II. Abteilung, Band 1

Nr. 8

1881 November 14

Tagebucheintragung1 des preußischen Landwirtschaftsministers Dr. Robert Lucius2

Druck, Teildruck

Bericht über Bismarcks politische Auslassungen in der Staatsministerialsitzung vom gleichen Tag

Bismarck ist in Berlin eingetroffen.3 Die Stichwahlen meist ungünstig für die Rechte ausgefallen. Kardorff4, Frankenberg5, Graf Udo Stolberg6, Rauchhaupt7 sind durchgefallen. Reichspartei hat zwanzig Sitze verloren.8

Bismarck teilte im Ministerrat9 mit, S[ein]e Majestät wolle selbst die Session eröffnen, und zwar werde er nicht namens der verbündeten Regierungen, sondern für seine Person reden. Die Absicht der Steuer- und Sozialreform werde scharf betont und das Tabakmonopol wie Altersversorgung aufrechterhalten werden.

Dann sprach er über die aus den Wahlen sich ergebenden Kombinationen10: Franckenstein11 oder Moufang12 müßten Kanzler werden, während er sich auf den Altenteil der äußeren Politik zurückziehen, also auswärtiger Minister und preußischer Ministerpräsident bleiben wolle. Dasselbe hätten ja die Nationalliberalen auch früher erstrebt, sie hätten die übrigen Ministerien für sich haben und ihn als Hausknecht für die europäische Politik behalten wollen. Es war das natürlich scherzhaft gemeint, aber doch mit einiger Bitterkeit ausgesprochen, er behandelte dabei die eigenen Schöpfungen sehr en bagatelle. Bezüglich der Antisemitenbewegung tadelte er deren Inopportunität, sie habe die Ziele verschoben.13 Er sei nur gegen die fortschrittlichen, nicht gegen konservative Juden und deren Presse, er würde unter allen Umständen [ Druckseite 60 ] gegen den Fortschritt für Zentrum und Sozialisten stimmen. Letztere erstrebten Unmögliches, was doch unter allen Umständen schließlich mit dem Schwert niedergeschlagen werden müßte;14 der Fortschritt aber erstrebe eine mögliche Staatsform, die Republik. Der Kaiser habe sich sehr amüsiert zu hören, daß Professor Mommsen15, dessen Name ihm völlig unbekannt gewesen sei, die Krone gegen ihn, den Kanzler schützen wolle. Anfangs sei Se. Majestät etwas elegisch und abgespannt gewesen, weil er offenbar gefürchtet habe, von ihm Unangenehmes zu hören. Er sei aber immer munterer geworden und habe ihn gar nicht weglassen mögen. Gegen die Sozialreform sei er nur deswegen mißtrauisch gewesen, weil er befürchtet habe, er solle das Sozialistengesetz und sonstige Repressivmaßregeln gegen die Sozialdemokratie aufgeben.16 Im übrigen habe er nichts dagegen. Aus allem ging hervor, daß sich Bismarck bezüglich seiner Stellung zu S[eine]r Majestät völlig als Herr der Situation fühlt und die parlamentarischen Schwierigkeiten leichtnimmt. Daß seine Steuervorlagen abgelehnt werden, sieht er offenbar voraus, ebenso daß er die Sozialdemokraten und das Zentrum für die Sozialvorlagen nicht gewinnt. In einigen Betrachtungen über das Wahlergebnis glaubte ich Gedanken wiederzufinden, welche ich in einem Schreiben an ihn über die Wahlen ausgesprochen hatte. „Mein Nachfolger in dem fortschrittlichen Ministerium werde Struve17 werden!“

In dem Entwurf der Thronrede hat Se. Majestät nur eine Stelle beanstandet, worin gesagt war, „er würde einen Erfolg in den Sozialreformplänen für den schönsten in seiner von so sichtbarem Segen begleiteten Regierung halten“.18 Hier will er nicht den Superlativ, sondern nur den Positiv gesetzt haben!

Darin kann man das Gefühl des alten Herrn völlig verstehen!

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Registerinformationen

Orte

  • Friedrichsruh (Kreis Herzogtum Lauenburg)

Personen

  • Albedyll, Emil von (1824–1897) , Chef des Militärkabinetts
  • Bödiker, Tonio (1843–1907) , Geheimer Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833–1907) , Staatssekretär des Innern
  • Friedrich Wilhelm (1831–1888) , preußischer Kronprinz; später als Friedrich III. deutscher Kaiser
  • Heinrich (1862–1929) , Prinz von Preußen
  • Mommsen, Dr. Theodor (1817–1903) , Professor für alte Geschichte in Berlin, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Struve, Gerhard (1835–1904) , Landwirt und Oberamtmann in Berlin, MdR (liberale Vereinigung)
  • Türckheim zu Altdorf, Hans Freiherr von , (1814–1892), a. o. Gesandter Badens in Berlin, stellvertretender Bundesratsbevollmächtigter

