erschlossen wird. Was alles glaubt man von der Sozialreform erhoffen und durch sie erstreben zu dürfen? Wohlwollende, uneigennützige Fabrikherren, treue, fleißige und in ihrem Familienleben befriedigte Arbeiter, für jede amtliche Stellung ein der Wichtigkeit des Amtes angemessenes Gehalt; im kaufmännischen Wettbewerb ein wohlabgewogenes Gleichmaß zwischen Angebot und Nachfrage, redliche Wertschätzung der Waren und für jeden Menschen eine Stellung, wie er sie nach seinen Fähigkeiten glaubt fordern zu dürfen!!

Die Sozialdemokratie hat für die Verwirklichung dieses Ideals wenigstens eine Maschinerie geplant. Die genossenschaftliche Produktionsweise, ausgerüstet mit Staatsmitteln, soll nach Beseitigung der Kapitalwirtschaft (Unternehmer) das Wunder des Friedens auf Erden bewirken.

Aber meine Herren! Alle, die an das sozialdemokratische Rezept nicht glauben, mit welchen Mitteln wollen sie jene köstlichen Reformen herbeiführen? In welcher Weise halten sie es für möglich, lieblosen Eigennutz und rücksichtslose Begehrlichkeit und Neid zu versöhnen oder aus der Welt zu schaffen? Seit der Zeit, da Kain gegen Abel52 aufbegehrte und Jakob seinen Bruder Esau53 übervorteilte, ist die menschliche Natur dieselbe geblieben und wird auch dieselbe bleiben. Eigenwille und Selbstsucht sind nicht zu vertilgen; wir wollen uns aber zum Trost vorhalten, daß, wie Regen und Sonnenschein nicht aufhören sollen, neben Haß und Eigennutz Gottes Geist unaufhörlich selbstverleugnende Liebe pflanzt.

Ich habe schon einmal aussprechen hören, es sei zu bedauern, daß die Milliarden der französischen Kriegskontribution nicht zur Lösung der sozialen Frage verwendet seien; als ob sich das mit Kapital machen ließe!

Wäre Geld in Gestalt von Arbeitsverdienst oder als Besitz der entscheidende Faktor zur Befriedigung der Menschen, dann würde die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre den Frieden gebracht haben. Die Lohnsätze der Arbeiter in Deutschland haben sich seit 30 Jahren mindestens verdoppelt, und dabei lasse ich noch außer acht, daß der maschinelle Betrieb eine große Zahl von Arbeitsgelegenheiten geschaffen hat, in denen eine zuverlässige Leistung, z. B. die Wartung einer Dampfmaschine, hoch bezahlt wird. Berücksichtigen Sie nun, daß die Lebensmittel, [ Druckseite 362 ] Kleidung, kurz, alle Lebensbedürfnisse mit Ausnahme der Wohnung, welche heute mehr kostet, nicht teurer sind wie damals, so werden Sie anerkennen müssen, daß die wirtschaftliche Lage des Arbeiters sich aufs vorteilhafteste verändert hat, soweit Geld dabei in Betracht kommt, und die günstige Entwicklung der Lohnverhältnisse ist noch nicht abgeschlossen.

Auch die Handwerker haben über Mangel an Arbeitsgelegenheit nicht zu klagen. Tüchtige Handwerker finde ich allerorten lohnend beschäftigt; mit Handwerkern in großen Städten würde mancher Fabrikant gern tauschen. In den kleineren Städten gehen die Klagen, die man zu hören bekommt, nur dahin, daß die verwöhnten Gesellen nicht aus den großen amüsanten Städten herauszukriegen seien und daß es den Meistern an Gehilfen fehle. Der bei den Handwerksgesellen noch florierende blaue Montag ist mir auch ein Beweis, daß im Handwerk leicht und reichlich verdient wird.

Übler steht es mit dem Einkommen zahlreicher Beamten, das nicht im gleichen Maße gestiegen ist und heute in einem ungünstigeren Verhältnis zum Arbeitsverdienst eines Taglöhners steht wie früher.

Hier werden die Verhältnisse aus sich selbst Wandel schaffen. Der Lehrermangel vor 20 Jahren hat die Gehälter sofort aufgebessert und ähnliches wird überall eintreten, wo die schlechtdotierte Stelle nicht mehr begehrenswert erscheint. Nichtsdestoweniger bin ich der Ansicht, daß bezüglich der Amtsgehälter die betreffenden Obern es nicht bloß der notwendigen Entwicklung überlassen dürfen, sondern die Pflicht haben, durch Gewährung eines genügenden Gehaltes Unmut und Bitterkeit zu verscheuchen.

Man führt die Umgestaltung unserer sozialen Verhältnisse auf die Einführung der Maschine und des freien Arbeitsvertrages zurück. Das ist eine richtige Bemerkung. Dagegen beruht die weitverbreitete Ansicht, daß die Maschine den Menschen selbst zur Maschine und außerdem sehr viele Hände überflüssig mache, auf völlig unrichtiger Anschauung. Es gibt gewiß eine Menge Arbeiter, die mit Hilfe der Maschine eine sehr einförmige Arbeit verrichten, und eine solche Tätigkeit ist auf die Dauer geisttötend, aber einmal wird es selten vorkommen, daß ein Arbeiter eine solche Arbeit sein Leben lang besorgt, zum andern ist zu beachten, daß es zu allen Zeiten höchst einförmige Beschäftigungen gegeben hat; es fragt sich nur: Wie groß ist der Prozentsatz der also Beschäftigten im Vergleich mit solchen Arbeitern, deren Intelligenz durch die Maschine gehoben wird? Im Blick auf das große Ganze muß man sagen, die Maschine weckt die Intelligenz. Z. B. in der Weberei: Der Weber, welcher 1 oder gar 2 Maschinenwebstühle bedient, muß eine größere körperliche Gewandtheit und geistige Spannkraft entwickeln wie der alte Weber, der auf seinem Webstuhl sitzend vom Morgen bis zum Abend sein Schiffchen hin und her treibt; der Bergmann, der heute mit Dynamit arbeitet, hat seinen Kopf mehr zu gebrauchen wie vordem, als er nur mit Schlägel und Eisen schaffte, und strengt sich dabei körperlich weniger an. Selbst die Näherin ist an der Nähmaschine geistig regsamer geworden, und wie vielen Tausenden ist die geisttötende Arbeit des Dreschens durch die Dreschmaschine abgenommen und erspart worden.

Wie würde es möglich sein, unsere 47 Millionen in Deutschland zu ernähren, wenn nicht die unaufhörlich sich weiter entwickelnde Kette von Maschinen Millionen Menschen Beschäftigung und Brot gäbe? Es geht hierbei genau wie bei Einführung der Eisenbahnen. Die Lokomotive ersetzt 100 Pferde, und dennoch beschäftigen wir heute viel mehr Pferde wie zur Zeit der Lastwagen, und n[ota] b[ene], der Preis der Pferde ist mindestens doppelt so hoch wie damals. Die Maschine verdrängt allerdings im einzelnen Falle zunächst die Handarbeit, schafft sich dann aber einen [ Druckseite 363 ] so erweiterten Wirkungskreis, daß sie mehr Hände in Anspruch nimmt wie vormals die bloße Handarbeit. Nehmen Sie als Beispiel die Nähmaschine. Wie viel Zeit und Mühe erspart die Maschine, und doch gibt’s heute in Deutschland eine weit größere Zahl Näherinnen wie früher; ganze Industrien haben sich auf die Nähmaschinen aufgebaut. Betrachten Sie nur die Kleidung Ihrer Frauen und Töchter; die Legion von Falten und Besätzen wäre unerschwinglich ohne Nähmaschine und deshalb nicht vorhanden.

Welche unabsehbare Reihe von Gewerben beruht erst auf der Maschine, welche die Pumpen unserer Bergwerke bewegt, vermöge deren wir trockenen Fußes 1 Kilometer unter die Erdoberfläche hinabsteigen, um die schwarze Seele aller Maschinen, die Kohle, heraufzuholen.

Die Einführung der Maschinen und des damit verbundenen Fabrikbetriebes hat in wirtschaftlicher Beziehung segensreich gewirkt; sie bilden aber auch in sittlicher, gesellschaftlicher Beziehung neben den oft hervorgehobenen Schattenseiten Lichtseiten, die um so heller hervortreten, wenn man daneben die Hausindustrie aufmerksam betrachtet.

In der Hausindustrie und vielfach auch im Handwerk herrscht ein bedenklicher Schlendrian und auf der anderen Seite oft eine ebenso bedenkliche Überanstrengung. In keiner Fabrik werden jugendliche Arbeiter nur halb so angestrengt wie viele Kinder in der Hausindustrie, und jenseits des Schulzwanges hat die Staatsregierung keine Mittel der Einwirkung zugunsten dieser Kinder. Wesentlich günstiger liegen die Verhältnisse bei der Fabriktätigkeit. Der Arbeiter ist gezwungen, die Arbeit zur bestimmten Zeit zu beginnen und zu beendigen; er arbeitet in luftigen Räumen und bezüglich der jugendlichen Arbeiter ergibt das Gesetz das Maß ihrer Anspannung. Ein gleichmäßig fortlaufendes Einkommen gestattet dem Arbeiter, sich für seine Bedürfnisse einzurichten; ein Umstand von großer Bedeutung für das Familienleben. Sie werden sagen, m[eine] H[erren], daß ich zu günstig schildere und daß die Fabrikverhältnisse an vielen Orten diesem Bild nicht entsprechen; dies ist ein Punkt, wo ich nur nach dem urteilen kann, was ich selbst gesehen habe. Allerdings sind viele der älteren Fabriken weder nach ihrer äußeren noch nach ihren innerer Einrichtung imstande, den Arbeiter körperlich und geistig zu fördern, aber seit 20 Jahren hat sich vieles gebessert, und insbesondere seit die Staatsregierung ihre jahrzehntelang versäumte Pflicht durch die Gesetzgebung auf diesem Gebiet zu erfüllen begonnen hat, gestalten sich die Fabrikräume zu Aufenthaltsorten, die den engen eigenen Wohnungen weit vorzuziehen sind.

