II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

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Unsere Aufgaben waren fast ausschließlich sozialpolitischer Natur. Wirtschaftlich konnte man sie nur insoweit nennen, als die sozialpolitischen Probleme einen tiefen politischen Hintergrund zu haben pflegen.
Robert Bosse1

Einleitung

I.

Robert Bosse, der ─ über einige Stationen des preußischen Staatsdienstes ─ vom Gräfl.-Stolbergischen Kammerdirektor zu Roßla am 2. Mai 1881 zum Abteilungsdirektor im Reichsamt des Innern in Berlin avanciert war, hat die administrativen und politischen Auseinandersetzungen vom politischen Scheitern der ersten Unfallversicherungsvorlage bis zum schließlich verabschiedeten Unfallversicherungsgesetz, also vom 15. Juni 1881 bis zum 6. Juli 1884, wie kaum ein anderer erlebt und erlitten. In seinen bislang unveröffentlichten Erinnerungen „Zehn Jahre im Reichsamt des Innern 1881─1891“ nimmt denn auch deren Darstellung eine besondere Stelle ein. Anschaulich schildert er die Probleme, die sich für ihn allein dadurch ergaben, daß mit der ersten Unfallversicherungsvorlage auch die geplante Reichsversicherungsanstalt passé war und Bismarck nunmehr auf den korporativen Gedanken zurückgriff, um seine Absichten zu verwirklichen:

„Ich studierte, soviel ich irgend vermochte, volkswirtschaftliche Werke, fand aber für unsere praktischen Aufgaben darin fast gar keine Ausbeute. Für die Arbeiterversicherungsgesetzgebung, mit der ich überwiegend zu tun hatte, gab es damals in unserer Literatur kaum praktisch verwendbare Vorgänge und Vorschläge. Die staatliche und gesetzliche Organisation dieser Versicherung war eine ganz neue Aufgabe, und an uns war es, gangbare Wege für eine Lösung zu suchen. Dabei versagte jede Schablone. Es handelte sich um neue Gedanken und neue Wege, bei deren Ausgestaltung wir ganz auf uns selbst gestellt waren. Auch unser nächster Chef, der Staatssekretär von Boetticher, konnte damals der Natur der Sache nach uns fertige, systematisch durchdachte Direktiven nicht geben. Ja, bei seiner ungeheuren geschäftlichen Belastung war er dazu noch weniger imstande als ich selbst. Vom Reichskanzler wußten wir nur, daß er das große Ziel erstrebte: Arbeiterversicherung auf genossenschaftlicher Grundlage mit starker, ausgiebiger Staats(Reichs-)hilfe. Wenn ich mich auch an die genossenschaftliche Grundlage klammerte, so stand ich doch mit der ganzen Abteilung fast ratlos vor der Frage: Auf welcher Grundlage soll die Organisation ruhen? Welche Genossenschaften sollen gebildet werden? Sollen nur die Unternehmer oder nur die Arbeiter, oder sollen beide genossenschaftlich organisiert werden? Wie soll die Versicherung mit dem bestehenden Haftpflichtgesetz verbunden, oder wie soll dieses mit Rücksicht auf die Versicherung beseitigt oder eingeschränkt

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werden? Diese und hundert andere grundlegende Fragen sollten gelöst werden und gingen mir anfänglich wie Mühlräder im Kopf herum. Dazu kam der Mangel an ausreichenden statistischen Unterlagen. Man mußte doch einige Klarheit darüber haben, wie weit unsere Industrie die ihr zugedachte Belastung, namentlich im Wettbewerb mit der ausländischen Industrie, zu tragen imstande sei. Kurz, wir befanden uns oft genug in einem Zustand verzweifelter Ratlosigkeit. Nur der Minister von Boetticher behielt immer den Kopf oben und beschämte uns durch seinen zuversichtlichen Mut. Bismarck hatte ihm gesagt: Die Betriebe, die durch gleiche Interessen und gleiche Betriebsgefahren aufeinander angewiesen sind, würden genossenschaftlich zu Interessen- und Gefahrengemeinschaften verbunden werden. [...] Boetticher sagte uns immer wieder: Der Grundgedanke des Fürsten Bismarck ist so einleuchtend, daß jeder vernünftige Mensch ihn als richtig anerkennen muß. Die Ausführung ist schwer. Aber wo ein Wille, ein auf ein vernünftiges Ziel gerichteter ernster Wille ist, da muß auch ein Weg sein. Dieser gangbare Weg muß gefunden werden, und ein gesunder Menschenverstand wird ihn finden. ‚Fangt nur an, denkt und arbeitet eure Vorschläge mit allem Ernst durch. Mehr als das kann man von uns nicht verlangen. Tun wir unsere Schuldigkeit, so wird sich das Weitere finden.‘ Dieses gesunde, frische, mutige und selbstlose Pflichtgefühl und der Glaube an den Fürsten Bismarck und die gute Sache haben uns immer wieder gestärkt und weitergeholfen. Und sicherlich ist doch die Arbeit nicht ganz vergeblich gewesen. Aber freilich erst nach schweren Nöten.“

