II. Abteilung, Band 1

Nr. 70

1886 Dezember 3

Der Gewerkverein Nr. 49 „Es muß etwas geschehen!“

Druck

Zehn Jahre sozialpolitischer Debatten und fünf Jahre „Sozialreform“ haben keine Verbesserung der Lage der Arbeiter gebracht

Diese Worte waren gegen Ende der siebziger Jahre in weiten Kreisen der Besitzenden gang und gäbe und sollten besagen, daß es an der Zeit sei, etwas für die Aufbesserung der Lage des Arbeiterstands zu tun. Man war von dem Gefühl durchdrungen, daß etwas geschehen müsse, wenn anders die Verhältnisse der Arbeiter sich nicht noch trauriger gestalten und damit der Riß zwischen Kapital und Arbeit weitere Ausdehnung gewinnen sollte. Mit dem Sozialistengesetz, hieß es damals, sei es nicht genug getan, vielmehr müsse durch positive Maßnahmen eine Besserung geschaffen werden. Es bildeten sich Vereine und Vereinchen, mit geheimen und nicht geheimen Kommerzienräten, mit Fabrikanten und anderen Vertretern der Großindustrie an der Spitze. Die soziale Frage sollte um jeden Preis gelöst werden und wenn es, um ein geflügeltes Wort zu gebrauchen, die ganze Nacht währen sollte. Selbst „König Stumm“ fühlte ein menschliches Rühren und trat in den Vorstand der „Concordia“, des „Vereins zur Förderung des Wohls der Arbeiter“.1

Seitdem sind fast zehn Jahre ins Land gegangen. Was ist denn nun geschehen? Die überwiegende Mehrzahl der Besitzenden haben es bei der bloßen Redensart bewenden lassen. Im großen und ganzen ist nicht nur nichts geschehen, was von positiven Maßnahmen zugunsten der arbeitenden Bevölkerung zu verzeichnen wäre, sondern es sind im Gegenteil noch Maßnahmen getroffen worden, welche die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiter zum Teil verschlechtert haben. Der Lohn hat nur in den seltensten Fällen eine steigende Tendenz gezeigt, in der Regel ist er stehengeblieben, wenn nicht zurückgegangen, die Arbeitszeit ist meist dieselbe geblieben, und von sonstigen Einrichtungen zugunsten der Arbeiter haben wir nur vereinzelt Erwähnenswertes gehört. Wohl aber sind uns mannigfache Bedrückungen der Arbeiter zu Ohren gekommen, hat man versucht, die Unabhängigkeit der Arbeiter zu beschränken, ihre ganze gesellschaftliche Stellung herabzudrücken. Wir sehen hierbei ganz ab von Leuten à la Stumm, welche trotz ihrer zur Schau getragenen Arbeiterfreundlichkeit das gesetzlich gewährleistete Recht der Vereinigung mit Füßen traten, und in despotischer Weise dekretierten, daß der Arbeiter nach der Pfeife des „Brotherrn“ zu tanzen habe; auch die Götter zweiten Rangs haben wiederholt auf ihre „Autorität“ gepocht und die Arbeiter fühlen lassen, wer der „Herr“ ist.

