II. Abteilung, Band 1

Nr. 68

1886 Februar 24

Das Recht auf Arbeit1 Nr. 92 Zur Sozialreform2

Druck

Die in der Kaiserlichen Sozialbotschaft angekündigte „Hebung“ der sozialen Lage der Arbeiter hat nicht stattgefunden; ein „Sozialreformstaat“ im Sinne der Arbeiter ist notwendig

Soziale Reformen? Von einem fast verschollenen Gesetzprojekt dringt gerade jetzt, wo die Frage der Verlängerung des Ausnahmegesetzes3 das öffentliche Interesse beschäftigt, nach längerer Pause wieder einmal eine offiziöse Kunde in die Öffentlichkeit.

Über das Arbeiterinvalidengesetz wird den vom Berliner Preßbüro inspirierten Zeitungen offiziös geschrieben, daß man „in verschiedenen Reichsämtern an der Gewinnung der Grundlagen für einen Gesetzentwurf betr. die Altersversicherung der Arbeiter tätig sei“.4 Die Erfahrungen anderer Länder auf diesem Gebiet fänden die eingehendste Berücksichtigung, heißt es, so werde beispielsweise das in Holland bestehende Institut der Sterbetafeln sehr beachtet.5

Aus der Fassung dieser Notiz ersieht man, daß in dieser Sache bisher sehr wenig getan worden. Es ist das sehr erklärlich. Das soziale Reformprogramm der Reichsregierung, das mit der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 18816 klar und unzweideutig nicht bloß die Heilung sozialer Schäden, sondern weitergehend die positive Förderung des Wohls der Arbeiter als eine der höchsten Aufgaben jedes Gemein- und Staatswesens bezeichnete ─ die historisch gewordenen Worte sind: „Hebung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Arbeiterklasse“ ─, hat praktisch, aber naturnotwendig durch die Gebundenheit der inneren Bismarckschen Politik eine sehr bedeutende Einschränkung erfahren. Der Reichskanzler hatte seine Macht überschätzt und war sich ferner über die Konsequenzen seiner Versprechungen nicht klar. Hebung der wirtschaftlichen Lage bedeutet Einschränkung der produktiven Ausnützung der Arbeiter, Verkürzung der Arbeitszeit aufgrund eines Arbeiterschutzgesetzes. Die Verhandlung über die Sonntagsarbeit und andere sozialpolitische Debatten [ Druckseite 288 ] im Reichstag zeigten, daß der Reichskanzler diese vom Bürger- und Agrariertum gemeinschaftlich hart bedrohte Position aufgegeben.

Aber auch die weniger gefährliche Stellung nicht der Hebung, sondern nur der Sicherung der wirtschaftlichen Lage des Arbeiters, seine Rettung vor der Vagabondage und dem Pauperismus durch das „Recht auf Arbeit“, die der Reichskanzler in den auf die Kaiserliche Botschaft folgenden Reichstagsdebatten als seinen „Staatssozialismus“ mit soviel Emphase verteidigte,7 ist vor der Macht des Kapitals geräumt worden. Was bleibt, sind die drei Gesetze, die als Palliativ- und Beruhigungsgesetze zu bezeichnen sind. Das Krankenkassen- und Unfallversicherungsgesetz ist noch glücklich unter Dach gebracht worden. Aber wieviel Widerstand haben nicht diese Gesetze, die von der Bourgeoisie nur ganz bescheidene Opfer fordern, schon gefunden?

Das Arbeiterinvalidengesetz muß dem Kapital neue und größere Lasten auferlegen. Es wird also die Altersversicherung der Arbeiter bei den besitzenden Klassen einen viel ernsteren Widerstand finden als die bisherigen beiden sogenannten Sozialreformgesetze. Es ist nicht zu übersehen, daß es von dem Manchestertum eine verhängnisvolle Konzession verlangt. Der Begriff des Werts der Arbeitskraft wird modifiziert. Das Kapital soll gezwungen werden, den Wert der Arbeitskraft nicht bloß während der Vollkraft und Benutzungsperiode des Arbeiters zu zahlen, sondern auch, allerdings mit Preisermäßigung, während seiner Invaliditätsperiode, deren Eintritt durch die kapitalistische Ausnutzung hervorgerufen und beschleunigt wurde. Es ist fraglich, ob der „geniale Staatsmann“ den drohenden Widerstand gegen dies dritte Gesetz ohne die Hilfe der Arbeiterklasse noch überwinden wird.

Nach unserer Ansicht wird die Bismarcksche Regierung dieses Gesetz nicht mehr in das Stadium der parlamentarischen Verhandlung bringen. Eine Regierung, für deren innere Politik die Volksinteressen im wahren Sinn, d. h. die Interessen der arbeitenden Volksmasse den Maßstab geben, die also mit dem Sozialreformstaat im Sinne der Arbeiterklasse Ernst macht, würde den Widerstand der Profitinteressenten leicht zur Unterwerfung zwingen.

Und hier kommen wir auf die, diesen Erörterungen vorgestellte Frage zurück. Soziale Reformen? Das sind zwei Worte. Es kommt darauf an, welchen Begriff wir mit ihnen verbinden. Was verstehen die klassenbewußten Arbeiter, was ahnen die indifferenten Massen unbewußt unter der „positiven Förderung des Wohls der Arbeiter?“ Den Sozialreformstaat im Sinne der Arbeiterklasse.