Man hat sich gewöhnt, diese Entwicklung unserer Produktionsweise, den Übergang zur Großindustrie, als ein Unglück anzusehen, wenn auch als ein unvermeidliches. Einer solchen, m[eines] E[rachtens] unberechtigten Meinung gegenüber, glaubte ich die Lichtseiten der neuen Verhältnisse hervorheben zu sollen und wage die Ansicht auszusprechen, daß diese Entwicklung eine von Gott gewollte, notwendige und wohltätige ist, wie sehr auch im einzelnen der menschliche Eigenwille die heilsame Absicht verdunkelt hat.

Nicht die Maschine anstelle der Handarbeit, nicht die Fabrik anstelle der Hausindustrie sind an sich für das Volksleben verderblich; im Gegenteil, was wir an größeren, allen Schichten des Volkes zugute kommenden Bequemlichkeiten des täglichen Lebens genießen, ist die Frucht dieser Entwicklung. Die Mißstände, die Gefahr für die menschliche Gesellschaft, haben ihren Grund in dem Umstand, daß wir uns nicht den neuen Verhältnissen gemäß gesellschaftlich eingerichtet haben. Aus dieser Versäumnis [ Druckseite 364 ] ist das, was man „soziale Frage“ nennt, erwachsen, und die Herstellung der angemessenen Lebensbedingungen ist, wenn ich so sagen darf, die Lösung derselben. Sie ist einfacherer Art, wie man gemeiniglich glaubt; man nimmt die Sache viel zu tragisch!

Unsere gesellschaftlichen Zustände sind an manchen Stellen krank; aber Gott sei Dank pulsiert in dem Volkskörper noch gesundes Leben, und so ernst auch manche Schäden sind, ich habe das feste Vertrauen, unser deutsches Volk, sagen wir lieber unser germanischer Stamm, werde die Schäden mit Gottes Hilfe ausheilen.

Ich sprach von den Versäumnissen in der Neugestaltung unserer wirtschaftlichen und insbesondere unserer gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie beziehen sich alle auf einen Punkt: Anhäufung der Volksmassen! Die Maschine und auch der freie Arbeitsvertrag würden die sozialen Zustände niemals in solcher Weise, wie wir es vor Augen sehen, umgestaltet haben, wenn nicht unter den Maschinen auch solche wären, welche den Verkehr der Menschen untereinander derart umwandelten, daß man im Besitz von Eisenbahnen, Telegraphen, Telefonen54 sagen kann: Ganz Deutschland ist ein Dorf!

Man hat 40, 50 Jahre ruhig oder doch fast untätig zugesehen, wie sich großartige Verschiebungen in der Struktur des Volkes vollzogen und braucht sich deshalb nicht zu wundern, wenn es im Staatsgebäude kracht.

Es ist eine schmerzliche, aber nicht abzuleugnende Tatsache, daß sich die nichtsnutzigen Burschen leichter zusammenfinden wie die braven und daß die Anhäufung der Volksmassen in den großen Städten, die jetzt fast sämtlich auch Zentren der Großindustrie sind, eine potenzierte Steigerung der Leidenschaften zur Folge hat, welche das Leben des einzelnen wie der Familie zerrütten. In diesen Tausenden und Zehntausenden verschwindet der einzelne. Das Wesen der Kleinstadt bringt es mit sich, daß jeder jeden kennt und in diesem kleinen Umstand liegt ein wunderbarer Schutz. In der Großstadt kennt man kaum seinen Nachbarn, und der einzelne ist unter Hunderttausenden verlassen wie in der Wüste. Ich brauche nicht das wirtschaftliche und sittliche Elend dieser Sammelplätze zu schildern, es ist bekannt genug. Die Hypertrophie einzelner Teile erzeugte diese Eiterbeulen und der Krankheitsstoff verbreitete sich vermöge der neuen Verkehrsverhältnisse durch den ganzen Körper unseres Volkes. Längst ist die Krankheit und die drohende Gefahr erkannt, und es ist ein Ruhm unserer evangelischen Kirche, daß aus ihren Kreisen heraus zuerst die Notwendigkeit der Abhilfe laut gepredigt wurde; aber was die innere Mission seit 40 Jahren unternahm, war doch nur ein kleines, auf einzelne Schäden gerichtetes Werk der Barmherzigkeit.

Abhilfe konnte nur durch die Macht geschafft werden, der die Regelung unserer bürgerlichen Verhältnisse obliegt.

Die Staatsregierung hatte, der liberalen Strömung folgend, nach und nach alle Bande gelöst, die den einzelnen Bürger in freier Verfügung über seine Person hinderten: Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Aufhebung des Kirchen- und Taufzwanges, alles wurde gewährt, nicht aber Schutz gegen den Mißbrauch dieser Freiheiten zum Schaden der Allgemeinheit. Die einzigen Schutzmittel gegen die Ungebundenheit waren Polizei und Armenverwaltung.

[ Druckseite 365 ]

Erst das riesige Anwachsen der Sozialdemokratie, wie es sich in den Wahlen zum Reichstag kundgab, und die entsetzlichen Attentate auf das Leben des Kaisers Wilhelm drängten die Regierung dahin, den neuen Verhältnissen durch die Gesetzgebung gerecht zu werden.

Die Verleihung des allgemeinen Stimmrechts ist von konservativer Seite stets und in neuester Zeit auch von liberaler Seite getadelt worden; es war ein kühner Griff, mag ein Mißgriff gewesen sein; ich erblicke in diesem Ereignis ein Beispiel der Wege Gottes, wo auch unsere Torheit zu unserem Heil ausschlägt.55 Ohne die Wirkung des allgemeinen gleichen Stimmrechts wären wir in der sozialpolitischen Gesetzgebung nicht so weit, wie wir heute sind.

Die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 wird einen rühmlichen Merkstein für die Neugestaltung unserer gewerblichen und gesellschaftlichen Zustände bilden. Sehr bescheiden spricht sie von dem Beistand, den die Regierung den Hilfsbedürftigen oder, wie Fürst Bismarck sich später ausdrückte, „den wirtschaftlich Schwachen“ schulde,56 aber sie bezeichnet den Beginn einer neuen Ordnung. Wenn in den nun folgenden gesetzlichen Anordnungen zum Schutze der Arbeiter und durch die Unfallversicherung zunächst der Arbeitgeber zugunsten des Arbeiters verpflichtet wurde, so entstand in der Krankenversicherung, die hoffentlich bald in der Invaliden- und Altersversorgung ihren Abschluß finden wird, eine Schutzmaßregel für den Arbeiter gegen seine eigne Torheit mangelhafter Ökonomie. Denn bei Licht besehen ist jede gezwungene Kasseneinlage, gleichviel, ob die Kasse Krankenoder Invaliden- oder Sparkasse heiße, eine Bevormundung, es ist aber eine notwendige, und ich hebe diesen Charakter hervor, weil ich unverhohlen meine Meinung dahin ausspreche, daß die persönliche Ungebundenheit des Arbeitgebers sowohl wie des Arbeiters die Schäden, welche wir beklagen, hervorgerufen hat und deren Beseitigung allein möglich ist durch gesetzliche Auflagen, Einschränkungen, die dem lieblosen Eigennutz von oben und der zuchtlosen Begehrlichkeit von unten Zaum und Zügel anlegen. Wie bedeutend allein das Krankenkassengesetz wirtschaftlich eingegriffen hat, zeigen die Zahlen: in den Kassen sind 4 {1/2} Millionen Mitglieder, darunter 800 000 weibliche. Die Kassen nehmen ein 66 Millionen Mark und zahlen aus 52 Millionen, werden also imstande sein, binnen wenigen Jahren ihre Beiträge durch den angesammelten Reservefonds um {1/4} zu ermäßigen.

Behalten Sie nur fest im Auge, daß die segensreichen Einrichtungen Unfallversicherung, Kranken- und Invalidenversicherung nur möglich sind durch staatlichen Gesetzeszwang. Die oberste Regierungsgewalt hat allein die Macht und darum auch die Pflicht, die Normen gewerbedienstlicher Verhältnisse festzusetzen. Wie sie das Hasardspiel verbietet, soll sie auch das leichtsinnige Vergeuden und Ausbeuten menschlicher Arbeitskraft durch gesetzliche Bestimmungen verhindern. Wir stehen ohne Zweifel nicht am Ende der sozialpolitischen Gesetzgebung. Zwangssparkassen werden folgen und bereits beschäftigt sich die Regierung mit Vorschriften über die [ Druckseite 366 ] Zulässigkeit der Bewohnung.57 Gerade bezüglich der Wohnungen wäre eine Verpflichtung der Arbeitgeber sehr erwünscht, wenn auch schwierig zu formulieren, und würde von weittragender Heilkraft sein. Beiläufig gestatte ich mir zu bemerken, daß ich die gute Haltung der bergmännischen Bevölkerung im Rheinland und Westfalen, die große und rasche Ausdehnung der evangelischen Arbeitervereine in diesem Bezirk zum großen Teil dem Umstand zuschreibe, daß die Kohlenzechen Tausende von guten Wohnungen gebaut haben, wo die Arbeiter angenehm in Kolonien und nicht in täglich wachsenden Städten zusammengepfercht wohnen.

Deutschland hat vor allen andern Nationen begonnen, sich der Beweglichkeit unserer neuen Erwerbsverhältnisse entsprechend einzurichten. Aber werden alle diese Bestrebungen, die wirtschaftlich Schwachen gegen Gefährdung durch eigne oder fremde Willkür zu sichern, den Erfolg haben, die grollende Unzufriedenheit, welche von den untersten Schichten bis in die Kreise der Gebildeten hinauf gärt, zu beseitigen?

Ich sagte schon eingangs, daß sich in dem Verlangen nach Sozialreform Wünsche und Hoffnungen zusammenfinden, die gewiß unbefriedigt bleiben werden. Aber jene, für die jetzt so eifrig gesorgt wird, die Arbeiter, werden sie künftig und dauernd anerkennen, was die Regierung für die Verbesserung ihrer Lage getan? Wird in Erfüllung gehen, was Fürst Bismarck von dieser Fürsorge erhofft, nämlich: Werden die Arbeiter dauernd in Dankbarkeit dem Hause Hohenzollern verbunden bleiben?