Auch die „Sozialreform“ der Regierung, welche vor nunmehr fünf Jahren verheißen wurde, kann nicht als Beginn der Aufbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Arbeiter bezeichnet werden. Wir behaupten, daß, ohne der Sprache Zwang [ Druckseite 293 ] anzutun, die Krankenkassen und die Unfallversicherung mit dem Namen einer Sozialreform nicht bezeichnet werden können. Es sind hier keine neuen Ziele verfolgt worden, sondern solche Ziele, die schon längst von allen Parteien theoretisch anerkannt und von der Gesetzgebung in Angriff genommen waren. Es haben Krankenkassen in der umfassendsten Weise bestanden, und es haben auch gesetzliche Vorschriften bestanden, welche in einem gewissen Umfang den Kassenzwang eingeführt hatten.2 Es hat eine Verpflichtung bestanden, die Arbeiter den Gefahren eines Unfalls gegenüber schadlos zu halten, und es haben Gesellschaften bestanden, welche aufgrund dieses Gesetzes, des sogenannten Haftpflichtgesetzes, das Versicherungsgeschäft betrieben haben.3 Die ganze Sozialgesetzgebung, welche in diesen fünf Jahren viel Arbeit in Anspruch genommen und lebhafte Diskussionen hervorgerufen hat, hat neue Institutionen nicht geschaffen, sondern sich darauf beschränkt, die bestehenden Institutionen umzuwandeln. Ob diese Gesetze zweckmäßig gewesen oder nicht, ist ein Streitpunkt zwischen den Parteien, der bis auf den heutigen Tag ungelöst geblieben ist.

Was nun gar die von den Offiziösen stets mit so großem Pomp angekündigte Vorlage der Alters- und Invalidenversorgung anbetrifft, so ist die Regierung, wie aus der Thronrede zur Eröffnung des Reichstags4 zu schließen ist, zu der Überzeugung gelangt, daß es mit dieser vorläufig noch gute Wege hat, d. h. für die nächste absehbare Zeit nicht daran zu denken ist. Die Thronrede betont, daß die Reichsmittel für ein entsprechendes Maß der Fürsorge auch für den Fall des Alters und der Invalidität bei der derzeitigen Steuergesetzgebung des Reichs nicht verfügbar seien. Durch neue indirekte Steuern hofft man in der Folge die Mittel für die Alters- und Invalidenversorgung flüssigzumachen. Das heißt nach unserem beschränkten Untertanenverstand, daß für die Arbeiter eine solche Kasse geschaffen werden wird, sobald das Volk, also die numerisch am stärksten vertretenen Arbeiter sich bereit finden, aus ihrer Tasche Steuern zu zahlen, die sie dann in der Form von Pensionen ─ freilich nach Abzug der Verwaltungs- etc. Kosten ─ in kleinen Dosen zurückerhalten. Indirekte Steuern treffen bekanntlich aber die Arbeiter am härtesten, und indem man ihnen auf der einen Seite etwas wiedergibt, was sie vorher selbst gegeben, drückt man ihre Lebenshaltung herab. Unter diesen Umständen werden die Arbeiter gern auf die verheißene Versorgung verzichten.

Nach alledem ist die Behauptung gerechtfertigt, daß in den letzten zehn Jahren weder seitens der Gesellschaft noch seitens des Staates Maßnahmen getroffen worden sind, welche geeignet gewesen wären, die wirtschaftliche und soziale Lage der [ Druckseite 294 ] Arbeiter wesentlich zu bessern, ja wir möchten uns sogar der Annahme zuneigen ─ und hierfür sprechen eine Reihe von Anzeichen ─, daß in weiten Kreisen der Versuch mehr und mehr hervortritt, die gesellschaftliche Stellung der Arbeiter herabzudrücken.

In das grellste Licht treten aber die herrschenden Verhältnisse durch die Tatsache, daß das Koalitionsrecht der Arbeiter infolge des bekannten Ministerialerlasses eine wesentliche Beschränkung erfahren hat.5 Mit diesem Erlaß sympathisiert ein großer Teil unsere Arbeitgeber und beweist damit, daß er innersten Herzens selbst den berechtigtsten Bestrebungen der Arbeiter abgeneigt ist. Bei solcher Lage der Dinge ist nicht daran zu denken, daß die Verhältnisse der Arbeiter besser werden und das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ein besseres wird. Den Schaden davon tragen Staat und Gesellschaft, denn die Dinge müssen sich mit der Zeit zu einem schweren Konflikt zuspitzen, und wer Augen hat, zu sehen, der sieht schon heute, daß wir uns auf abschüssiger Bahn befinden.