Den Staat, der durch seine Gesetzgebung der Tatsache Anerkennung und Konsequenz verschafft, daß der rechtlich „freie“ Arbeiter, durch sein Verhältnis als Lohnarbeiter sozial unfrei und dem Kapital unterjocht, an die organisierte Gewalt der Gesellschaft, die Staatsmacht ─ den Staatsgedanken im Lassalleschen Sinn verstanden ─, den Anspruch erheben darf, dies Hörigkeitsverhältnis durch Eingriff in die „Freiheit des Arbeitsvertrags“, d. h. durch planmäßige zwangsgesetzliche Verkürzung des Arbeitstags auch der mündigen Arbeiter, also auf dem Reformweg zu mildern und schließlich zu beseitigen. Sie verlangen also eine Regierung der eingreifenden und umwälzenden Reformen.

Das ist der „Staatssozialismus“ der Arbeiterklasse. Ein solcher Staatssozialismus ist natürlich unmöglich ohne den sicheren Rückhalt des Vertrauens der arbeitenden Volksmassen. Er ist nicht möglich mit der Zwangsakte von 1878.

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Man mag offiziös und reptilisch8 Millionen von Spalten füllen und die Volksmassen belehren, daß jenes Gesetz nur gegen „revolutionären Umsturz“ gerichtet, die Volksmassen begreifen, und von Jahr zu Jahr mehr, jenes Gesetz als ein Gesetz gegen die Arbeiterklasse und, was das wichtigste, als ein ökonomisches Fesselungsgesetz.

Einige unsichere Schritte hat Deutschland auf dem Weg der Sozialreform getan. Die Logik der Tatsachen wird zu weiteren Schritten zwingen, aber unter anderer Führung als der des agrarischen Junkertums. Es ist dies der geschichtlich notwendige Weg.

„Notwendige Entwicklungsstufen lassen sich nicht überspringen, nicht wegdekretieren, aber die Geburtswehen lassen sich abkürzen und mildern.“9 Diese Geburtshelferaufgabe hat der Sozialreformstaat im Sinne der Arbeiterklasse. Wenn also, und damit können wir diese Darlegungen schließen, jetzt wieder so viel von einem Gegensatz einer revolutionären und „gemäßigten, staatsfreundlichen“ Richtung innerhalb der Sozialdemokratie die Rede, so hat diese letzterer nur einen Sinn, wenn ihr Staatsgedanke den hier dargelegten Inhalt, ihr Staatswille diesen Zweck hat. Sie will Reformen, aber eingreifende Reformen, die Umwandlung des bürgerlichen Klassenstaats ─ von innen heraus ─ in den humanen Kulturstaat. Auch für die gemäßigte Richtung heißt es schieben und nicht geschoben werden oder habeo, non habeor! Nicht die Arbeiterklasse unterwirft sich dem bürgerlichen Staat, die Staatsgewalt vielmehr tritt und muß treten in den Dienst der Arbeiterbewegung. In diesem Sinn sind Marx10 und Lassalle, Marxismus und Lassalleanismus eins und marschieren geschlossen!

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Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Lassalle, Ferdinand (1825–1864) , Schriftsteller, Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
  • Lohmann, Theodor (1831–1905) , Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Marx, Dr. Karl (1818–1883) , Philosoph, Schriftsteller in London, Mitbegründer der Internationalen Arbeiterassoziation und deren Generalsekretär

Sachindex

  • Agitation
  • Arbeitsvertrag
  • Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (15.6.1883)
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Unfallversicherungsgesetz(6.7.1884)
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Kultur
  • Recht auf Arbeit
  • Reichsregierung
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1884
  • Revolution
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Staatssozialismus
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Vagabunden
  • 1„Das Recht auf Arbeit. Sozialpolitische Wochenschrift“ erschien seit 1884 in München. Herausgeber der gemäßigt sozialdemokratischen Zeitung war Louis Viereck. »
  • 2Der Artikel ist mit Rr gekennzeichnet. »
  • 3Am 18.2.1886 hatten im Reichstag die Debatten über eine dritte Verlängerung des Sozialistengesetzes begonnen. Die Regierung wünschte eine Verlängerung um fünf Jahre; am 2.4. 1886 beschloß der Reichstag mit 169 zu 137 Stimmen eine Verlängerung auf zwei Jahre. »
  • 4Vgl. Nr. 30 u. Nr. 32 Bd. 6 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 5Die Sterbetafeln geben die Sterbewahrscheinlichkeit bzw. die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen in einem bestimmten Alter an. Die ersten Sterbetafeln wurden 1661 bzw. 1691 von dem englischen Statistiker John Graunt und dem englischen Astronomen und Mathematiker Edmund Halley berechnet. Deutsche Sterbetafeln für 1871─1881 sind zuerst 1887 veröffentlicht worden. »
  • 6Vgl. Nr. 9. »
  • 7Am 9.5.1884, vgl. Nr. 166 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 8Gemeint sind Presseveröffentlichungen, die über Bismarcks Geheimfonds („Reptilienfonds“) finanziert wurden. »
  • 9Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie, Hamburg 1867, S. XI (Marx-Engels-Gesamtausgabe, II. Abteilung Bd. 5, S. 14). »
  • 10Dr. Karl Marx (1818─1883), Schriftsteller, sozialistischer Theoretiker, Mitbegründer der Internationalen Arbeiterassoziation und deren Generalsekretär. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 68, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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