Ich fürchte, diese Hoffnung wird sich nicht erfüllen und erinnern schmerzliche Erfahrungen nur an die des Heilandes bei der Heilung der Aussätzigen58: Sind ihrer nicht 10 gesund geworden, wo aber sind die 9? Dankbarkeit ist ein Bildungsprodukt, entwickelt sich im besten Falle zwischen Diener und Herrn bei enger persönlicher Berührung; Dankbarkeit in die Ferne und von einem unpersönlichen, jeder Einflüsterung zugänglichen Haufen Arbeiter halte ich für unmöglich, und eine darauf basierte Rechnung wird sich als falsch erweisen.

Wir haben gesehen, mit wie großem Erfolg die Einführung der Kornzölle zur Aufregung und zu einer feindseligen Stimmung der Arbeiter benutzt wurde; jede ähnliche Gelegenheit wird dasselbe Schauspiel liefern, solange die Arbeiter in geballten Massen den beneideten Bourgeois gegenüberstehen. Der Kernpunkt der Sozialreform liegt m. E. in der Aufgabe, diese in Mißmut und Mißtrauen zusammengeballten Zehntausende in zugängliche Häuflein zu teilen und durch berufene Leiter dieser kleinen Verbände auf ihre Einsicht einzuwirken.

Wellington59 sagte einmal: Wer aus dem Geschrei revolutionärer Volkshaufen etwas anderes heraushört wie den Ruf nach einem Herrn, versteht sich nicht auf die Volksstimme; und Taine60, der radikale Geschichtsschreiber des zeitgenössischen Frankreichs, sagt: Ein über die Form seiner Verfassung befragtes Volk kann im Notfall sagen, welche Form ihm gefällt, aber nicht, welcher Form es bedarf!

Die große Lohe unzufriedener Volksmassen ist nicht zu löschen, aber die einzelnen Brände, auseinandergerissen, sind nicht mehr verderblich, lassen sich vielleicht [ Druckseite 367 ] gar nützlich zur Erwärmung verwenden. Ich meine, die Sozialreform geschieht nicht durch wirtschaftliche Neubildungen und Anordnungen allein; sie sind die notwendige Voraussetzung; aber die Lösung der Aufgabe liegt in einer Neubefestigung und Neuordnung der Autorität. Der geschlossene große Haufen ist politischer Einsicht bar, verständigem Rat unzugänglich und deshalb unlenksam. Nur kleine Verbände lassen mit sich reden, und diese zu schaffen und ihnen die geeigneten Leiter zu geben, ist die innerste Aufgabe der Sozialreform. Was kann nun die innere Mission der evangelischen Kirche zur Lösung dieser Aufgabe tun?

Die katholische Kirche hat, äußerlich angesehen, bereits vieles in dieser Richtung geleistet, aber ihr ist nicht die bürgerliche Ordnung, sondern die kirchliche letzter Zweck. In zahlreichen Kongregationen, Sodalitäten und Vereinen teilt und sammelt sie ihre Schäflein, und an der Spitze aller Verbände muß laut Statut ein Geistlicher stehen. Welche Macht die römische Kirche mit diesem Apparat ausübt, sehen wir bei den politischen Wahlen, und manchem evangelischen Christen mag wohl schon der Wunsch aufgestiegen sein: Wenn doch unsere evangelische Kirche auch solche folgsame Söhne hätte!

Wir haben ja auch evangelische Arbeitervereine und freuen uns derselben; sie stehen aber zur Kirche in einem ganz andern Verhältnis wie ihre katholischen Kameraden, und die Gefahr, daß die Vereine von ehrgeizigen Führern mißbraucht werden könnten, ist bei den evangelischen Vereinen nicht ausgeschlossen.

Gott hat die evangelische Kirche auf andere Wege wie die von der katholischen Kirche betretenen gewiesen: Die katholische Kirche herrscht, die evangelische Kirche lehrt! Der Heiland hat zu seinen Jüngern gesagt: Ihr seid das Salz der Erde,61 nicht aber: Ihr seid die Regenten der Erde, und in seinen letzten Worten weist er sie an: Lehret alle Völker, nicht aber: Regieret alle Völker!62 Diesen Grundsätzen muß auch die Tätigkeit der inneren Mission der evangelischen Kirche entsprechen, um so mehr, da ihr ja die Organe fehlen, um einen unmittelbaren maßgebenden Einfluß zu üben.

Unser konsistoriales Kirchenregiment scheint mir zu einer Einwirkung auf die Gestaltung unserer sozialen Verhältnisse völlig unfähig. Man würde ihm mit Recht entgegenhalten: Kehre vor deiner eignen Tür! Solange Hunderttausende evangelische Christen allein in Berlin der geistlichen Pflege entbehren, ohne daß dem Oberkirchenrat darüber die Haare zu Berge stehen,63 darf unser Kirchenregiment sich nicht an den Splitter sozialer Mißstände wagen; und was wollen wir von der organisierten Kirche erwarten, wenn sie auf ihrem eigensten Gebiet, in der Frage der Sonntagsheiligung, 1 {1/2} Jahre braucht, um einen von der Generalsynode beschlossenen Hirtenbrief der Generalsuperintendenten vom Stapel laufen zu lassen?64

[ Druckseite 368 ]

In der katholischen Kirche liegt die ganze Aktion in der Hierarchie; unser Kirchenregiment ist nur das Kleid, welches die eigene Lebenswärme der christlichen Gemeinde zusammenhalten soll. Aus der Gemeinde muß die Tätigkeit der inneren Mission hervorgehen, und wie das geistliche Leben der Gemeinde durch den Pfarrer gepflegt wird, so ist er vornehmlich berufen, auch nach der Seite der inneren Mission hin lehrend und leitend voranzugehen.

Der Herr Referent hat diesen Punkt ausführlich behandelt; gestatten Sie mir, nur die Bemerkung hinzuzufügen, daß die neue Zeit auch an die Ausbildung der jungen Geistlichen neue und größere Anforderungen stellt. Wie es zur Bildung des Geistlichen gehört, daß er in unserer Literatur Bescheid wisse, so erachte ich es für ebenso dringend notwendig, daß er über die Erwerbsverhältnisse unseres Volkes, speziell seiner Heimat, unterrichtet sei. Übrigens halte ich die Gemeinde weniger wie die Kreissynode für den Ort, wo die Arbeit der inneren Mission in brüderlicher Gemeinschaft betrieben werden soll. Anfänge in dieser Richtung sind ja schon in mehreren Provinzen des preuB[ischen] Staates gemacht; aber alle diese Bestrebungen werden zunächst sich auf Werke der Barmherzigkeit richten, deren wir nicht entraten können, welche aber die eingangs geschilderte Gefahr einer Überwältigung unserer staatlichen Ordnung durch die zügellosen Massen nicht abwenden werden. Die evangelische Kirche hat noch eine andere, in den innersten Kern der Verhältnisse dringende Mission. Sie kann nicht in gehorsame Kongregationen die Massen teilen ─ aber sie kann, sie soll und sie muß die Männer erziehen, welche fähig sind und sich in ihrem Gewissen verpflichtet fühlen, den kleineren oder größeren Gemeinschaften, denen sie vorstehen, gerechte aber nicht minder auch feste Führer zu sein.

Unter diesen Gemeinschaften verstehe ich weniger die Vereine, deren Bedeutung für die Teilung der Massen ich nicht verkenne; ich verstehe darunter in erster Linie die Fabriken selbst. Ich erblicke in der Tatsache, daß die industriellen Werke mehr an Umfang wie an Zahl zunehmen, einen solche Gruppenbildung begünstigenden Umstand. Ist nicht eine Fabrik wie z. B. die Kruppsche ein kleiner Staat für sich, und welcher Einfluß ist dem Manne möglich, der als Leiter des Ganzen sich erfüllt mit der verantwortungsvollen Pflicht des Regenten! Solche Männer soll die evangelische Kirche bilden und erziehen helfen. Sie hat von Gott als Werkzeug nur das Wort empfangen ─ das genügt. Laut und immer aufs neue soll sie ihre Stimme erheben und lehren, daß wir nur Haushalter Gottes sind. Zur Treue des Haushalters gehört es aber auch, daß er im Haushalt die natürliche Ordnung, die ihm anvertraute gebietende Stellung aufrechterhält. Ich will mich bestimmter ausdrücken: Die Fabrikherren sollen die Leitung der Fabrik und der darin beschäftigten Arbeiter nicht bloß als ein Recht, sondern ebensosehr als eine Pflicht ansehen. Soll das Unternehmen gedeihen, so darf die Superiorität des Leiters nie in Frage gestellt werden. Ich sage, er hat die Pflicht, sie zu erhalten. Wer sich von seinen Untergebenen, die sich zunächst ja alle freiwillig ihm unterstellt haben, Vorschriften machen läßt (Strikes), hat entweder ein böses Gewissen oder sorgt mit Verletzung der Pflicht sehr kurzsichtig für seinen Geldbeutel. Die neuen gesetzlichen Vorschriften, denen hoffentlich noch manche folgen werden, und die Bestrebungen der inneren Mission haben in den sozialen Kämpfen unserer Zeit das gemeinsame Ziel, den berufenen Leitern unserer gewerblichen Gemeinwesen ein gutes Gewissen zu geben, damit sie unentwegt die Zügel festhalten, die ihnen bis zur künftigen Verantwortung in die Hand gegeben sind.

Ich fasse das, was ich Ihnen vorführen wollte, kurz dahin zusammen:

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In die begonnene und fortschreitende Sozialreform werden Hoffnungen hineingetragen, die sich nicht erfüllen lassen. Die zu beseitigenden Schäden haben ihren Grund in der neugeschaffenen Beweglichkeit und der dadurch herbeigeführten ungleichmäßigen Verteilung resp. Anhäufung unserer Bevölkerung. Die Gesetzgebung muß für die neuen Lebens- und Erwerbsverhältnisse neue, die Willkür des einzelnen einschränkende Verpflichtungen normieren, aber die Lebensfähigkeit unseres Staatsorganismus hängt von einer Licht und Luft in die dumpfen Volksmassen einlassenden Gruppenbildung ab. Die Aufgabe der inneren Mission unserer evangelischen Kirche ist es, die Vorsteher der Erwerbsgemeinschaften mit der Erkenntnis ihrer Pflicht als Haushalter Gottes, die sowohl im Nehmen wie im Geben besteht, zu durchdringen. Vom Standpunkt der inneren Mission aus angesehen, heißt die Lösung des sozialen Rätsels: Männer, nicht Maßregeln! [...]

