II. Abteilung, Band 1

Nr. 56

1884 Oktober 3 [u. 10]

Der Regulator1 Nr. 3─4 Sozialreform und Arbeiterfrage

Druck

Die Sozialreform hält die Arbeiter auf der untersten Stufe der Gesellschaft; Zwangsversicherung bevormundet die Arbeiter; der eingeschlagene Weg führt in die Katastrophe

Für die nächste Zeit steht dem deutschen Staatsbürger und somit auch dem Arbeiter wiederum eine große Aufregung bevor. Schon jetzt liest man in den Tageszeitungen aller Parteischattierungen über stattgehabte Versammlungen, in welchen die Kandidaten für den Reichstag ihre Stellung präzisieren. Nach Bekanntmachung des „Reichsanzeigers“ finden die Wahlen zum Reichstag am 28. Oktober d. J. statt. Der letzte Reichstag hat in Sozialgesetzgebung produktiv viel geleistet.2

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Wenn die Sozialreform nichts anderes ist, so schreibt die „Nation“3, als eine zwangsweise Gruppierung der menschlichen Gesellschaft in Berufsstände, so steht der Arbeiter auf der untersten Stufe.

Dafür soll er nun entschädigt werden durch Beseitigung gewisser Notstände, welche allerdings, je tiefer die Vermögensstufe ist, desto mehr drücken. Der Arbeiter soll gesichert werden gegen die ökonomischen Folgen von Krankheit, Betriebsunfällen, Alter, Invalidität und Arbeitslosigkeit. Der Staat soll durch Gesetz und durch die Wirksamkeit seiner Behörden dafür sorgen, daß der Arbeiter in allen solchen Fällen die genügende Hilfe findet, und zwar nicht aus Mildtätigkeit, sondern von Rechts wegen. Dem Arbeiter soll dadurch eine leidliche Existenz gesichert, er soll dadurch mit dem Umstand, daß er auf der untersten Stufe der Gesellschaftsordnung steht, versöhnt werden.

Aber er wird gerade durch diese Mittel auch auf der untersten Stufe festgehalten.

Bei der Krankenversicherung bezahlt der Arbeiter den größten Teil und bei den freien Hilfskassen das Ganze der zur Unterhaltung der Kasse nötigen Gelder selbst.

Bei der Unfallversicherung trägt er allerdings nur einen geringeren Teil direkt, nämlich durch die Karenzzeit, den anderen größeren Teil hat der Arbeitgeber zu übernehmen; unter Umständen wird er ihn ganz oder teilweise auf den Arbeiter abwälzen, d. h. den Arbeitslohn entsprechend ermäßigen.

Die bei weitem größte Belastung würde aber dem Arbeiter die staatliche Versicherung gegen Alter, Invalidität und Arbeitslosigkeit bringen. Diese erfordert sehr große Summen.

Wie man auch die Form ihrer Aufbringung wählen mag, sei es also, daß, wie bei den Zwangskrankenkassen, eine Teilung der Beiträge zwischen Arbeitern und Arbeitgebern stattfindet, sei es, daß erstere oder letztere allein oder mit Unterstützung des Staates sie aufbringen, in allen Fällen wird dieser Beitrag in der Hauptsache aus der Tasche des Arbeiters selbst kommen. Der Arbeitgeber wird seinen Beitrag, wenn er einigermaßen beträchtlich ist, bei den Produktionskosten zu betrachten haben und wird, wenn diese nicht entsprechend höhere sein dürfen, versuchen, den Lohn entsprechen zu kürzen, und wenn der Staat erhebliche Zuschüsse zahlt, so muß er sie durch Steuern aufbringen, welche wieder zum größten Teil auf den arbeitenden Klassen liegen werden.

Ist es nun richtig, dem Arbeiter in solcher Weise eine erhebliche Summe von seinem Einkommen fortzunehmen?

