II. Abteilung, Band 1

Nr. 36

1883 April 14

Botschaft1 Kaiser Wilhelm I. an den Reichstag2

Druck

Die Fortführung der Sozialreformen bzw. der Gesetzgebung zur Unfallversicherung wird angemahnt

Wir haben es jederzeit als eine der ersten von Uns als Kaiser übernommenen Pflichten erkannt, der Lage der arbeitenden Klassen im ganzen Reich dieselbe Fürsorge und Pflege zuzuwenden, welche Wir in Preußen zur Fortbildung der von Unserm in Gott ruhenden Vater im Anfang dieses Jahrhunderts begründeten Reformen zu betätigen suchen. Wir haben Uns diese Pflicht besonders gegenwärtig gehalten seit dem Erlaß des Sozialistengesetzes und schon damals Unsere Überzeugung kundgegeben, daß die Gesetzgebung sich nicht auf polizeiliche und strafrechtliche Maßregeln zur Unterdrückung und Abwehr staatsgefährlicher Umtriebe beschränken darf, sondern suchen muß, zur Heilung oder doch zur Minderung des durch Strafgesetze bekämpften Übels Reformen einzuführen, welche dem Wohle der Arbeiter förderlich und die Lage derselben zu bessern und zu sichern geeignet sind.

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Wir haben diese Überzeugung insbesondere in Unserer Botschaft vom 17. November 1881 Ausdruck gegeben3 und Uns gefreut, als einen ersten Erfolg Unserer Sorgen und Bestrebungen in dieser Richtung in Unserem Königreich Preußen wenigstens die beiden ersten Stufen der Klassensteuerpflichtigen von dieser Abgabe an den Staat befreien zu können.4

Dankbar für die einmütige Unterstützung Unserer hohen Verbündeten, dankbar für die hingebende Arbeit Unserer Behörden, sehen Wir auch auf dem Gebiet der Reichsgesetzgebung den Anfang des Reformwerks so weit gediehen, daß dem Reichstag beim Beginn der jetzigen Session der Entwurf eines Gesetzes über Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle in neuer, mit Rücksicht auf die früheren Verhandlungen umgearbeiteten Fassung vorgelegt5 und ergänzt werden konnte durch einen Gesetzentwurf zur Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens.6

Seitdem haben Wir den Verhandlungen des Reichstags über diese Vorlagen mit besonderer Aufmerksamkeit folgend und zu jeder möglichen Erleichterung derselben gern die Hand bietend, an dem Wunsch wie an der Hoffnung festgehalten, daß diese Session des Reichstags nicht zu Ende gehen werde, ohne daß jene Vorlagen in einer ihrem Zweck entsprechenden, ihre Ziele sichernden und ihre Sanktion als Gesetze ermöglichenden Gestalt zur Annahme gelangten.

Wir haben auch mit Anerkennung und Befriedigung gesehen, wie die ernste Arbeit, welche der Beratung des Krankenkassengesetzes gewidmet worden ist, diesen Teil der Gesamtaufgabe bereits so weit gefördert hat, daß in bezug auf ihn die Erfüllung Unserer Erwartungen kaum mehr zweifelhaft erscheint.7

Mit Sorge aber erfüllt es Uns, daß die prinzipiell wichtigere Vorlage über die Unfallversicherung bisher nicht weiter gefördert worden ist und daß daher auf deren baldige Durchberatung nicht mit gleicher Sicherheit gerechnet werden kann.8 Bliebe diese Vorlage jetzt unerledigt, so würde auch die Hoffnung, daß in der nächsten Session weitere Vorlagen wegen der Alters- und Invalidenversorgung zur gesetzlichen Verabschiedung gebracht werden könnten, völlig schwinden, wenn die Beratungen des Reichshaushaltsetats für 1884/85 die Zeit und Kraft des Reichstags noch während der Wintersession in Anspruch nehmen müßten.

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Wir haben deshalb für geboten erachtet, die Zustimmung der verbündeten Regierungen dahin zu beantragen, daß der Entwurf des Reichshaushaltsetats für 1884/85 dem Reichstag jetzt von neuem zur Beschlußnahme vorgelegt werde. Wenn dann die Vorlage über die Unfallversicherung, wie nach dem Stand ihrer Bearbeitung zu befürchten steht, in der laufenden Frühjahrssession vom Reichstag nicht mehr beraten und festgestellt wird, so würde durch vorgängige Beratung des nächstjährigen Etats wenigstens für die Wintersession diejenige Freiheit von anderen unaufschieblichen Geschäften gewonnen werden, welche erforderlich ist, um wirksame Reformen auf sozialpolitischem Gebiet zur Reife zu bringen. Die dazu erforderliche Zeit ist eine lange für die Empfindungen, mit welchen Wir in Unserem Lebensalter auf die Größe der Aufgaben blicken, welche zu lösen sind, ehe Unsere in der Botschaft vom 17. November 1881 ausgesprochenen Intentionen eine praktische Betätigung auch nur soweit erhalten, daß sie bei den Beteiligten volles Verständnis und infolgedessen auch volles Vertrauen finden.