Hofprediger Stoecker aus Berlin.

Verehrte Anwesende! Ich will mich mitten hineinstellen in das Thema, mitten hinein in die sozialen Kämpfe, von denen es redet. Ich gehe davon aus, daß wir im Deutschen Reich nahezu eine Million Menschen haben, welche allem Bestehenden, dem Thron wie dem Altar, den Fabriken wie der Werkstatt, den Krieg erklären, einen Krieg, in welchem die Abstimmungen bei den Reichstagswahlen oder die Streiks nur einzelne Gefechte sind. Die beiden Herren Referenten haben besonders die Lichtseiten der gewerblichen Entwicklung betont; das meiste von dem, was sie gesagt, ist derart, daß ich es mir aneignen kann; ich möchte aber nun auch auf die Schwierigkeiten aufmerksam machen, auf das Dunkel, das trotz der Lichtseiten vorhanden ist. Gewiß, die Arbeiter stehen heute doppelt so gut als vor 100 Jahren; man hat gesagt, ein heutiger Fabrikarbeiter habe es besser als der vornehmste Ritter im Mittelalter. Trotzdem sind auch die gutgestellten Arbeiter Umsturzmänner; trotzdem sind auch diejenigen Arbeiter, die einen wohlwollenden Arbeitgeber haben, der alles erfüllt, was der Herr Korreferent gesagt hat, gleichfalls Sozialdemokraten und Umsturzmänner. Darin, meine ich, liegt das Problem. Wir haben eine ungeheure Masse von Unzufriedenen ─ es sind nicht bloß Arbeiter, die die sozialdemokratische Partei bilden ─, und da ist es vor allen Dingen notwendig zu wissen: Woher stammt diese Unzufriedenheit? Das werden wir von vornherein zugeben müssen, daß die gewaltige Bewegung der Industrie manche Arbeiterklasse auf den Sand gesetzt und sie in trostlose Verhältnisse hineingeschleudert hat. Es ist z. B. Tatsache, daß Weberfamilien im sächsischen und auch im schlesischen Erzgebirge ─ Mann, Weib und Kinder zusammen ─ es nicht über ein Jahresverdienst von 300 Mark bringen. Und wenn Mäntelnäherinnen in Berlin ─ auch das ist vielfach konstatiert ─ 75 Pf. bis 1,25 M. verdienen, so sind das Notstände, mit denen die Unzufriedenheit der gesamten Arbeiterwelt immer von neuem geschürt wird. Auch diejenigen, die es besser haben, weisen auf solche Dinge hin und sagen: Da sehr ihr, wohin die moderne Wirtschaftsordnung es gebracht! Nun hat sich ─ darin hat der Herr Korreferent vollkommen recht ─ dieser Massen eine Stimmung bemächtigt, die nicht so sehr aus den industriellen Verhältnissen selbst folgt als vielmehr daraus, daß es an den sittlichreligiösen Grundbedingungen fehlt, die überall vorhanden sein müssen, aber besonders da, wo viele Menschen zusammen sind. Ich glaube, der Notstand ist, daß gegenüber der reißend und riesig sich entwickelnden Industrie, gegenüber dem gewaltig aufblühenden Verkehrsleben die Pflege der sittlich-religiösen Interessen sowohl seitens der staatlichen Faktoren wie innerhalb der Kirche zurückgeblieben ist und daß wir gar nicht sehen, wie wir diesen Zwischenraum je einholen können. Die Massen, [ Druckseite 370 ] welche die Industrie zusammengeführt hat, sind entkirchlicht, entchristlicht. Ihr Unchristentum, ihr Haß gegen die Kirche ist nicht in ihnen selbst entstanden, sie haben das von anderer Seite herübergenommen, von der politischen Demokratie, von einem seichten Liberalismus, der in der Presse wie in der Propaganda die Grundlagen der sittlich-religiösen Welt erschüttert hat. Aber wie sie nun einmal dastehen, sind diese Arbeiterbataillone dermaßen losgelöst von Gott und göttlichen Dingen, daß einer, der sie nicht kennt, es sich gar nicht vorstellen kann. Wenn ich an das Flugblatt denke, das unmittelbar nach dem Tode Kaiser Wilhelms in die Bevölkerung hineingeschleudert wurde und mit den heiligsten Empfindungen der Nation nicht ein Spiel, sondern geradezu Entsetzen trieb65 ─ da muß ich sagen, daß Menschen, die solche Schändlichkeiten herausgeben und mit Sicherheit darauf rechnen, daß dieselben gelesen, ja mit Freuden entgegengenommen werden, sittlich und religiös völlig zerrüttet sind und so behandelt werden müssen. Auch darin gebe ich dem Herrn Korreferenten Recht: Es fehlt an der bürgerlichen wie an der kirchlichen Organisation. Man hat die Massen zusammenkommen lassen und hat sie nicht organisiert; man hat Gemeinden von 100[000] ─ 150 000 Seelen, Gemeinden von Sozialdemokraten, aufwachsen lassen, ohne etwas für sie zu tun. Und ich möchte daher die Schuld nicht allein in den Konsistorien und in den Kirchenregimenten suchen, sondern besonders in den Staatsregierungen, welche der Frage: Wie werden die Volksmassen sittlich-religiös gepflegt? fast gar keine Aufmerksamkeit zuzuwenden pflegen. Diese Massen leben nun unter dem Eindruck, daß sie ein Stand sind, der sich zu seinem Rechte durchringen muß. Der vierte Stand will, wie vor 100 Jahren der dritte Stand, eine bessere Existenz gewinnen. Freilich, wenn man die sozialdemokratischen Abgeordneten auf ihren Beruf hin ansieht, so sind es Journalisten, Leutnants usw., Arbeiter sind nur sehr wenige, und auch diese, wenn sie eine öffentliche Position erringen, hören auf, Arbeiter zu sein. Es sind aber nicht bloß Arbeiter, die mit ihren Interessen die Umsturzpartei ausmachen und die sozialen Kämpfe hervorrufen ─ es ist die ganze Masse von Unzufriedenen, die angestachelt durch die vorhandenen Ideen der Gottlosigkeit und der Unsittlichkeit, aufgeregt durch die soziale Frage sich verbunden haben. Dabei will ich gern zugestehen, daß es hier und da, auch wohl in ganzen Kreisen besser steht. Mir ist von Pastoren gesagt, daß in Dörfern und kleinen Städten Sozialdemokraten die kirchlichsten Leute sind. Dagegen erzählte ein christlicher Arbeiter, daß in seiner Fabrik, wo 600 Arbeiter sind, er der einzige sei, der noch einen Fuß in die Kirche setze. Von einem wohlwollenden kleinen Beamten, der in einem Arbeiterviertel wohnte und vier große Arbeiterkasernen zu beobachten Gelegenheit hatte, wurde mir einst mitgeteilt, daß er seit {3/4} Jahren diesen Leuten gegenüber aufmerke, viel bürgerlich Gutes erlebe, aber ganz bestimmt versichern [ Druckseite 371 ] könne, daß in den {3/4} Jahren aus diesen vier Häusern nicht ein einziger die Kirche besucht habe. Das sind Proben des Notstandes, dem unsere Betrachtung gilt. Und ─ merkwürdig! ─ wenn man tiefer hineinschaut, sind die Leute nicht deshalb unreligiös und unchristlich, weil sie gezweifelt und den Glauben verloren haben. Nein! Sie sind irreligiös, weil sie unter dem Bann der Partei stehen, und sie geraten immer tiefer in diesen Bann hinein, weil sie irreligiös sind. Das ist der eigentümliche komplizierte Zustand, der unsere Kraft herausfordert. Gerade heute sollen wir unsere Besprechung der Frage widmen: Was kann die innere Mission und die Kirche dagegen tun?

Soziale Kämpfe nennt unser Thema. Ja, diese Millionen kämpfen einen erbitterten furchtbaren Kampf. Was tut die übrige Gesellschaft? kämpft sie auch? Nein! sie kämpft nicht. Aber es ist doch ganz klar, wenn von zwei Gegnern der eine kämpft, der andere nicht, so muß dieser andere unterliegen. Die Sozialdemokratie kämpft mit Aufbietung aller Macht. Wir halten Kriegsrat wie weiland das deutsche römische Reich ─ wir manövrieren zuweilen; aber wo kämpfen wir Christen gegen die Geister des Abgrunds, um die Seelen dieser verführten Menschen? Das ist die Frage. Der Staat kämpft ja in seiner Weise; das Sozialistengesetz ist eine Waffe, womit gegen die Sozialdemokratie scharf gestritten wird. Die Staatsregierung ist sich auch bewußt, daß dies nicht der einzige Kampf sein kann. In ihren Maßregeln zur Existenzsicherung des Arbeiters organisiert sie die friedliche Gegenwehr. Ich wünschte, daß der Kampf erfolgreicher aufgenommen würde auf dem Gebiet der Fabrikgesetzgebung. Hier kommt es darauf an, die naturgemäßen Ordnungen, die von Gott gegebenen Grundbedingungen menschlicher Existenz zu stärken. O, ich beglückwünsche den Verfasser der Denkschrift des Zentralausschusses über die „Aufgabe der Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kämpfen der Gegenwart“66 für die Klarheit, mit welcher er es aus seiner Darstellung hervorleuchten läßt, worauf es ankommt. Zu schützen ist die Persönlichkeit durch Beschränkung der Arbeitszeit, die Familie durch Behütung der Mutter und der Kinder. Die kaiserliche Botschaft verheißt, daß eine Sicherung der Arbeiterexistenz unternommen werden soll auf den Grundlagen des christlichen Volkslebens und auf korporativer Basis. Da liegt die allerernsteste und wichtigste Aufgabe. Und daß man diese nicht anrührt, daß z. B. im Reichstag alle Parteien den Sonntagsschutz beschlossen haben und ein so wundervoller Beschluß bisher inaktiv geblieben ist, das ist etwas, was ich nicht begreifen kann.67 Ich sollte meinen, daß die verbündeten Regierungen solch einen günstigen Umstand mit aller Freudigkeit ergreifen müßten. Wenn das ganze deutsche Volk in seinen Vertretern sagt, wir wollen den Sonntag schützen, wie ist‘s möglich, daß man darauf nicht eingeht? Die innere Mission aber durch den Mund des Zentralausschusses betont nicht bloß diesen Punkt, sondern die Denkschrift fordert den Maximalarbeitstag, den Schutz der Frauen und Kinder, und für das alles fordert sie eine internationale Gesetzgebung. Ich halte das in der Tat für einen ungemeinen Fortschritt zum Guten. Es ist ein Stück Kampf, eine Waffe, womit man sich hineinstellen kann mitten in die Arbeiterkreise und sagen, so denkt nicht bloß ein einzelner, nein, so denkt die innere Mission, die evangelische Kirche. Gewiß wird man damit nicht sofort aus Feinden Freunde, aber doch die Bedingungen [ Druckseite 372 ] schaffen, um bei ihnen wohlwollendes Gehör zu finden. Als in Berlin diese Kämpfe zuerst begannen, vor mehr als einem Jahrzehnt, als wir zum ersten Male den Leuten den Schleier von den Augen nahmen, da geschah es, daß ein Arbeiter den Antrag stellte, man solle die evangelischen Pastoren in Deutschland für sie interessieren ─ die meinten es gut mit ihnen. Es war ein kindlicher Einfall, aber doch ein erfreulicher Gedanke. So wie der Bann der Arbeiterwelt gelöst wird, schlägt auch ihr Herz der Kirche wieder entgegen. Es ist mir damals oft begegnet, daß nach den Versammlungen Gruppen von Sozialdemokraten mit mir nach Hause gehen wollten, und sagten: „Wir sind nicht Ihrer Meinung, aber Sie meinen es gut mit uns.“ In diesem Sinne müssen wir anfangen zu kämpfen, müssen die Gedanken eines unbekannt gewordenen Christentums wieder hineintragen in diese Kreise.

