II. Abteilung, Band 1

Nr. 23

1881 November 29

Jahresbericht1 des Generalsekretärs Henry Axel Bueck2 für die 11. Generalversammlung des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen3

Druck, Teildruck

Die Arbeiter sind für die von Bismarck gewünschte Alters- und Invalidenversicherung noch nicht reif

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Wenn wir das Charakteristische unserer Zeit recht würdigen wollen, so dürfen wir nur einen Rückblick auf die letzten drei Jahre werfen, um zu erkennen, wie schnell unsere Zeit voranschreitet und wie großartig die Fragen sind, die sich in dem kleinen Zeitraum weniger Jahre abspielen, indem sie uns ausnehmend beschäftigen. Während vor 3 Jahren die große Frage der Zollpolitik alle Aufmerksamkeit auf sich zog, [ Druckseite 96 ] war das folgende Jahr fast gänzlich ausgefüllt mit der Frage der Verstaatlichung der Eisenbahnen, und im abgelaufenen Jahr sind es die Pläne gewesen, die sich auf die Besserung unserer sozialen Zustände richteten, welche wiederum unser Interesse in ganz außerordentlichem Maß berührten und auch die Tätigkeit des einzelnen wie des Vereins in hervorragendem Grad in Anspruch nahmen.

Es war zunächst, meine Herren, um an die vorige Generalversammlung vom 24. Februar anzuknüpfen, gerade die Frage des Unfallversicherungsgesetzes, die die ganze Sitzung ausfüllte.4 Anknüpfend an diese Verhandlung und an die Vorlage, welche bald darauf im Reichstag eingebracht wurde, hat sich unser Verein eingehend mit dieser Frage beschäftigt in mehreren Vorstandssitzungen, in Sitzungen besonderer Kommissionen und in Sitzungen, die er gemeinsam mit der nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller abgehalten hat. Beide Vereine haben vollständig dieselben Gesichtspunkte verfolgt. Die Mitglieder unseres Vereins haben diesen Gesetzentwurf mit Wohlwollen aufgenommen, aber gegen einzelne Bestimmungen desselben doch sehr ernsten Widerspruch zu erheben sich veranlaßt gesehen. Wir haben uns bemüht, Ihnen in den „Mittheilungen“ das vollständige Material, sämtliche Vorlagen des Bundesrats, den Entwurf nach den Änderungen durch die Kommission des Reichstags sowie nach den Beschlüssen des Reichstags selbst zu unterbreiten. Es ist in den „Mittheilungen“ auch die Petition erschienen, die Ihr Vorstand an den hohen Bundesrat richtete; ich kann also annehmen, daß Sie vollständig mit den Intentionen des Vereins vertraut sind, wenigstens an Gelegenheit dazu hat es Ihnen nicht gefehlt, und ich will einstweilen nicht weiter auf diese Angelegenheit eingehen. Es ist außer der Unfallversicherung die große Frage der Invaliden- und Altersversorgung aufgetaucht. Nicht nur in den Zeitungen ist erwähnt worden,5 daß Fürst Bismarck dieses Projekt verfolgt, sondern er selbst hat sich ja zur Genüge darüber ausgesprochen.6 Unser Verein hat nicht Gelegenheit gehabt, sich über diese Frage zu äußern, aber der Zentralverband Deutscher Industrieller hat dieselbe auf die Tagesordnung seiner Delegierten-Versammlung am 26. September gesetzt, und mir war zu meinem lebhaften Bedauern der Auftrag erteilt worden, über diese Frage zu referieren, ohne daß ich vorher Gelegenheit hatte, die Ansicht unseres Vereins kennenzulernen.7 Ich glaube aber doch behaupten zu dürfen, daß ich bei dem innigen Verkehr, welcher zwischen mir und den Trägern der hiesigen [ Druckseite 97 ] Industrie stattfindet, so viel Fühlung mit denselben habe, daß ich glaubte, diesen Auftrag erfüllen zu können mit der Überzeugung, die Ansichten der Herren wenigstens im großen und ganzen zur Geltung zu bringen. Ich habe daher den Standpunkt eingenommen, der um so eher von mir vertreten werden konnte, als er meiner innigsten Überzeugung vollständig entsprach, daß die Absicht eine in hohem Grad hochzuhaltende, eine großartige wohlwollende Idee sei, die ausgeführt sicherlich sehr viel zur Besserung unserer gesamten, namentlich der sozialen Zustände beitragen würde. Ich glaubte aber mich dahin aussprechen zu sollen, daß eine Verwirklichung der Idee, namentlich auf dem Weg, der in den öffentlichen Blättern als ein solcher bezeichnet wurde, in absehbarer Zeit nicht zu erreichen sein würde. Ich habe auch geglaubt, meine Ansicht dahin aussprechen zu dürfen, daß unsere allgemeinen Kulturverhältnisse noch nicht weit genug vorgeschritten sind, um durch einen willkürlichen Akt der Gesetzgebung eine so großartige soziale Reform herbeizuführen. Ganz wesentlich hat mich aber zu dieser Ansicht die Überzeugung geführt, daß ein Teil unseres Arbeiterstandes noch nicht in seinem Rechtsgefühl so weit vorgeschritten ist, um vor dem Gedanken zurückzuschrecken, mißbräuchlich Vorteil aus einer derartigen Institution zu ziehen. Ich spreche das nicht als Theoretiker aus, sondern ich habe mich viele Jahre hindurch im praktischen Leben bewegt und als Besitzer in einer Gemeinde mit ziemlich schwierigen Verhältnissen meines Amtes als Armenpfleger zu wahren gehabt,8 und da habe ich die Überzeugung gewonnen, daß, wenn ein Arbeiter unter dem Vorgeben körperlichen Unvermögens erklärt, nicht arbeiten zu können, dann keine Macht der Welt beweisen kann, daß er noch arbeiten könne. Das würde zum Mißbrauch führen; es würde dadurch die Leistungsfähigkeit unseres ganzen Arbeiterstandes in verschiedenen Richtungen herabgedrückt, und es würden überhaupt Zustände geschaffen werden, die noch mehr zur Verschlechterung als zur Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen beitragen würden. (Zustimmung) Denn, wenn von Staats wegen jedem Arbeiter von vornherein eine Pension für die Tage der Invalidität und Altersschwäche als ein von ihm in Anspruch zu nehmendes Recht zugesagt würde, so würde man das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit vermindern, und das würde der größte Schaden sein, den wir unsern sozialen Verhältnissen zufügen könnten. Mein Referat, das ich in Dresden gehalten, habe ich Ihnen in den „Mittheilungen“ zugehen lassen. Ich will bloß eine Stelle aus demselben zitieren. Ich habe gesagt: „Arm zu sein, muß niemals aufhören ein Unglück zu sein.“ Es mag dies sehr hart, sehr herzlos klingen, aber entfernen Sie heute die Perspektive, welches Elend, Mangel und Not als die Folgen von Sorglosigkeit, Indolenz, Trägheit und Liederlichkeit hinstellt, so wird mit diesem Augenblick ein großer Prozentsatz der Arme[n] erlahmen, die heute noch mit Aufgebot aller Kräfte und meistens mit Erfolg bestrebt sind, jenes traurige Schicksal von sich abzuwenden.“ (Sehr richtig!) In dem Sinn der vollsten Anerkennung der großen weltbewegenden Pläne unseres Reichskanzlers habe ich dem Zentralverband doch Resolutionen in Vorschlag bringen müssen, welche, wenn auch in der mildesten Form, den Bedenken Ausdruck gaben, die z. Z. gegen die Durchführung jener Pläne noch bestehen. Der Zentralverband [ Druckseite 98 ] hat diese Resolutionen angenommen, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich da im Sinne der Mitglieder unseres Vereins aufgetreten wäre.9 [...]