Sachindex

  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Parteien
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Parteien – Zentrum
  • Presse
  • Presse – Frankfurter Zeitung
  • Reichstag
  • Repression
  • Revolution
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Thronreden
  • Unfallversicherung, siehe auch Gesetze, Unfallversicherungsgesetz
  • 1Freiherr Lucius von Ballhausen, Bismarck-Erinnerungen, Stuttgart und Berlin 1920, S. 215─217. »
  • 2Dr. Robert Lucius (1835─1914), seit 1879 preußischer Landwirtschaftsminister, seit 1870 MdR (Deutsche Reichspartei). »
  • 3Bismarck war am 12.11.1881 um 18 Uhr aus Varzin zurückgekehrt. »
  • 4Wilhelm von Kardorff (1828─1907), Rittergutsbesitzer in Wabnitz bei Bernstadt (Kreis Oels) und Industrieller, seit 1868 MdR (Deutsche Reichspartei). »
  • 5Friedrich Graf von Frankenberg und Ludwigsdorf (1835─1897), Herrschaftsbesitzer in Tillowitz (Kreis Falkenberg), 1867─1881 MdR (Deutsche Reichspartei). »
  • 6Udo Graf zu Stolberg-Wernigerode (1840─1910), Fideikommißbesitzer in Kreppelhof (Kreis Landeshut, Schlesien), 1877─1881 MdR (konservativ). »
  • 7Wilhelm von Rauchhaupt (1828─1894), Rittergutsbesitzer in Storckwitz (Kreis Delitzsch), Landrat, konservativer Reichstagskandidat. »
  • 8Die Stichwahlen fanden am 12.11.1881 statt; vgl. zu den Wahlergebnissen Nr. 21 Anm. 9. »
  • 9Gemeint ist die Staatsministerialsitzung vom 14.11.1881, vgl. Nr. 7. »
  • 10Vgl. dazu auch Nr. 20 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 11Georg Arbogast Freiherr von und zu Franckenstein (1825─1890), Jurist und Gutsbesitzer in Ullstadt (Bezirksamt Scheinfeld), 1868─1871 (bkF) und seit 1872 MdR (Zentrum). »
  • 12Dr. Christoph Moufang (1817─1890), Bistumsverweser in Mainz, 1871─1877 und seit 1878 MdR (Zentrum). »
  • 13Gemeint ist die sog. Berliner Bewegung um den Hofprediger Adolf Stoecker. »
  • 14Bismarck vertrat im übrigen die Ansicht, daß eine feste Regierung (...) im Moment der Entscheidung, also im Falle einer Revolution, auch bereit sein müsse, Feuer zu geben; vgl. dazu die Aufzeichnung Tonio Bödikers über eine Besprechung in Friedrichsruh zur dritten Unfallversicherungsvorlage vom 30.11.1883 (BArch R 89 Nr. 827, fol. 8). »
  • 15Dr. Theodor Mommsen (1817─1903), Professor für alte Geschichte in Berlin, seit 1881 MdR (Liberale Vereinigung).Bismarck nimmt hier in recht leutseliger Weise Bezug auf eine Wahlrede Theodor Mommsens vom 24.9.1881, gegen den er wegen dieser Rede am 10.2.1882 einen Beleidigungsprozeß anstrengte, der am 15.6.1882 mit einem Freispruch endete; Druck der Rede: Theodor Mommsen, An die liberalen Wähler des Reichswahlbezirks Coburg, Berlin 1881; Auszüge daraus und Darstellung des Prozesses bei: Lothar Wickert, Theodor Mommsen, Eine Biographie, Bd. IV: Größe und Grenzen, Frankfurt/M. 1980, S. 94 ff.; vgl. dazu auch die Ausführungen des badischen Bundesratsbevollmächtigten Hans Freiherr v. Türckheim vom 17.11.1881 (Entwurf: GLA Karlsruhe 49 Nr. 2012, n. fol.; Teilabdruck: Fürst Bismarck. Neue Tischgespräche und Interviews, hg. von Heinrich v. Poschinger, Stuttgart und Leipzig 1899, S. 115 ff.). »
  • 16Vgl. Nr. 3. »
  • 17Gerhard Struve (1835─1904), Landwirt und Oberamtmann in Berlin, seit 1877 MdR (Liberale Vereinigung). »
  • 18Gemeint ist der von Bismarck formulierte Satz: und würde Ich auf keinen der Erfolge, mit denen Gott Meine Regierung gesegnet hat, mit größerer Befriedigung zurückblicken (vgl. Nr. 6, S. 14 ff.). Von Boetticher hatte in der Reinschrift der Zweitfassung zunächst korrigiert auf keinen der Erfolge mit derselben Befriedigung, mit welcher ich auf die Erfolge ..., und diesen Satz danach abgeändert: mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge ... (BArch N 1025 [Boetticher] Nr. 33, fol. 75 Rs.), vgl. die entsprechende Passage in der Endfassung (Nr. 9, S. 63). In seiner Reichstagsrede vom 29.3.1889 spricht Bismarck aber wiederum davon, Wilhelm I. habe die Sache als seinen schönsten Triumph bezeichnet (Sten. Ber. RT 7. LP IV. Session 1888/1889, S. 1113). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 8, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0008

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