Wissen Sie wohl, daß Wichern der erste war, der das forderte? Er hat schon in seinen Reden von 1848 vom gesunden christlichen Sozialismus vieles gesagt, was nachher leider vergessen ist. Er hat es 1871 auf der Oktoberversammlung68 ausgesprochen, daß es nötig sei, in großen Volksversammlungen den entfremdeten Massen kämpfend entgegenzutreten, das Panier der christlichen Weltanschauung aufzurollen, und wenn die Geister aufeinanderplatzen, den Kampf zu führen, bis die Seelen, die sich noch führen lassen wollen, zum Heile geführt sind. Das glaube ich allerdings auch, daß zu alledem, was die verehrten Herren Vorredner gesagt haben, solch ein prophetisches Tun von Geistlichen wie von Laien hinzukommen, daß es häufiger geschehen muß, als es geschieht. Die Gebildeten, Reichen, Vornehmen haben sich jahrzehntelang nicht um die kleinen Leute gekümmert ─ das ist der tiefste Grund des Elends. Nun sind die Massen in Mißtrauen geradezu hineingedrängt, und diese mißtrauischen Massen haben Verführer benutzt, Agitatoren haben sich in ihnen eingenistet. Überall, wo es daher gelingt, die Gebildeten und Besitzenden mit den Arbeitern und Nichtbesitzenden wieder in lebendige Berührung und freundschaftlichen Verkehr zu bringen, da ist auch die Frage des sozialen Kampfes zum guten Teil gelöst. Die Kirche selber ist ja, wenn ich so sagen darf, ein Verein, wo für den Gebildeten wie für den kleinen Mann dasselbe Wort Gottes verkündet wird, in einem Raum sich alle versammeln, an einem Altartisch alle niederknien, der Reichste neben dem Ärmsten aus demselben Kelch trinkt, von demselben Brot ißt. Aber dies Bewußtsein ist den Leuten entschwunden, das muß man ihnen erst wieder sagen, und sie müssen es an einer neuen Gemeinschaft und Vereinstätigkeit erst wieder lernen. Aber das darf ich sagen, daß wir in Berlin mit den Vereinigungen von Männern aus den verschiedensten Kreisen die glücklichsten Erfahrungen gemacht haben. Und darin stimme ich dem Herrn Korreferenten vollkommen bei, daß dieses ganze Fabrikleben mit seinen Arbeitermassen nicht bloß ein Unsegen ist, sondern ein Segen werden kann. Hier berühren sich die Geister; und wo das Böse mächtig ist, da kann auch das Gute mächtig werden und die Herzen bewegen. Daher nur frisch hinein, es wird so tief nicht sein! Die innere Mission wirkt schon jetzt auf Schritt und Tritt Gutes zur Milderung der sozialen Kämpfe. Ein Arbeiter, der seinen ungeratenen Sohn in die Rettungsanstalt gebracht hat, der in der Diakonissenanstalt liebreich verpflegt ist, fühlt das Wohltätige der christlichen Kirche und gibt einen Teil seines Hasses auf. Kommt dazu ein Anrühren der Seele, so kann ein Teil des Eises bald schmelzen. Wir Prediger müssen uns außerdem um die sozialen Dinge mehr kümmern. [ Druckseite 373 ] Ob man Sozialwissenschaft und Nationalökonomie studieren soll, wird von der Gabe des einzelnen abhängen; wer Beruf hat, mag es tun. Lassen Sie sich nur nicht abschrecken durch die Schwierigkeiten des Studiums; eleusinische Mysterien sind’s nicht, und wenn man im Kulturexamen Dinge von uns gefordert hat, die wir nie brauchen ─ ich wollte lieber, man hätte uns über Nationalökonomie examiniert als über Literatur und schöne Künste. Bitten wir die Pastoren, welche wissenschaftlichen Trieb haben, und die Professoren unserer Universitäten, daß sie die sozialen Dinge in ihrer biblischen Bedeutung ans Licht stellen. Es ist mir immer wunderbar und merkwürdig gewesen, daß die sozialen Fragen, die im Alten Testament einen so breiten Raum einnehmen, wissenschaftlich von unsern Theologen kaum behandelt werden, daß man über Brandopfer und Sühneopfer die sorgfältigsten Abhandlungen schreibt, dagegen die sozialen Teile des Alten Bundes nicht beachtet. Ist das richtig? Ist da nicht ein Fehler in der Wissenschaft? Und wenn die Pastoren dieselben Wege gehen und sich um diese Dinge nicht kümmern, so sind wir mit den Professoren freilich in gleicher Verdammnis; wir leiden aber mehr unter der Versäumnis und sollten uns bessern. Ich gehöre nicht zu denen, die Rom beneiden; aber ich finde, daß in der römischen Kirche Laien, Priester, Kapläne und Bischöfe die politischen und sozialen Fragen mit großem Geschick im katholischen Sinne behandeln. Da kann ich nicht anders, als es sehr schwer empfinden, daß in unserer Kirche das nicht der Fall ist. Und wenn ich sehe, daß dort Laien, vom Fürsten bis zum Bürger herunter, sich auch praktisch mit den Fragen des öffentlichen Lebens beschäftigen, so muß ich besorgt werden um die Aufgaben meiner Kirche, wenn ich in der Laienwelt bei uns das soziale Streben soviel geringer vertreten finde. Auch da gilt es zu kämpfen. Wir wollen uns klarmachen, wir, die Männer der evangelischen Kirche, daß wir in Deutschland eine heilige Aufgabe zu lösen haben. Wir haben die Güter der Reformation festzuhalten, und wir werden sie nicht festhalten, wenn wir uns nur ins Zentrum der Dogmatik stellen und die Außenwerke des öffentlichen Lebens preisgeben. Sind in den öffentlichen Dingen die Geister von dem Evangelium vielfach abgewandt, es ist unmöglich, sie vom Zentrum aus zurückzugewinnen. Wir müssen ihnen auf ihr Gebiet folgen; da liegt für alle ein großes Feld der Arbeit und des Kampfes. Wollen wir in den sozialen Kämpfen etwas ausrichten, so müssen wir vor allem selber mehr kämpfen lernen gegen die bösen Gedanken und um die Seelen derer, die uns entgegenstehen. Noch ist niemand und nichts verloren. Jeder, der in der Arbeit an den großen Arbeitermassen steht, weiß, wie der Gedanke der sozialen Reform im Bunde der inneren Mission beruhigend, aufhaltend, versöhnend auf die Arbeiter wirkt. Aber es muß mehr geschehen, als bisher geschehen ist. Ich hoffe, daß Anregungen, wie sie hier gegeben sind, nicht unfruchtbar sein werden, sondern daß der Ruf zum Kampf um die Seelen unseres Volkes ein lebendiges Echo in den Herzen finden wird. Das ist mein heißer Wunsch und mein brünstiges Gebet. [...]

Geheimer Oberregierungsrat Lohmann aus Berlin.

Hochgeehrte Herren! Ich möchte die allgemeine Erörterung nicht zum Schluß kommen lassen, ohne noch einmal auf die konkreten Aufgaben zurückzukommen, die uns in dem Referat und Korreferat nahegelegt sind. Wir haben hier äußerst dankenswerte Anregungen bekommen, einen Appell an unser Gewissen, den wir gewiß alle mit nach Hause nehmen und irgendwie fruchtbar sein lassen werden. Ich möchte aber, daß auch der Zentralausschuß für seine weitere Tätigkeit einen bestimmten Anstoß erhielte, und indem ich zurückgehe auf das, was Referat und Korreferat uns gebracht haben, will ich mir gestatten, nur einige Hauptgedanken in den Vordergrund [ Druckseite 374 ] zu stellen. Der nächste Gedanke, der mir besonders beachtenswert erscheint, ist der vom Herrn Korreferenten angeregte, daß die Tätigkeit der Kirche selbst auf diesem Gebiet eine allgemeine und organisch geregelte werden müsse, und daß die kräftige Anregung dazu nicht von der einzelnen Gemeinde erwartet werden dürfe, sondern von der Kreissynode ausgehen müsse. Ich glaube, m. H., daß dieser Gedanke es wohl verdient, weiter gefördert und gepflegt zu werden.

Der zweite Gedanke ist der der Begründung einer Arbeiterzeitschrift oder richtiger einer Arbeiterzeitung. Ich würde es für einen außerordentlichen Segen halten, wenn es gelingen sollte, eine solche Zeitung so zustande zu bringen, daß die Arbeiter sie wirklich lesen. Ich weiß sehr wohl, daß dazu ganz besondere Kräfte gehören; ich glaube aber, daß, wenn der Zentralausschuß und alle ihm verbundenen Vereine dieses Ziel ernstlich ins Auge fassen, sich schließlich doch die Mittel und auch die Leute dazu finden würden.