Registerinformationen

Orte

  • Berlin
  • Dresden

Personen

  • Cremer, Dr. Josef (1840–1898) , Redakteur in Berlin, konservativer Politiker
  • Diestelkamp, Karl Ludwig (1833–1912) , ev. Pfarrer in Berlin, konservativer Politiker
  • Stoecker, Adolf (1835–1909) , Hofprediger in Berlin, MdR (konservativ)

Sachindex

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  • Reichstagswahlen – 1881
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  • Soziale Frage
  • Sozialreform
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller
  • Vereine und Verbände – Zentralverband Deutscher Industrieller
  • 1Mittheilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirthschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen Nr. 11 und 12, November, December 1881, S. 592─594. »
  • 2Henry Axel Bueck (1830─1916), seit 1873 Geschäftsführer des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen, ebenfalls seit 1873 Geschäftsführer der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller. »
  • 3Der „Langnamverein“ wurde 1871 von rheinisch-westfälischen Eisen-, Textil- und Kohlenindustriellen gegründet. Vorsitzender war seit Gründung der Kohlengrubenbesitzer William Thomas Mulvany, Geschäftsführer war seit 1873 Henry Axel Bueck. »
  • 4Vgl. das Sitzungsprotokoll der 10. Generalversammlung des „Langnamvereins“ (Mittheilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirthschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen Nr. 5 u. 6, Mai, Juni 1881, S. 314─352). »
  • 5Z.B. am 2.10.1881 in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“; vgl. Nr. 204 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 6Die Frage der Altersversicherung bzw. des zu deren Finanzierung vorgesehenen Tabakmonopols hatte im Vorfeld der Reichstagswahlen vom 27.10.1881 eine erhebliche Rolle gespielt (vgl. Nr. 190, Nr. 194─198, Nr. 204─205 u. Nr. 209 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung). Für eine Errichtung einer Alters- und Invalidenversorgungsanstalt hatte sich Bismarck bereits in der Reichstagsrede vom 28.3.1881 ausgesprochen (23. Sitzung vom 28.3.1881; Sten.Ber. RT 4. LP IV. Session 1881, S. 560). »
  • 7Bueck sprach am 26.9.1881 auf der Delegiertenversammlung des Zentralverbands Deutscher Industrieller als Hauptreferent (vgl. Stenographischer Bericht der Delegirten-Versammlung in Dresden am 26. September 1881, in: Verhandlungen, Mittheilungen und Berichte des Centralverbandes Deutscher Industrieller Nr. 15, Berlin 1881, S. 4─27); vgl. Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 8Bueck bewirtschaftete von 1860 bis 1873 einen landwirtschaftlichen Betrieb in dem Dorf Stannaitschen bei Gumbinnen (vgl. Henry Axel Bueck, Mein Lebenslauf. Herausgegeben und mit einer kommentierenden Einleitung von Werner Bührer, Stuttgart 1997, S. 100─ 101). »
  • 9Die von der Delegiertenversammlung des Zentralverbands Deutscher Industrieller angenommenen Resolutionen sind abgedruckt in: Verhandlungen, Mittheilungen und Berichte des Centralverbandes Deutscher Industrieller Nr. 15, Berlin 1881, S. 25─27; vgl. Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 23, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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