Man wird sich gegenwärtig halten müssen, was es bei einem Einkommen, welches bestenfalls nicht weit über die gewöhnliche Lebenserhaltung hinausreicht, heißt, auch nur einen, absolut betrachtet, geringen Betrag wegzunehmen. Dadurch wird nicht nur oft dem Arbeiter gerade das entzogen, was ihm das Leben noch einigermaßen angenehm macht; diese Entziehung kann ihn auch noch weit schwerer treffen, d. h. geradezu seine Lebenshaltung auf ein niedriges Niveau herabdrücken.

Keinem andern Stand wird vorgeschrieben, wie er sein Einkommen für sich selbst verwenden soll; von allen übrigen Ständen begnügt der Staat sich Beiträge zu fordern zu allgemeinen Staatszwecken. Es ist in der Tat eine große Zurücksetzung des Arbeiters, daß von Staats wegen über einen nicht unerheblichen Teil seiner Einnahme ohne weiteres verfügt wird. Die dadurch geübte Bevormundung wird um so mehr [ Druckseite 251 ] gefühlt werden, je mehr sie zur praktischen Wirksamkeit gelangt, je mehr in einzelnen Fällen der Arbeiter einsieht, daß er das, was er auf die Versicherung zu verwenden gezwungen ist, in einer für ihn sehr viel nützlicheren Weise hätte anlegen können. Ist es nicht in der Tat für sehr viele Arbeiter weitaus zweckmäßiger, einen Teil ihres Einkommens auszugeben zur Verbesserung ihrer Bildung und sich damit für die Zukunft ein wesentlich höheres Einkommen zu verschaffen? Ist es nicht für den jüngeren Arbeiter die nützlichste Verwendung seiner Ersparnisse, wenn er sich seinen künftigen Hausstand davon einrichtet, oder für den ländlichen Arbeiter, wenn er ein eigenes Ackerstück erwirbt?

Die ausschließliche Richtung der Staatsfürsorge für die Arbeiter auf das Versicherungswesen führt nun schon deshalb, weil die Tätig[keit] aller staatlichen Organe auf diesem Gebiet in Anspruch genommen wird, dazu, andere Mittel zurückzustellen. Weit weniger denkt man an Maßregeln für Sicherung des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter im Fabrikbetrieb. Ganz in den Gedankengang, aus welchem die Zwangsversicherung entsprungen, paßt, daß man in den Unfallberufsgenossenschaften unbedenklich große Assoziationen der Arbeitgeber schafft, welche deren Macht gegenüber den Arbeitern wesentlich verstärkt, gleichzeitig aber nicht nur jede Organisation der Arbeiter für sich sowohl im Krankenkassenwesen als auch bei der Unfallversicherung nach Möglichkeit hindert; daß man ferner ihr Interesse bei der Innungsgesetzgebung vernachlässigt, daß man sie unter den Zwang der Arbeitsbücher stellen möchte u. dgl. m.

Alle zum Besten der arbeitenden Klassen bestimmten Maßregeln dürfen niemals die Selbständigkeit und Weiterentwicklung des Arbeiters dadurch hindern, daß sie ihm für solche Dinge die Fürsorge abnehmen, für welche er selbst sorgen kann; sie müssen im Gegenteil darauf abzielen, ihn zu größerer Selbständigkeit zu erheben. Das ist das eigentliche Grundprinzip für alle Schritte zum Besten der Arbeiter, ganz besonders aber für staatliche Einrichtungen zu diesem Behuf. Darum liegt dem Staat vorzugsweise ob, dem Arbeiter Schutz ─ in weitestem Sinn ─ für seine Entwicklung und seine Bestrebungen zu gewähren. An erster Stelle gehören dahin Maßregeln zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter im Betrieb und zum Schutz gegen Bedrückung durch die Arbeitgeber.

Das Vereinswesen ist, wie die Erfahrung namentlich Englands gezeigt hat, für die Arbeiter die beste Erziehung, nicht bloß wirtschaftlich, sondern auch moralisch und politisch; es hat dort einen selbständigen, aber auch gesetzestreuen und die bestehenden Zustände achtenden Arbeiterstand geschaffen und das revolutionäre Element überwunden, weil es ein reiches Feld der Tätigkeit und die Möglichkeit großer Erfolge auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung bot. Heute sind die korporativen und Unterstützungsvereine, selbst die lange Zeit so bitter gehaßten Trade-Unions (Gewerkvereine) die besten Stützen der Ruhe und Ordnung und selbst feste Dämme gegen revolutionäre Ideen geworden.