Endlich komme ich noch auf einen Punkt zurück, welcher gegenwärtig in ganz besonderer Weise unsere Aufmerksamkeit erfordert, ich meine das Verhältnis der Arbeitgeber zu ihren Arbeitern. Wir haben ja nach dieser Seite hin sowohl vom Herrn Referenten als vom Herrn Korreferenten viel Schönes gehört und dürfen uns gewiß sehr freuen, daß gegenwärtig in Deutschland schon große Vereinigungen von Arbeitgebern bestehen, denen es wirklich Ernst darum ist, mit ihren Arbeitern in ein Verhältnis zu kommen, durch welches der Friede und das gemeinsame Schaffen gefördert wird. M. H., wir dürfen uns darüber nicht täuschen: In unserer ganzen Arbeiterbewegung liegen neben den auf dunklem Grunde erwachsenen Bestrebungen auch gewisse ideale Momente, und diese idealen Momente herauszuheben und sie zu pflegen, halte ich für eine der wichtigsten Aufgaben, an denen auch die Organe der inneren Mission mitzuwirken haben. Das Pochen gewisser Arbeiterkreise auf Gleichberechtigung ist doch schließlich nur die Karikatur einer wahrhaft christlichen Forderung, der Forderung nämlich, daß jeder Mensch in seiner Menschenwürde anerkannt werde als Ebenbild Gottes und daß sich diese Anerkennung wie durch alle menschlichen Beziehungen, so auch durch die zwischen Arbeitgebern und Arbeitern hindurchziehen muß, und in der Feinfühligkeit, ja Empfindlichkeit unserer Arbeiter nach dieser Seite hin sollen wir nicht nur das Üble sehen, sondern auch das Gute darin erkennen. Es steckt wirklich ein idealer Zug dahinter, der für die Zukunft Früchte tragen kann, und deshalb meine ich, wäre es auch Aufgabe aller derer, welche in der inneren Mission tätig sind, den Bestrebungen auf diesem Gebiet nachzugehen, sie anzuregen und da, wo sie bereits eine Pflege finden, sie kräftig zu unterstützen. Alle Berufsarbeiter der inneren Mission sollten, soweit sie bei den ihnen befohlenen Aufgaben dazu Gelegenheit finden, gerade nach dieser Seite hin sowohl auf die Arbeitgeber als auf die Arbeitnehmer einzuwirken und solche Institutionen zu fördern und zu pflegen suchen, durch welche sich eine wirklich sittliche Gemeinschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitern herausbilden kann, und auch die verschiedenen Vereine für innere Mission sollten in Zukunft diese Bestrebungen besonders ins Auge fassen.

Pastor Just69 aus Bradford.

Obgleich ich Pastor in einer englischen Gemeinde bin, so suche ich doch hier in der deutschen Heimatkirche neue Begeisterung und Anregung, und ich meine, der [ Druckseite 375 ] Geist der evangelischen Gesinnung darf nicht zerschnitten werden durch nationale Eifersucht: Wir müssen ein und denselben evangelischen Geist als eine große internationale Macht bewahren. Aus diesem Grunde kann unser deutsches Vaterland sich nur darüber freuen, wie der evangelische Geist in England alle Schichten der Bevölkerung durchdringt und beeinflußt, und ich glaube behaupten zu dürfen, daß gerade in England die katholische Kirche der evangelischen sich am meisten angenähert hat. Das ist eine Ermutigung für uns und eine Mahnung, daß wir den evangelischen Geist vor allem stärken und uns der großen Kraft bewußt werden, die wir in unseren evangelischen Glauben haben. Die unmittelbaren Beweggründe zu einer wahren sittlichen Gemeinschaft liegen allein in diesem, weil er uns mit dem Heiland vereinigt. In ihm allein werden wir siegen.

Der Präsident70 erklärt die Diskussion für geschlossen und gibt dem Referenten das Wort zur Verlesung der von ihm in Übereinstimmung mit dem Korreferenten der Versammlung vorzulegenden Resolutionen. Dieselben lauten:

Der Kongreß für innere Mission spricht seine Überzeugung dahin aus, daß die notwendigsten Aufgaben der inneren Mission angesichts der sozialen Kämpfe gegenwärtig sind:

1. die Pflege der Stadtmission und der Gemeindediakonie als der für jetzt notwendigsten christlichen Liebesarbeit in den sozial bedrohtesten Gebieten ─ zugleich als Wiederanbahnung kirchlichen Gemeindelebens in unseren Großstädten;

2. die Pflege der Beziehungen zu den Arbeitgebern behufs Durchführung und Ergänzung der staatsgesetzlichen Tätigkeit durch die freiwillige soziale Wirksamkeit auf dem Grunde des Evangeliums, insbesondere durch brüderliche Fürsorge für das leibliche und geistliche Wohl ihrer Arbeiter und deren Familien;

3. die Pflege von Arbeitervereinigungen zum Eintreten in den Kampf wider die sozialistischen Irrtümer und zur Erhaltung der Güter des Evangeliums, insbesondere die Begründung einer evangelischen Arbeiterpresse

und ersucht den Zentralausschuß für innere Mission, zur Mitarbeit an der Lösung dieser Aufgaben seitens der beruflichen Arbeitskräfte der inneren Mission sowie aller ihm zugänglichen Kreise Anregung geben zu wollen.

Zugleich erklären die Mitglieder des Kongresses, als Glieder der evangelischen Kirche, sich aufs heiligste verpflichtet, ein jeder in seinem Hause und in seinem Beruf an der Lösung dieser Aufgaben tatkräftig und opferfreudig mitzuarbeiten und innerhalb ihrer Gesichts- und Berufskreise mitarbeitende Kräfte zu werben.

Diese Resolutionen wurden von der Versammlung einstimmig angenommen.

Der Präsident empfahl schließlich die vorhin erwähnte Denkschrift des Zentralausschusses: „Die Aufgabe der evangelischen Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart“. Dieselbe kam, soweit es möglich war, zur Verteilung und soll jedem, der sich an den Zentralausschuß wendet, übersandt werden.

Mit einem Schlußgebet des Generalsuperintendenten Kretschmar71 aus Gotha und dem letzten Vers des Liedes „O heil’ger Geist kehr bei uns ein“ schloß die Versammlung. [...]

[ Druckseite 376 ]

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Personen

  • Berlepsch, Hans Freiherr von (1843–1926) , Regierungspräsident in Düsseldorf; später: Oberpräsident der Rheinprovinz; später: preußischer Handelsminister
  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Bitzius, Albert (1797–1854) , Schweizer Pfarrer und Schriftsteller, , Pseudonym: Jeremias Gotthelf
  • Conze, Gottfried (1831–1920) , Textilfabrikbesitzer in Langenberg (Kreis Mettmann)
  • Cronemeyer, Eberhard (1842–1896) , ev. Pastor in Bremerhaven
  • Fliedner, Theodor (1800–1864) , ev. Theologe in Düsseldorf, Leiter der , Diakonissenanstalt in Kaiserswerth
  • Friedrich Wilhelm (1831–1888) , preußischer Kronprinz; später als Friedrich III. deutscher Kaiser
  • Frowein, Abraham (1847–1893) , Textilfabrikbesitzer in Elberfeld, konservativer Politiker
  • Heldring, Otto Gerhard (1804–1876) , ev. Theologe in Hemmen (Provinz Geldern, Niederlande)
  • Hertling, Dr. Georg Freiherr von (1843–1919) , Philosophieprofessor in München, MdR (Zentrum)
  • Hitze, Franz (1851–1921) , Priester, Generalsekretär des katholischen Unternehmerverbands „Arbeiterwohl“ in Mönchengladbach, MdPrAbgH, MdR (Zentrum)
  • Huber, Dr. Viktor Aimé (1800–1869) , sozialpolitischer Schriftsteller
  • Just, Friedrich August Ernst (1841–1932) , ev. Pfarrer in Bradford (England)
  • Kretschmar, Dr. Felix (1835–1913) , Generalsuperintendent, Oberkonsistorialrat und Oberhofprediger in Gotha
  • Krupp, Alfred (1812–1887) , Stahlindustrieller in Essen
  • Lassalle, Ferdinand (1825–1864) , Schriftsteller, Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
  • Lohmann, Theodor (1831–1905) , Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Luther, Dr. Martin (1483–1546) , Theologe, christlicher Reformer
  • Marx, Dr. Karl (1818–1883) , Philosoph, Schriftsteller in London, Mitbegründer der Internationalen Arbeiterassoziation und deren Generalsekretär
  • Most, Johann (1846–1906) , Buchbinder, Redakteur, MdR (Sozialdemokrat)
  • Nebe, Gustav (1835–1919) , Generalsuperintendent in Münster
  • Oberlin, Johann Friedrich (1740–1826) , ev. Pfarrer in Waldersbach im Steintal (Elsaß)
  • Oechelhäuser, Wilhelm (1820–1902) , Generaldirektor in Dessau, MdR (nationalliberal)
  • Öser, Rudolf Ludwig (1807–1859) , ev. Pfarrer und Schriftsteller in Lindheim (Kreis Büdingen), Pseudonym: Otto Glaubrecht
  • Roscher, Dr. Wilhelm (1817–1894) , Professor für Nationalökonomie in Leipzig
  • Rousseau, Jean Jacques (1712–1778) , französischer Pädagoge und Sozialphilosoph
  • Schönberg, Dr. Gustav (1838–1908) , Professor für Nationalökonomie in Tübingen
  • Stoecker, Adolf (1835–1909) , Hofprediger in Berlin, MdR (konservativ)
  • Taine, Hippolyte (1828–1893) , französischer Historiker
  • Thomas von Aquin (1225–1274) , Theologe, Kirchengelehrter
  • Uhlhorn, Dr. Gerhard (1826–1901) , ev. Theologe, Abt von Loccum
  • Wagner, Dr. Adolph (1835–1917) , Professor für Staatswissenschaften in Berlin
  • Weiß, Dr. Bernhard (1827–1918) , Professor in Berlin, Oberkonsistorialrat im preußischen Kultusministerium, Präsident des Zentralausschusses der Inneren Mission
  • Wellington, Arthur Herzog von (1769–1852) , englischer Feldherr und Staatsmann
  • Wentzel, Otto von (1819–1899) , Oberregierungsrat, Präsident des Aufsichtsrats der Kaiser-Wilhelms-Spende
  • Werner, Gustav (1809–1887) , ev. Theologe in Reutlingen
  • Wichern, Johann Hinrich (1808–1881) , ev. Theologe in Hamburg, Begründer der Inneren Mission
  • Wilhelm (1882–1951) , preußischer Kronprinz
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen
  • Wilhelm H. (1859–1941) , Deutscher Kaiser und König von Preußen
  • Wittenstein, Eduard (1848–1908) , Chemiker, Textilfarbenfabrikbesitzer in Barmen