Noch ist es nicht zu spät, noch haben es Staat und Gesellschaft in der Hand, in die Verhältnisse bestimmend einzugreifen, der eine durch gesetzgeberische Maßnahmen, welche eine wirkliche Besserung der Zustände hervorbringen, durch eine ausreichende Arbeiterschutzgesetzgebung, Anerkennung der Berufsvereine etc., die Gesellschaft, indem sie sich ihrer Pflichten gegen die Arbeiter bewußt wird und ein warmes Herz für dieselben zeigt. Wir verlangen nur, daß der Mensch dem Menschen nähertritt, daß auch der Arbeiter als Mensch anerkannt wird. Unsere Mahnung ist deshalb:

„Es muß etwas geschehen.“

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Registerinformationen

Orte

  • Dortmund

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Lenzmann, Julius (1843–1906) , Rechtsanwalt in Lüdenscheid, MdR (Fortschritt)
  • Puttkamer, Robert von (1828–1900) , preußischer Innenminister
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Agitation
  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterschutz
  • Arbeitervereine, siehe auch Gewerkvereine
  • Arbeitgeber
  • Außenpolitik
  • Fabrikarbeiter
  • Fabrikinspektoren
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Koalitionsfreiheit
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Presse
  • Presse – Der Sozialdemokrat
  • Regierung, preußische Bezirksregierungen
  • Reichstag
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1887
  • Septennat
  • Steuern
  • Streik
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Thronreden – 25.11.1886
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Versicherungszwang
  • 1Gemeint ist der am 25.5.1879 in Frankfurt/M. unter Mitwirkung Stumms gegründete „Verein zur Förderung des Wohles der Arbeiter“, der die Zeitschrift (neue) „Concordia“ herausgab. »
  • 2Vgl. Bd. 5 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 3Vgl. Bd. 2 der I. Abteilung bzw. Bd. 2, 1. u. 2. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 4Gemeint ist die zur Eröffnung der IV. Session der 6. Legislaturperiode am 25.11.1886 verlesene Allerhöchste Botschaft, in der Gesetzesvorlagen über die weitere Ausdehnung der Unfallversicherung angekündigt wurden: Erst wenn die Unfallversicherung der Arbeiter hierdurch in einem weiteren erheblichen Maß der Durchführung nähergebracht sein wird, kann dazu übergegangen werden, auf der Grundlage der neugeschaffenen Organisationen den arbeitenden Klassen ein entsprechendes Maß der Fürsorge auch für den Fall des Alters und der Invalidität zuzuwenden. Zur Erreichung dieses Ziels aber werden Aufwendungen aus Reichsmitteln erforderlich werden, welche bei unserer derzeitigen Steuergesetzgebung nicht verfügbar sind (Sten.Ber. RT 6. LP IV. Session 1886/1887, S. 2, Eröffnungssitzung). »
  • 5Gemeint ist ein Erlaß des preußischen Innenministers Robert v. Puttkamer vom 11.4.1886 an die Bezirksregierungen ─ der bald „Streikerlaß“ genannt wurde ─ über das Verhalten der Behörden bei Arbeitseinstellungen (Metallographie: GStA Berlin I. HA Rep. 77 Tit. 2413 Nr. 1 Beiheft 33, fol. 2─4 Rs.). Gegen Streiks, die durch sozialdemokratische Agitation angestiftet waren und somit einen wirtschaftlichen Charakter abstreiften, bzw. das Streikpostenstehen sollte mit den Mitteln des Sozialistengesetzes vorgegangen werden. Der zunächst nicht veröffentlichte Erlaß gelangte bald in die Öffentlichkeit (vgl. z. B. Der Sozialdemokrat Nr. 17 vom 22.4.1886); der Reichstag debattierte bereits am 21.5.1886 aufgrund einer Interpellation der Sozialdemokraten über den Erlaß (Sten.Ber. RT 6. LP II. Session 1885/1886, S. 2098─2119). Vgl. Bd. 4 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 70, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0070

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