Freilich darf der Staat gerade auf diesem Gebiet nicht mit seiner Zwangsgewalt eintreten; er muß im Gegenteil der freien Gestaltung nach lokalen und selbst persönlichen Verhältnissen möglichst freien Spielraum lassen; seine Aufgabe ist die Schaffung geeigneter Rechtsformen und die Beschaffung genügenden wissenschaftlichen und statistischen Materials und Rats für die Geschäftsgebarung der Vereine.4

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Es ist wohl kaum zu erwarten, daß die Regierung von dem jetzt eingeschlagenen Weg, den Arbeiter von oben her glücklich machen zu wollen, so bald abweisen [recte: abweichen] wird, trotzdem die schon früher im Reichstag von den Abgeordneten ausgesprochenen Bedenken gegen die sozialpolitischen Unternehmungen der Regierung sich mehr und mehr bewahrheiten. Die Bildung der Genossenschaften für die Unfallversicherung wird, wie die Verhältnisse augenblicklich liegen, der Regierung noch manche Schwierigkeit bereiten.5 Es wird kaum ohne Schädigung der mehr oder weniger berechtigten Sonderinteressen der Beteiligten abgehen.

Trotzdem alle diese ungünstigen Erfahrungen täglich gemacht werden, schwebt immer noch, wenn auch bis jetzt nur als Nebelgebilde, die geplante staatliche Invaliden- und Altersversorgung der Arbeiter in der Luft. Möglich ist es, daß, je nachdem der nächste Reichstag zusammengesetzt ist, dieses Gebilde mehr Gestalt gewinnt. Leichtlebige Menschen, welche sich nicht die Mühe geben, über alle derartige Schöpfungen, wie sie in den letzten Jahren zutage getreten und noch zu erwarten sind, nachzudenken sowie solche, welche aus irgendeinem Grund die Regierung in ihren Plänen unterstützen, finden denn ja auch den Weg, welchen die Regierung eingeschlagen, für einen sehr guten, für den Arbeiter sehr vorteilhaften. Sie halten das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz für eine große Verbesserung der Arbeiterverhältnisse.

Sie hoffen, daß auch die Regierung mit der Altersversorgung der Arbeiter vorgehen wird, und vergessen hierbei, ob absichtlich oder aus Bequemlichkeit, wer weiß es, sich ernstlich zu fragen, wo die Mittel hierzu hergenommen werden sollen. Ist es wirklich rätlich, dem Arbeiter, welcher durch die jetzt bestehenden Versicherungsgesetze schon belastet genug ist, noch mehr aufzubürden? Und mit welchem Recht drängt man den Arbeiter immer mehr und mehr aus den übrigen Klassen der Gesellschaft heraus? Man predigt dem Arbeiter fort und fort, er sei schon durch seine Geburt als Armer, Mittelloser von der Natur stiefmütterlich behandelt, und der Staat müsse hier vermittelnd eintreten und ihm helfen. Wohin soll das führen, und wie soll das enden?

Diejenigen, welche diesen Weg einschlagen, vergessen hierbei, oder was noch schlimmer wäre, sie haben die Absicht, es dahin zu bringen, daß der Arbeiter entwöhnt wird, über sein Lage selbst nachzudenken und in Gemeinschaft mit seinen Kollegen selbst Schritte zur Verbesserung seiner Lage zu tun. Glauben denn diese modernen Arbeiterbeglücker, daß es später möglich sein wird, den Stein, welchen sie zum Rollen gebracht, im Lauf anhalten zu können? Die gesetzgebenden Faktoren haben es in der Hand, durch Gesetz, bei Gewährung der nötigen freiheitlichen Bewegung, dahin zu wirken, daß derartige Bestrebungen der Arbeiter, ihre Lage zu verbessern, nicht ausarten können. Will man dieses nicht und behält den jetzt eingeschlagenen Weg bei, so wird man später auf dieser Seite, für welche jetzt von Staats wegen alles mögliche geschehen soll, mit dem Gegebenen nicht mehr zufrieden sein und wird verlangen. Wird der Arbeiter erst mehr und mehr zur Einsicht kommen, daß alles dasjenige, was ihm jetzt quasi von Staats wegen geboten wird, er ja doch zum weitaus größten Teil selbst aufbringen muß, und wo sollte es sonst auch herkommen, so wird er statt des ihm jetzt gesetzlich Aufgedrängtem von selbst Forderungen und viel weitergehende Forderungen an den Staat stellen, und der sozialistische [ Druckseite 253 ] Staat ist fertig. Was dann verlangt werden wird, kann vom Staat nicht gewährt werden, und wir stehen vor einer Katastrophe, deren Folgen für Staat und Gesellschaft sehr gefährlich sein müssen.

