II. Abteilung, Band 1

Nr. 74

1887 Oktober 15

Deutsche Metall-Arbeiter-Zeitung Der Fabrikinspektor, wie er sein soll

Druck

Programmatik effizienter und arbeiterfreundlicher Fabrikinspektion

Der Fabrikinspektor soll ein technisch geschulter, praktischer Mann sein, der sich auf industrielle Verhältnisse versteht. Er soll in der Werkstatt wie im Maschinensaal gut Bescheid wissen.

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Der Fabrikinspektor soll seine Zeit zu Inspektionen verwenden; das besagt sein Name. Er soll kein aktenstaubiger Bürokrat sein, der seine höchste Seligkeit darin findet, hinter dem grünen Tisch zu sitzen und in der Amtsstube ganze Ballen Papier zu beschreiben.

Der Fabrikinspektor soll nicht bloß einen hellen Verstand, ein scharfes unbestechliches Urteil, er soll auch ein warmes Herz für die Arbeiter haben.

Der Fabrikinspektor soll ein volkstümlicher Mann sein, er soll nicht in steifleinener Zugeknöpftheit, wie ein chinesischer Mandarin mit fünf Knöpfen, vor die Männer der Arbeit treten, er soll freundlich, aufmunternd, populär sein, er soll so sprechen, daß ihn der einfache Mann versteht.

Der Fabrikinspektor soll ein ungläubiger Thomas sein, er soll nicht von den interessierten Kapitalisten sich blauen Dunst vormachen lassen. Er soll unabhängig vom fabrikantlichen Einfluß die Verhältnisse untersuchen, wie sie tatsächlich sind, er soll die Lohnlisten, die ihm der Unternehmer vorlegt, mit kritischen Blicken ansehen, er soll nicht bloß bei diesem sich über die Arbeitszeit, Überarbeit, Sonntagsarbeit usw. unterrichten.

Der Fabrikinspektor soll an die richtige Schmiede gehen, wenn er die Lage der Arbeiter kennenlernen will, er soll die Arbeiter selbst fragen. Aber so, daß diese ihm frei Rede und Antwort stehen können. Es soll sich das Gefolge von Buchhaltern, technischen Direktoren, Werkmeistern, die sich bei einem Gang durch die Fabrik an seine Sohlen heften wie die Furien an die Sohlen des Orestes, ganz höflich, aber sehr energisch verbitten. Er soll die Herren ins Comptoir oder irgendsonstwohin schicken, sintemal er kein kleines Kind ist, das einen Vormund braucht. Dann wird ihm bald reiner Wein über die Fabrikzustände eingeschenkt werden.

Der Fabrikinspektor soll ein tüchtiger Kenner der Volkswirtschaft sein, er soll die soziale Frage studieren, er soll aber nicht einseitig bloß mit bürgerlichen Ökonomen, sondern mit den Theoretikern der Arbeiterklasse sich eingehend beschäftigen. Ohne Kenntnis der gesellschaftlichen Streitfragen ist er unfähig, sachlich zu urteilen und auf den Grund der Dinge zu dringen. Er soll die Berichte seiner Kollegen in England, Nordamerika, in der Schweiz, in Österreich lesen und aus ihnen lernen. Der Fabrikinspektor soll ein Statistiker sein, der die Ergebnisse seiner Untersuchung ziffernmäßig darzustellen vermag.

Der Fabrikinspektor soll der Vertrauensmann der Arbeiter sein. Die Arbeiter müssen davon überzeugt sein, daß er stets bereit ist, sie anzuhören, unparteiisch, ein gerechter Richter, daß er gewillt ist, ihnen zu helfen, tatkräftig gegen Mißstände einzuschreiten, Übergriffe des Kapitals zu verhüten. Er soll dafür sorgen, daß alle Arbeiter seines Inspektionsbezirks wissen, daß er, wann er und wo er ungestört zu sprechen ist.

Der Fabrikinspektor soll wie der Blitz sein. Er soll schnell, unerwartet, plötzlich bald hier, bald da in seinem Aufsichtsbezirk erscheinen, revidieren, kritisieren, reformieren. Er soll sich nicht anmelden lassen, er soll sich nicht darum scheren, wenn der Fabrikant ein saures Gesicht macht, er soll die Sünder gegen die Gewerbeordnung auf frischer Tat ertappen. Die Kapitalisten sollen stets fürchten, daß der Fabrikinspektor hinter ihnen stehe und sie bei ihrem Treiben beobachte. Er soll den Feind schlagen, wo er ihn findet.

Der Fabrikinspektor soll Fabrikzensor sein, der sich klar darüber ist, daß er zum Schutz der Arbeiter bestellt ist. Er soll nicht im Harmoniedusel befangen sein.

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Der Fabrikinspektor soll seinen Bericht zu einem wahrheitsgetreuen, nach der Natur gezeichneten, rücksichtslos die Lage der Dinge enthüllendem Bild der Sozialzustände machen. In seinen Mitteilungen soll er über Lohn-, Wohnungs- und Arbeitsverhältnisse, über Berufskrankheiten wie über den Stand der Arbeiterbewegung genau und objektiv referieren. Sein Bericht soll eine Fundgrube für die Arbeitsstatistik sein.

Der Fabrikinspektor soll für die Durchführung einer gründlichen Arbeiterschutzgesetzgebung auf internationaler Grundlage wirken.

Der Fabrikinspektor soll ein Mann sein, er soll Rückgrat haben und in seinen Amtshandlungen sich nicht durch parteipolitische Rücksichten bestimmen lassen. Er sei fest und unerschrocken nach oben, voll Sympathie, tätig und wohlgesinnt nach unten.

So soll der Fabrikinspektor sein.

Registerinformationen

Regionen

  • England
  • Österreich
  • Schweiz
  • Vereinigte Staaten von Amerika

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832–1901) , Direktor der II. Abteilung im Reichsamt des Innern
  • Friedrich Wilhelm (1831–1888) , preußischer Kronprinz; später als Friedrich III. deutscher Kaiser
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845–1907) , Chef der Reichskanzlei
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Arbeitszeit
  • Berufskrankheiten
  • Bundesregierungen
  • Frieden, innerer, sozialer
  • Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (21.6.1869)
  • Lohn
  • Reichstag
  • Sonntagsruhe
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Thronreden – 24.11.1887
  • Wohnung, siehe auch Hausbesitz
  • Zölle

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 74, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0074

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