Firmen

  • Koch & Co., Nähmaschinenfabrik in Bielefeld
  • Krupp, Gußstahlfabrik in Essen

Sachindex

  • Agitation
  • Alkoholismus
  • Almosen
  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Anarchisten
  • Arbeiterkolonien
  • Arbeiterkolonien – During (Friedrich-Wilhelmsdorf)
  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Arbeitervereine, siehe auch Gewerkvereine
  • Arbeitgeber
  • Arbeitskammern
  • Arbeitsnachweis
  • Arbeitsvertrag
  • Arbeitszeit
  • Armenpflege
  • Attentat
  • Beamte
  • Begehrlichkeiten
  • Beiträge zur Arbeiterversicherung
  • Bergarbeiter
  • Bundesrat
  • Bundesregierungen
  • Christentum
  • Dampfmaschine
  • Eisenbahn
  • Evangelium
  • Fabrik
  • Fabrikarbeiter
  • Fabrikinspektoren
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Freizügigkeit
  • Frieden, innerer, sozialer
  • Gastwirtschaften
  • Gefängnis, Gefängnisarbeit
  • Gefahrenschutz
  • Gemeinden, Kommunen
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung (17.7.1878)
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Gesetz, betreffend die Unterbringung verwahrloster Kinder (13.3.1878)
  • Gewerbefreiheit
  • Handel, siehe auch Freihandel
  • Handwerk, Handwerker
  • Haushaltungsschulen
  • Hausindustrie
  • Herbergen zur Heimat
  • Jugendliche Arbeiter
  • Katholikentage
  • Kinderarbeit
  • Kirche
  • Kirche – katholische
  • Kohlen
  • Korporationen
  • Kostgänger
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kultur
  • Landwirtschaft
  • Lehrer
  • Liberalismus, siehe auch Parteien
  • Lohn
  • Maschinen
  • Menschenrechte
  • Mittelalter
  • Montag, blauer
  • Nähmaschine
  • Nationalökonomie
  • Normalarbeitstag
  • Papst, Papsttum
  • Parteien
  • Parteien – Christlich-soziale Partei
  • Parteien – Fortschritt, Freisinn
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Polizei
  • Presse
  • Presse – Der Sozialdemokrat
  • Prostitution
  • Reformation
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Preußen
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen – Düsseldorf
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1887
  • Revolution
  • Revolution – 1848/49
  • Sittlichkeit der Arbeiter
  • Sklaverei
  • Sonntagsruhe
  • Soziale Frage
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Sozialreform
  • Sparkassen
  • Stadt, Großstadt
  • Stadtmission
  • Stadtmission – Berliner
  • Stiftungen
  • Stiftungen – Kaiser-Wilhelms-Spende
  • Streik
  • Tagelöhner
  • Telefon
  • Telegraph
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Trade-Unions
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Utopie
  • Vagabunden
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Arbeiterheim, Bielefeld
  • Vereine und Verbände – Arbeiterwohl. Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde
  • Vereine und Verbände – Bergischer Verein für Gemeinwohl
  • Vereine und Verbände – Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit
  • Vereine und Verbände – Evangelisch-kirchlicher Hilfsverein
  • Vereine und Verbände – Generalsynode
  • Vereine und Verbände – Verein anhaltischer Arbeitgeber
  • Vereine und Verbände – Zentralausschuß für die Innere Mission
  • Versicherungszwang
  • Volksküchen
  • Waisen
  • Weber
  • Wirtschaftsliberalismus
  • Wohlfahrtseinrichtungen, betriebliche
  • Wohnung, siehe auch Hausbesitz
  • Zinsen
  • Zölle
  • 1Verhandlungen des 25. Congresses für innere Mission zu Cassel, 10.─13. September 1888, Kassel 1888, S. 34─100. »
  • 2Wilhelm Nelle (1849─1918), seit 1886 Pfarrer in Hamm, Hymnologe. »
  • 3Vgl. Nr. 3 Anm. 7. »
  • 4Gemeint ist die Novelle zur Gewerbeordnung vom 17.7.1878 (RGBl, S. 199); vgl. Nr. 162 Bd. 3 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 5Gesetz, betr. die Unterbringung verwahrloster Kinder, vom 13.3.1878 (PrGS, S. 132). »
  • 6Der Bergische Verein für Gemeinwohl wurde am 17.11.1885 in Barmen auf Anregung des Düsseldorfer Regierungspräsidenten Hans Freiherr v. Berlepsch gegründet. Ziele dieses Vereins waren die Förderung des „Wohls der arbeitenden Klasse“, die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und die Bekämpfung aller „ein solches Verhältnis störenden und den Frieden gefährdenden Bestrebungen“. Im Zentralverband wirkten u. a. die Fabrikbesitzer Abraham Frowein, Gottfried Conze und Eduard Wittenstein, vgl. zu ihm und insbesondere seiner gegen die Sozialdemokratie gerichteten politischen Grundlinie: Heinz Beyer, Arbeit steht auf uns’rer Fahne und das Evangelium. Sozialer Protestantismus und bürgerlicher Antisozialismus im Wuppertal 1880─1914, Reinbek 1985, S. 185 ff. »
  • 7Wilhelm Oechelhäuser (1820─1902), Generaldirektor in Dessau, seit 1878 MdR (nationalliberal). Oechelhäuser war Gründer und Vorsitzender des „Vereins anhaltischer Arbeitgeber“. »
  • 8Vgl. Nr. 43 sowie Jul[ius] Post, Musterstätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern für ihre Geschäftsangehörigen, 2 Bde., Berlin 1889/1893; außerdem die vom preußischen Handelsministerium herausgegebene Enquete: Die Einrichtungen für die Wohlfahrt der Arbeiter der größeren gewerblichen Anlagen im preußischen Staate, bearbeitet im Auftrage des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, 3 Teile, Berlin 1876. »
  • 9Dr. Viktor Aimé Huber war von 1852 bis 1869 in Wernigerode ansässig und warb von hier aus für den Genossenschaftsgedanken; bis 1863 arbeitete er eng mit der Inneren Mission Wicherns zusammen. »
  • 10Gemeint sind die seit 1854 mit mehrjährigem Abstand einberufenen Internationalen Kongresse zur Beratung von Fragen des Gefängniswesens. »
  • 11Gemeint ist der 1881 gegründete Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit. »
  • 12Gemeint sind wohl das 1833 von Johann Hinrich Wichern gegründete Rauhe Haus und das 1836 in Kaiserswerth von Theodor Fliedner gegründete Diakonissenhaus. »
  • 13Im Mai 1882 wurde in Gelsenkirchen der erste evangelische Arbeiterverein gegründet, und in den folgenden Jahren entstand, zunächst im Ruhrgebiet und Nordrhein-Westfalen, eine Vielzahl weiterer Vereine im Deutschen Reich (vgl. hierzu: Klaus Martin Hofmann, Die Evangelische Arbeitervereinsbewegung 1882─1914, Bielefeld 1988); vgl. Nr. 78. »
  • 14Gemeint ist die 1869 in Philadelphia gegründete (katholische) Arbeiterverbindung zur Förderung und Bildung ihrer Mitglieder „Noble and Most Holy Order of Knights of Labour“ mit freimaurerischen Gebräuchen. »
  • 15Johann Friedrich Oberlin (1740─1826), Pfarrer in Waldersbach im Steintal/Elsaß. Neben seinen theologischen und pädagogischen Bemühungen gegenüber der einheimischen Bevölkerung holte er die Baumwollspinnerei und -weberei sowie die Seidenbandfabrikation nach Steintal zur Verbesserung der materiellen Situation der Bewohner. »
  • 16Albert Bitzius (1797─1854), Schweizer Pfarrer und Schriftsteller, Pseudonym: Jeremias Gotthelf. »
  • 17Rudolf Ludwig Öser (1807─1859), Pfarrer und Schriftsteller, Pseudonym: Otto Glaubrecht. »
  • 18Der französische Pädagoge und Sozialphilosoph Jean Jacques Rousseau idealisierte die ländlichen Verhältnisse als Naturzustand. »
  • 19Die Redewendung vom Liberalismus bzw. der Fortschrittspartei als Vorfrucht bzw. Bodenbereiter der Sozialdemokratie hatte Bismarck am 9.10.1878 in seiner Reichstagsrede erstmals verwendet (Sten.Ber. RT 4. LP I. Session 1878, S. 127). »
  • 20Vgl. Nr. 46. »
  • 21Gemeint ist Adolf Stoecker. »
  • 22Vgl. Nr. 81. »
  • 23Vgl. Nr. 151 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 24Vgl. beispielhaft zu diesen durch den Regierungspräsidenten einberufenen Konferenzen Nr. 38 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 25Kostgänger waren ledige Arbeiter, die in Arbeiterfamilien ein Quartier bzw. eine Schlafstelle hatten, Untermieter waren; das Kostgängerwesen war Teil der Arbeiterwohnungsfrage. »
  • 26Vgl. Nr. 78 Anm. 18. »
  • 27Zur Haltung der katholischen Kirche in Belgien, das als das klassische Land des Klassenkampfes galt, vgl. Martin Greschat, Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das Christentum vor der Moderne, Stuttgart 1980, S. 153, 178 f., und Handbuch der Kirchengeschichte, hg. von Hubert Jedin, Bd. VI/2, Freiburg 1973, S. 112 ff.; vgl. auch Nr. 83. »
  • 28Vgl. zur Haltung der katholischen Kirche in den USA: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI/2, Freiburg 1973, S. 155 ff. »
