II. Abteilung, Band 1

Nr. 69

1886 [Juli]

Aufzeichnungen1 des Geheimen Oberregierungsrats im Reichsamt des Innern Theodor Lohmann

Niederschrift

Die Sozialreform der Regierung findet bei den Arbeitern keinen Anklang, weil sie nur auf arbeitsunfähige Arbeiter abzielt; die Forderungen der Arbeiterbewegung werden nicht aufgenommen

Zu wiederholten Malen hat der Reichskanzler es öffentlich ausgesprochen, daß er bei den Arbeitern den Dank vermisse, welchen er durch seine Sozialpolitik um sie verdient zu haben glaube. Und in der Tat ist die Vermehrung der sozialdemokratischen Abgeordneten2 mindestens kein Zeichen davon, daß die Aussöhnung der arbeitenden Klassen mit der bestehenden Staats- u. Gesellschaftsordnung, also das eigentliche Ziel unserer Sozialreform, im Fortschreiten begriffen sei. Die Erklärung dafür, daß die Wohltaten der Kranken- u. Unfallversicherung keine größere Anerkennung bei den Arbeitern gefunden haben, sieht man nach dem Vorgang des Reichskanzlers und der offiziösen Presse in weiten Kreisen darin, daß die sozialdemokratischen Agitatoren die Arbeiter über ihre wahren Interessen u. über die Absichten der Regierung zu täuschen wissen, und ihnen in verführerischen Worten Aussichten eröffnen, welche um so unheilvoller wirken, als sie niemals zur Tat u. Wahrheit werden können. Daraus zieht man dann den Schluß, daß es, um der Sozialreform zur vollen Wirksamkeit zu helfen, nur nötig sei, die sozialdemokratische Agitation zu unterdrücken, und darin findet man die Rechtfertigung für eine immer allgemeinere u. schärfere Handhabung des Sozialistengesetzes, obwohl man nach jedem weiteren Schritt in dieser Richtung zu dem Anerkenntnis genötigt ist, daß man eine Einengung der sozialdemokratischen Strömung nicht erreicht hat. Die Rechtfertigung jener Schritte findet man nur in der immerhin zweifelhaften Annahme, daß es ohne jene Maßregeln noch schlimmer geworden sei.

Wir sind weit entfernt, den sozialreformatorischen Maßregeln jede Wirksamkeit für die Versöhnung der arbeitenden Klassen abzusprechen. Daß ihnen die Fähigkeit zu einer solchen Wirksamkeit nicht abgeht, erhellt schon daraus, daß die Sozialdemokraten dadurch genötigt worden sind, die Art ihrer Agitation zu ändern, und weniger durch die Ausmalung des sozialistischen Zukunftsstaates als durch praktische Forderungen an d[en] gegenwärtigen Staat die Massen für sich zu gewinnen trachten. Der Weg, den sie hierbei einschlagen, und die Erfolge, welche sie hierbei erreichen, [ Druckseite 291 ] sind aber für jeden unbefangenen Beobachter überaus lehrreich und fordern zu der wichtigen Frage auf, ob wir mit unserer Sozialreform wirklich den rechten Weg eingeschlagen. Wenn wir die Ziele, welche die Regierungen verfolgen, u. diejenigen, welche die Sozialdemokraten aufstellen, miteinander vergleichen, so kommen wir zu dem überraschenden Resultat, daß die letzteren mehr auf dem ideellen, die ersteren mehr auf dem materiellen Gebiet liegen. Das sozialpolitische Programm der Regierung beschränkt sich, soweit es bisher praktisch in Angriff genommen ist, darauf, den Arbeitern mit möglichst wenig eigenen Opfern ein erträgliches Leben für den Fall der aus Krankheit u. Unfall hervorgehenden Erwerbslosigkeit zu sichern. Es stellt eine gleiche Fürsorge im Falle der Invalidität für eine nach u. nach immer wieder hinausgeschobene Zukunft in Aussicht und bietet als letzten bis jetzt sehr unklar angedeuteten Gedanken die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit3 dar.

Die Sozialdemokraten dagegen richten ihre Agitation auf das gesetzliche Verbot der Sonntagsruhe, auf die weitere Beschränkung der Kinder- u. Frauenarbeit, auf die Einführung eines Maximalarbeitstags und endlich auf eine der Forderungen der Arbeiter gerecht werdenden Regelung des Vereinsrechtes.

Niemand kann sich darüber wundern, daß diese Forderungen in den Arbeiterkreisen sich eines größeren Beifalls erfreuen, als die Ziele derer, welche das Programm der Regierung; denn während die Regierung bis jetzt nur die Fürsorge für den arbeitsunfähigen Arbeiter umfaßt, handelt es sich bei jenen Forderungen um die Verbesserung des gesunden u. arbeitsfähigen Arbeiters, und schon darin liegt für alle Arbeiter, welche überhaupt so weit fortgeschritten sind, daß sie sich am öffentl[ichen] Leben beteiligen, eine unendlich viel größere Zugkraft als in jener Fürsorge: Noch bedeutsamer aber ist in sozialpolitischer Beziehung der Umstand, daß die gesamte Arbeiterbevölkerung, soweit sie überhaupt zum politischen Bewußtsein gekommen ist, in der Erfüllung der Forderung der Sozialdemokraten die Voraussetzung der Befriedigung desjenigen Verlangens erblickt, welches alle diese Kreise bald mehr, bald weniger bewußt, aber ganz allgemein beherrscht. Dieses Verlangen geht dahin, unsere Wirtschaftsordnung so geregelt zu sehen, daß auch dem Arbeiter ein „menschenwürdiges Dasein“ gesichert und vor allen Dingen die theoretisch längst anerkannte Rechtsgleichheit auch für den Arbeiter zu einer das öffentl. Leben wirklich beherrschenden Tatsache zu machen, und dadurch [hier bricht das Manuskript ab]

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Registerinformationen

Personen

  • Stumm, Karl Ferdinand (1836–1901) , Eisenhüttenwerkbesitzer in Neunkirchen/Saar (Kreis Ottweiler), MdPrHH, MdR (Deutsche Reichspartei)

Sachindex

  • Arbeitszeit
  • Frauenarbeit
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Kinderarbeit
  • Lohn
  • Normalarbeitstag
  • Presse
  • Presse – Der Gewerkverein
  • Recht auf Arbeit
  • Sonntagsruhe
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Concordia. Verein zur Förderung des Wohls der Arbeiter
  • 1BArch N 2179 (Lohmann) Nr. 3, fol. 61─62 Rs.Datierung durch die Bearbeiter. Das Manuskript muß zwischen 1884 und 1887 während der sechsten Legislaturperiode des Reichstags entstanden sein (vgl. Anm. 2). Für eine Datierung auf den Sommer 1886 spricht, daß Lohmann die hier entwickelten Gedankengänge auch in einem in dieser Zeit entstandenen Bericht an v. Boetticher vertrat (vgl. Nr. 124 Anm. 1 und Anm. 20 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 2Bei der Reichstagswahl des Jahres 1884 hatten die Sozialdemokraten die Zahl ihrer Abgeordneten von 11 auf 24 erhöhen können. »
  • 3Vgl. Bismarcks Ausführungen zum Recht auf Arbeit in seiner Reichstagsrede vom 9.5.1884 (Sten.Ber. RT 5. LP IV. Session 1884, S. 481 ff.; Abdruck: Nr. 166 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 69, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0069

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