II. Abteilung, Band 1

Nr. 14

1881 November 18

Volks-Zeitung1 Nr. 270, Zweites Blatt Die Thronrede

Druck, Teildruck

Kritik an Bismarcks innenpolitischen Vorhaben, insbesondere des sozialen Programms der Thronrede

Die heutige Thronrede dürfte alle die überrascht haben, welche sich der nun schon so oft getäuschten Hoffnung hingegeben hatten, der Reichskanzler werde dem Willen des Volkes, wie es in den Wahlen zum Ausdruck gekommen, irgendwelche Rechnung tragen. Wird doch selbst das Tabaksmonopol in gewissem Sinne in den Vordergrund des Programms gestellt, obwohl doch sogar das Zentrum aus seiner Abneigung gegen dies Projekt bei den Wahlen nicht das geringste Hehl gemacht hat. Dasselbe unklare Programm, mit welchem die Regierung in den Wahlkampf eintrat, wird in denselben verschwommenen Umrissen in der Thronrede entwickelt: allgemeine Volksbeglückung mit Hilfe des Tabaksmonopols, neue indirekte Steuern mit allerlei Hinweisen auf notwendige Steuererleichterungen, als ob das Experiment mit den 14 Millionen nicht noch so frisch in aller Gedächtnis wäre,2 daß gerade dieser „Steuererlaß“ wesentlich zu der Niederlage der Regierungspolitik beigetragen hat, ferner der Hinweis auf einige abgelehnte Vorlagen, dabei ein elegischer, man möchte fast sagen larmoyanter Ton, durch welchen der Appell an alle Reichstagsmitglieder ohne Unterschied der Partei und die Verwahrung gegen die Unterstellung reaktionärer Gelüste eigentümlich hindurchklingen. Das Volk hat gesprochen, aber der Reichskanzler weiß es besser ─ das ist der langen Rede kurzer Sinn, die Beglückung des Volkes wider seinen Willen ist und bleibt nun einmal das unerschütterliche Ideal. Des Kulturkampfes geschieht mit keiner Silbe Erwähnung; Beweis genug, daß man freie Hand behalten will, bis die Unterhandlungen in diesem oder jenem Sinne zum Abschluß gelangt sind.3

In diesen beiden Momenten, dem Schweigen über den Kulturkampf und dem zähen Festhalten an dem sozialen Programm, liegt wohl der Schlüssel der Situation.

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Daß sich weder auf der rechten noch auf der linken Seite ohne das Zentrum noch durch eine liberal-konservative Kombination eine Majorität für dieses Programm finden läßt, ist sattsam bekannt; wenn also der Reichskanzler in dem Maße von der Notwendigkeit seiner sozialen Reformen durchdrungen ist, wie es nach dieser Thronrede den Anschein hat, so steigen die Chancen des Zentrums erheblich. Das Zentrum selbst rechnet darauf, daß der Reichskanzler den Kulturkampf selbst zum Abschluß bringen werde; ein anderer Mann sei dieser Aufgabe nicht gewachsen. Für die Linke bleibt demgegenüber einstweilen nur übrig, die Ereignisse sich entwickeln zu lassen. Die Mahnung in der Thronrede, an die soziale Reform ohne Unterschied der Parteistellung heranzutreten, sollte indes nicht ungehört verhallen; man wird unausführbaren oder gar schädlichen Projekten am besten damit begegnen, wenn man die Grenze des Erreichbaren und Nützlichen etwas genauer absteckt, als dies bisher geschehen ist.

Über die äußere Lage sagt die Thronrede nur Günstiges; die Ansicht, daß der Name Gambetta4 die Verwirklichung des Revanchegedankens bedeute, scheint demnach doch einer ruhigeren Auffassung Platz gemacht zu haben.

Registerinformationen

Orte

  • Berlin

Personen

  • Gambetta, Leon (1838–1882) , französischer Ministerpräsident
  • Sonnemann, Leopold (1831–1909) , Herausgeber, Gründer und Mitinhaber der „Frankfurter Zeitung“
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Außenpolitik
  • Juden
  • Kinderarbeit
  • Parteien
  • Parteien – Deutsche Volkspartei
  • Parteien – Konservative
  • Parteien – Liberale
  • Presse
  • Presse – Die Post
  • Presse – Provinzial-Correspondenz
  • Sozialreform
  • 1Die „Volks-Zeitung. Organ für Jedermann aus dem Volke“ war 1853 aus der 1849 gegründeten (und 1853 polizeilich unterdrückten) „Urwählerzeitung“ hervorgegangen. Die Tageszeitung demokratischer Richtung erschien in Berlin, Verleger war Franz Duncker, Redakteur Hermann Trescher. »
  • 2Gemeint ist das Gesetz, betr. den dauernden Erlaß an Klassen- und klassifizierter Einkommenssteuer sowie die Überweisung von Steuerbeträgen an die Hohenzollernschen Lande von drei Monatsraten, vom 10.3.1881 (PrGS, S. 126), vgl. ausführlich dazu: Oswald Schneider, Bismarcks Finanz- und Wirtschaftspolitik, München u. Leipzig 1912, S. 166 ff. Die Fortschrittspartei griff diesen Gedanken des Steuererlasses positiv auf und versuchte, ihn auf Dauer zu stellen, was vermutlich zum Wahlerfolg der Partei im Sommer 1881 beitrug. »
  • 3Die sog. Friedensgesetzgebung zur Beendigung des Kulturkampfes begann erst 1886. »
  • 4Vgl. Nr. 11 Anm. 9. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 14, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0014

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