  • 29In seinem Referat über „Die Stellung der Kirche in der sozialen Frage“ vom 31.8.1886 regte Hitze an, den Akt des Vereinsbeitritts neuer Mitglieder in die Kirche zu verlegen: Es wäre doch etwas ganz anderes als die Aufnahme am Wirtshaustisch. Dann müßte aber diese Aufnahme feierlich vor sich gehen, die ganze Pracht des katholischen Gottesdienstes müßte entfaltet werden (Verhandlungen der XXXIII. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands zu Breslau vom 29. August bis 2. September 1886, S. 191). »
  • 30Dr. Martin Luther (1483─1546), Theologe, deutscher Reformator. »
  • 31Aus der Fülle von Luthers Äußerungen zum Beruf greift Nelle hier wohl auf die „Hauspostille“ von Georg Rörer zurück. Hier heißt es in der 3. Predigt zum 5. Sonntag nach Trinitatis (1534): „So lernet nun, was ein heilig, geistlich Leben sei, nämlich, nicht im Kloster leben, sondern wenn du glaubest an Jesum Christum und tust die Werke deines Berufs, im Glauben und nach Gottes Wort“ (Abdruck: Johann Georg Walch [Hg.], Dr. Martin Luthers sämtliche Schriften, Bd. 13, Abt. 1, 2. überarb. Auflage, St. Louis, Missouri 1884, ND: Groß-Oesingen 1987, Spalte 2222;); in anderer, teilweise lateinischer Fassung ist diese Predigt abgedruckt: D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 37, Weimar 1910, S. 476 ff. (479,36─480,1); ähnlich auch in den Predigten über Johannes 3 u. 4 von 1539 (ebenda, I. Abt., Bd. 47, Weimar 1912, S. 177 f.), insgesamt dazu die Nachweise im Deutschen Sachregister der Weimarer Ausgabe (Weimar 2001, I. Abt., Bd. 69, S. 319 f.). »
  • 32Gerhard Uhlhon hat die kontroverstheologische Auffassung des katholischen Vollkommenheitsideals so geschildert, „daß der direkte Weg zur christlichen Vollkommenheit der ist, seinen irdischen Beruf aufzugeben, aus der bürgerlichen Gemeinschaft auszuscheiden und sein Christenleben außerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft und ihres Berufes zu führen.“ (Der irdische Beruf der Christen [1890], in: ders., Schriften zur Sozialethik und Diakonie, Hannover 1990, S. 129). Die von Nelle zitierte Quelle wurde nicht ermittelt. »
  • 33Theodor Fliedner (1800─1864), evangelischer Theologe in Düsseldorf, Begründer des protestantischen Diakonissenamts, Leiter der Diakonissenanstalten in Kaiserswerth. »
  • 34Otto Gerhard Heldring (1804─1876), evangelischer Theologe in Hemmen (Provinz Geldern, Niederlande), Gründer verschiedener Anstalten der Inneren Mission für vorbestrafte Mädchen. »
  • 35Gemeint ist die Freie evangelisch-lutherische Bekenntniskirche zu St. Anschar von 1860; von hier ging in den 1880er Jahren u. a. die Seemannsmission aus. In Hamburg waren im 19. Jahrhundert Kirchen sogar „umfunktioniert“ worden: Der Mariendom wurde 1803/04 als Steinbruch genutzt, gänzlich abgerissen wurden Maria Magdalena und St. Johannis (um 1820), das sakrale Inventar an englische Kunstsammler verkauft. »
  • 36Der Bau von neuen Kirchen war eine wesentliche Aufgabe des Ende 1887 begründeten Evangelisch-kirchlichen Hilfsvereins. »
  • 37Vgl. Lukas 10,7 und Jakobus 5,4. »
  • 38Gustav Werner (1809─1887), evangelischer Theologe, Gründer diakonischer Anstalten in Reutlingen. »
  • 39Vgl. Nr. 59. »
  • 40Die Innere Mission war in Vereinsform organisiert und insoweit von der Landeskirche und den einzelnen Kirchengemeinden unabhängig. »
  • 41Der Jakobusbrief mahnt zu Rechtschaffenheit, die innerhalb der Gemeinde das Christentum in sittlicher Arbeit, Zucht und Nächstenliebe bewahrt. Er wendet sich gegen theologische Losungen wie vom Glauben ohne Werke; hingegen betonen die Paulusbriefe den Glauben und die Missionsaufgabe des Christentums. »
  • 42Nicht ermittelt; der Paulusbrief ist auch für die Rechtfertigungslehre zentral. »
  • 43Nelle war von 1879 bis 1886 Pfarrer in Altendorf, einem Essen benachbarten Industriedorf, in dem Alfred Krupp Arbeiterwohnungen bauen ließ. »
  • 44Roschers fünfbändiges „System der Volkswirtschaft“ hatte den von Nelle genannten Untertitel. »
  • 45Vgl. Adolph Wagner, Allgemeine oder theoretische Volkswirthschaftslehre (Bd. 1 des Lehrbuchs der politischen Oekonomie von Karl Heinrich Rau), Leipzig 1876. »
  • 46Vgl. Gustav von Schönberg (Hg.), Handbuch der politischen Ökonomie, 2. Aufl., Tübingen 1885─86. »
  • 47Vgl. hierzu die „Amtlichen Mittheilungen aus den Jahres-Berichten der mit Beaufsichtigung der Fabriken betrauten Beamten“, die seit 1880 erschienen. »
  • 48Vgl. Adolf Stoecker, Socialdemokratisch, socialistisch und christlich-social. Vortrag, gehalten in Braunschweig am 30. März 1880, in: ders. Christlich-sozial. Reden und Aufsätze, Bielefeld u. Leipzig 1884, S. 319 ff. (333 f.); ähnlich: Brief Stoecker an Kronprinz Friedrich vom 28.7.1878, zit. in: Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlichsoziale Bewegung, Berlin 1928, S. 72. »
  • 49Gottfried Conze (1831─1920), Textilfabrikbesitzer in Langenberg (Kreis Mettmann), Vorsitzender des Rheinischen Provinzialausschusses für Innere Mission, Mitglied des Bergischen Vereins für Gemeinwohl (vgl. Nr. 84 Anm. 6). »
  • 50Nelle war von 1874─1879 Vereinsgeistlicher für Innere Mission in Langenberg. »
  • 51Zitat aus Goethes Faust I, Vers 1995. »
  • 521. Mose 4. »
  • 531. Mose 27. »
  • 54Die 1880er Jahre waren die Take-off-Phase des Fernsprechwesens in Deutschland, 1877 wurden die ersten Telefone als Ersatz des Telegraphen in kleinen Postämtern eingeführt. »
  • 55Anspielung auf 1. Korinther 1,18. »
  • 56diesem Wortlaut wurde der Terminus bei Bismarck nicht ermittelt, B. äußerte jedoch sinngemäß in seiner Reichstagsrede vom 9.1.1882, mit der er die Interpellation v. Hertling beantwortete: Es gehört zu den Traditionen der Dynastie, der ich diene, sich des Schwachen im wirtschaftlichen Kampfe anzunehmen (20. Sitzung, Sten.Ber. RT 5. LP I. Session 1881/1882, S. 486). »
  • 57Verordnungen über die Beschaffenheit und Benutzung von Wohnungen ergingen im Regierungsbezirk Düsseldorf erst am 21.11.1895 bzw. 25.5.1898, die preußische Staatsregierung erließ keine entsprechenden Vorschriften, wohl aber einige Stadtverwaltungen. »
  • 58Anspielung auf Lukas 17,12. »
  • 59Arthur Herzog von Wellington (1769─1852), englischer Feldherr und Staatsmann. »
  • 60Hippolyte Taine (1828─1893), französischer Geschichtsschreiber und Geschichtsphilosoph. »
  • 61Matthäus 5,13. »
  • 62Gemeint ist der sog. Missionsbefehl: Matthäus 28,19. »
  • 63Der Evangelische Oberkirchenrat war die Behörde, derer sich der preußische König zur Ausübung seiner Rechte als summus episcopus bediente. »
  • 64Einen solchen hatte die preußische Generalsynode am 20.10.1885 beschlossen (vgl. Nr. 98 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung), dieser war jedoch erst im Februar 1887 ergangen. Vgl. den Hirtenbrief des Generalsuperintendenten der Provinz Westfalen, Gustav Nebe, vom 11.2.1887 (Kirchliches Amtsblatt des Königlichen Konsistoriums der Provinz Westfalen Nr. 3 vom 15.2.1887). »
  • 65Gemeint ist das Flugblatt der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zum Jahrestag der Revolution von 1848/49, das am 18.3.1888, also neun Tage nach dem Tod Wilhelm I., verteilt wurde: An das Volk! Ein Gedenkblatt zum 18. März (Abdruck: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. III, Berlin 1974, S. 288 ff.); es wurde am 9.6.1888 im „Sozialdemokrat“ (Nr. 24) nachgedruckt. Der ─ in der Sozialdemokratie so titulierte ─ „Kartätschenprinz“ Wilhelm I. wurde nicht erwähnt, wohl aber wurden Sozialreform und der Glaube an das Übersinnliche und Unsinnige kritisiert und schließlich gefordert, es müssen neue Märztage kommen, größer als die vor vierzig Jahren, die gründlich aufräumen mit Unterdrückung, Ausbeutung und Elend des Volkes in jeder Form! »
  • 66Theodor Lohmann, vgl. Nr. 46. »
  • 67Gemeint ist der Reichstagsbeschluß vom 7.3.1888 (vgl. Bd. 3 der H. Abteilung dieser Quellensammlung, S. XXXII f. und Nr. 167 Anm. 2─4), dieser wurde am 19.11.1888 durch den Bundesrat abgelehnt (vgl. ebenda, Nr. 175 u. Nr. 176). »
  • 68Vgl. den Abdruck der Rede Wicherns vom 12.10.1871 in Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 69Friedrich August Ernst Just (1841─1932), seit 1876 Pastor an der deutschen Kirche in Bradford (England). »
  • 70Präsident war seit 1886 (zunächst stellvertretend, seit 26.4.1887 gewählt) der Oberkonsistorialrat und Vortragende Rat im preußischen Kultusministerium Bernhard Weiß. »
  • 71Dr. Felix Kretschmar (1835─1913), seit 1886 Generalsuperintendent, Oberkonsistorialrat und Oberhofprediger in Gotha. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 84, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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