Unsere kaiserlichen Pflichten gebieten Uns aber, kein in Unserer Macht stehendes Mittel zu versäumen, um die Besserung der Lage der Arbeiter und den Frieden der Berufsklassen untereinander zu fördern, solange Gott Uns Frist gibt, zu wirken.

Darum wollen Wir dem Reichstag durch diese Unsere Botschaft von neuem und in vertrauensvoller Anrufung seines bewährten treuen Sinnes für Kaiser und Reich die baldige Erledigung der hierin bezeichneten wichtigen Vorlagen dringend ans Herz legen.

Registerinformationen

Personen

  • Friedrich Wilhelm (1831–1888) , preußischer Kronprinz; später als Friedrich III. deutscher Kaiser
  • Gneist, Dr. Rudolf (1816–1895) , Professor für Zivilrecht und Pandekten in , Berlin, MdR , (nationalliberal)
  • Ratibor, Viktor Herzog von (1818–1893) , Fideikommißbesitzer in Schloß Rauden , (Kreis Rybnik), Präsident des preußischen Herrenhauses
  • Rötger, Max (1830–1886) , Präsident der preußischen Seehandlung
  • Schrader, Karl (1834–1913) , Eisenbahndirektor a. D. in Berlin, MdR (Freisinn)

Sachindex

  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Bundesregierungen
  • Etat, Reichsetat
  • Gesetz, betreffend die Aufhebung der beiden untersten Stufen der Klassensteuer (26.3.1883)
  • Krankenversicherung, siehe auch Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter
  • Presse
  • Presse – Kölnische Zeitung
  • Presse – Volkswohl
  • Steuern
  • Stiftungen
  • Stiftungen – Friedrich-Wilhelm- und Viktoria-Stiftung
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • 1Stenographische Berichte des Reichstags, 5. LP II. Session 1882/1883, Drucksache Nr. 246; Entwurf von der Hand Bosses (Entwurf A): BArch R 43 Nr. 1819, fol. 82─86; Entwurf von der Hand des preußischen Finanzministers Adolf Scholz (Entwurf B) mit Abänderungen Bismarcks: fol. 87─94 Rs.; Reinentwurf (Entwurf C) mit weiteren Abänderungen Bismarcks: fol. 95─102 Rs.; Reinschrift (mundiert 13.4.[18]83): ebenda, fol. 103─107 Rs. Die Botschaft wurde von Finanzminister Adolf Scholz verlesen (66. Sitzung vom 14.4. 1883, Sten.Ber.RT 5. LP II. Session 1882/1883, S. 1956). Dieser war während der Abwesenheit v. Boettichers, der in der Zeit von Januar bis Mai 1883 erkrankt war, Stellvertreter des Reichskanzlers.Adolf Scholz hatte am 8.4.1883 den ihm von Bosse zugestellten Entwurf (A) zusammen mit dem von ihm selbst entworfenen Entwurf (B) an Bismarck gesandt und dazu vermerkt: Da es mir zweifelhaft erschien, ob derselbe (Entwurf A) seiner ganzen Anordnung nach als erstes Konzept dienen könnte, habe ich von einer Amendierung desselben im einzelnen abgesehen und erlaube ich mir, einen Entwurf B zu geneigter Prüfung beizufügen (Ausfertigung: R 43 Nr. 1819, fol. 81─81 Rs.). Bismarck hat diesen Entwurf B zu dem Entwurf C umgearbeitet und an der Reinschrift noch weitere Abänderungen vorgenommen. »
  • 2Vgl. dazu auch Nr. 35. »
  • 3Vgl. Nr. 9. »
  • 4Vgl. das Gesetz, betreffend die Aufhebung der beiden untersten Stufen der Klassensteuer, vom 26.3.1883 (PrGS, S. 37). »
  • 5Der Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, wurde am 8.5.1882 dem Reichstag vorgelegt (Sten.Ber. RT 5. LP II. Session 1882/1883, Drucksache Nr. 19; Abdruck: Nr. 57 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 6Der Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, wurde am 29.4.1882 dem Reichstag vorgelegt (Sten.Ber. RT 5. LP II. Session 1882/1883, Drucksache Nr. 14; Abdruck in Bd. 5 der II. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 7Die nach Bismarcks Auffassung nachrangige Krankenversicherungsvorlage war von diesem nur genehmigt worden, weil die Unfallversicherungsvorlage mehr oder weniger gleichzeitig eingebracht wurde. Im Verlauf der langwierigen Kommissionsberatungen im Reichstag wurde dann die Krankenversicherungsvorlage vorgezogen und das Gesetz am 15.6.1883 verabschiedet (RGBl, S. 73). »
  • 8Tatsächlich wurde die zweite Unfallversicherungsvorlage in der Kommission vorberaten, aber kein schriftlicher Kommissionsbericht erstellt. Die Vorlage scheiterte insgesamt am 12.6.1883 im Reichstag, vgl. Nr. 94 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 36, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0036

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