Alle diejenigen, welche eine solche Katastrophe nicht wollen, sowie die Arbeiter, für welche ja die angeführten Gesetze gemacht sind, haben sich wohl zu überlegen, wie es gekommen ist, daß solche Gesetze zustande gekommen sind. Denn die Regierung hat diese Gesetze nicht allein gemacht, sie hat auch gar kein Recht, Gesetze allein zu machen; es bedarf hierzu, und im ausgiebigsten Maß, der Mitwirkung des deutschen Reichstags. Wir stehen vor der Neuwahl. Lassen wir daher die im vergangenen Reichstag gewesenen Vertreter des Volkes Revue passieren, und sehen wir, wer seinen Versprechungen gerecht geworden ist und wer nicht. Diese Aufgaben wollen wir im nächsten Artikel erledigen.6

Registerinformationen

Regionen

  • England

Personen

  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Liebknecht, Wilhelm (1826–1900) , Journalist in Borsdorf (Amtshauptmannschaft Grimma), MdR (Sozialdemokrat)
  • Schrader, Karl (1834–1913) , Eisenbahndirektor a. D. in Berlin, MdR (Freisinn)

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeitervereine, siehe auch Gewerkvereine
  • Arbeitgeber
  • Arbeitsbuch
  • Arbeitslosenversicherung
  • Arbeitslosigkeit, siehe auch Arbeitslosenversicherung
  • Beiträge zur Arbeiterversicherung
  • Berufsgenossenschaften
  • Fabrik
  • Gefahrenschutz
  • Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung („Innungsgesetz“) (18.7.1881)
  • Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (15.6.1883)
  • Unfallversicherungsgesetz(6.7.1884)
  • Hilfskassen
  • Innungen
  • Landarbeiter
  • Lohn
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Presse
  • Presse – Der Gewerkverein
  • Presse – Die Nation
  • Presse – Provinzial-Correspondenz
  • Reichskanzler
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Reichstagswahlen
  • Reichstagswahlen – 1884
  • Revolution
  • Selbsthilfe
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Sparen
  • Staatssozialismus
  • Staatszuschuß
  • Trade-Unions
  • Versicherungszwang
  • 1Der Regulator. Organ des Gewerkvereins der deutschen Maschinenbau- und Metallarbeiter (Hirsch-Duncker), Nr. 3 vom 3.10.1884 und Nr. 4 vom 10.10.1884. „Der Regulator“ erschien seit dem 5.9.1884 wöchentlich in Berlin. Verantwortlicher Redakteur war Hugo Kamin. »
  • 2Gemeint sind die Verabschiedung des Krankenversicherungsgesetzes und des Unfallversicherungsgesetzes. »
  • 3Der „Regulator“ greift in den folgenden Textpassagen auf einen von Karl Schrader verfaßten Artikel in der „Nation“ zurück, vgl. Nr. 53. »
  • 4Ab hier Nr. 4 vom 10.10.1884. »
  • 5Zur Gründung der Berufsgenossenschaften der Unfallversicherung vgl. Bd. 2, 2. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 6Dieser Artikel erschien als dritter und letzter Teil der Folge „Sozialreform und Arbeiterfrage“ in Nr. 6 vom 24.10.1884. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 56, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0056

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