II. Abteilung, Band 1

Nr. 25

1881 Dezember 19

Tagebucheintragung1 des Kronprinzen Friedrich Wilhelm

Eigenhändige Aufzeichnung

Ablehnung der Bismarckschen Reformpläne, insbesondere der damit verbundenen Stärkung zentraler Instanzen zu Lasten der lokalen Selbstverwaltung

Sonnig blauer Himmel. Charlotte2 fiebert und hat geröteten Hals, aber gottlob nichts Besorgliches. Solchen Blödsinn lese ich nun alle Tage.3 Niemals hat S[eine] M[ajestät] weniger als gerade in diesem Jahr mit mir über irgendeine ernste Frage gesprochen, vielmehr geht alles nur zwischen S. M. und Bismarck, bei dem ich jetzt öfters bin, um Eulenburgs4 Beförderung zu betreiben!

Diese Pressesprache soll ─ natürlich inspiriert ─ den Glauben erwecken, als sei ich durch Bismarck gewonnen und billige völlig seine Politik nach innen, namentl[ich] soziale Reformbestrebungen, durch welche er eine Umgestaltung unserer sozialen Verhältnisse bezweckte, um das Schwergewicht bei Leitung der inneren Angelegenheiten noch entschiedener und näher, als es bereits der Fall ist, an den Thron heranzurücken [ Druckseite 106 ] und des Volks Beteiligung durch parlament[arische] Vertreter auf eine Art Veto zu beschränken für Gesetzgebung, während der Krone und Ministern die Initiativen vorbehalten blieben. Ich billige sie nicht, wiewohl ich das Streben nach Reformen teile, um der Sache willen! Änderungen der Armen- und Arbeitergesetzgebung, Umgestaltung der Reichsverfassung, Übernahme von Lasten und daraus sich ergebenden Vorrechten der Gemeinden in bezug auf Schule und Armenverwaltung, Beseitigung der direkten Steuern und dadurch des Einnahme-Bewilligungsrechts der Volksvertretung, Verkürzung der Befugnisse örtl[icher] Organe bei der im Zuge befindl[ichen] Verwaltungsreform, Schaffung neuer Beratungskörper neben der verfassungsmäß[igen] gesetzgeber[ischen] Volksvertretung, das sind die Bismarckschen Tendenzen.

Registerinformationen

Personen

  • Hinzpeter, Dr. Georg (1827–1907) , Philologe, Geheimer Regierungsrat in Bielefeld, Erzieher Wilhelm II.

Sachindex

  • Armenpflege
  • Gemeinden, Kommunen
  • Korporationen
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Reichsverfassung
  • Revolution
  • Selbstverwaltung
  • Soziale Frage
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Steuern
  • 1GStA Berlin BPH Rep. 52 F 1 Nr. 7 u, fol. 353. »
  • 2Charlotte (1860─1919), Prinzessin von Preußen, Tochter Friedrich Wilhelms. »
  • 3Friedrich Wilhelm bezieht sich hier auf einen in das Tagebuch eingeklebten Zeitungsabschnitt, in dem ─ in der Datierung allerdings nicht ganz zutreffend ─ berichtet wird: Der Audienz des Fürsten Bismarck am Sonnabend beim Kaiser und dem darauf folgenden Besuch des Kronprinzen beim Reichskanzler wird allgemein große Aufmerksamkeit zugewandt. »
  • 4Dr. Philipp Graf zu Eulenburg und Hertefeld (1847─1921), seit 1881 Legationssekretär der preußischen Gesandtschaft in München. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 25, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0025

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