Diese Ausführungen des zuständigen Ministerialdirektors zeigen, daß die von Bismarck nach Ablehnung der ersten Unfallversicherungsvorlage weiterhin hartnäckig betriebene gesetzliche Sicherstellung der Arbeiter gegen die Folgen von Unfällen mittels einer öffentlich-rechtlichen Versicherung (bei Ablösung der zivilrechtlichen Haftung) als ein rechtstechnisches bzw. organisatorisches und ökonomisches Problem aufgefaßt und beschrieben werden kann. Die eigentliche Problematik resultierte aber aus dem mit der Arbeiterversicherung verbundenen „Schub institutioneller Innovation“, dem „Qualitätssprung im Ausmaß und im Zuständigkeitsbereich der Staatstätigkeit“2, also der entscheidenden Weichenstellung zum modernen Sozialstaat. Diese ist nicht zu trennen von den politischen Zielsetzungen des Reichskanzlers Bismarck. Bosses Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten, die bei den Unfallversicherungsvorlagen federführend war, war von Bismarck auch geschaffen worden, um das einzuleiten, „was man von der politischen Konzeption her nicht anders nennen kann als einen Frontalangriff gegen die Parteien und ihre bisherige Stellung in Staat und Gesellschaft.“3 Das war bei der ersten Unfallversicherungsvorlage vielleicht noch nicht so deutlich, jedenfalls konnte die dort vorgesehene Organisationsform des Versicherungsträgers ─ eine Reichsanstalt ─ als Stärkung der bürokratisch-unitarischen Elemente des Reichs angesehen werden, schwerlich aber als antiparlamentarische Einrichtung. Man kann allerdings zweifeln, ob diese ─ vom Reichstag abgelehnte ─ technisch einfache Organisationsform von Bismarck selbst für politisch zweckmäßig angesehen wurde: Jedenfalls ist die erste Unfallversicherungsvorlage

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letztlich nicht an dem Problem einer zentralen Anstalt als Versicherungsträger gescheitert. Aber nach ihrem Scheitern hat Bismarck auf die korporative Organisation gesetzt, in der er auch ein mögliches Modell für ein neues, außerparlamentarisches Verfassungsorgan sah.

In gewisser Weise waren, so kann man es aus heutiger Sicht wohl sagen, die mehrjährigen administrativen und politischen Konflikte um die Sicherstellung der Arbeiter gegen die Folgen von Unfällen nicht notwendig dadurch gegeben, daß dieses Problem gesetzgeberisch gelöst werden sollte, sondern dadurch, wie es geschehen sollte! So gesehen, kann man ferner vielleicht sagen, daß Bismarck es sich dadurch vorsätzlich schwer gemacht hat, daß er die dem sozialliberalen Spektrum zuzurechnenden Versuche, „unter Aufgabe zivilrechtlicher Prinzipien auf dem Boden des Zivilrechts eine soziale Schadensordnung zu begründen“4, die sein Referent Theodor Lohmann ebenso wie die Reichstagsabgeordneten Franz Armand Buhl und Eduard Lasker ansatzweise entwickelt hatten, massiv unterdrückte, jeden Ansatz zur Rechtsfortbildung in diese „private“ Richtung kategorisch und unbeirrbar ablehnte. Im Ansatzpunkt völlig verschieden, hätte man mittels Haftpflichtrevision zu gleichen materiellen Rechtsfolgen für den verunglückten Arbeiter und wohl auch erheblich schneller zu einem verabschiedeten Gesetz kommen können ─ aber eben nicht zu einem (konservativen) Sozialstaat!5 Der Sozialstaat aber war die politische Option des Kanzlers für die gesicherte Zukunft des Reichs, seine legitimitäts- und sinnstiftende Verheißung ─ hätte Bismarck es sich leicht gemacht, in eine Haftpflichtrevision mit Ausbau der privaten Unfallversicherung eingewilligt, wäre seine perspektivenreiche Vision schon im Ansatz verfehlt worden. Diese an sich unhistorische Spekulation über das, was Bismarck nicht zuließ (und darum nicht geschah! 6), zeigt, daß der eingeschlagene Weg vom Ziel nur analytisch zu trennen ist, historisch gehörte er zu der Aufgabe, die Bismarck sich und seinen Mitarbeitern

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gestellt hatte. Die langjährigen Auseinandersetzungen um die gesetzliche Unfallversicherung sind jedenfalls aus dem sozialen Gehalt der Regierungsvorlagen nicht hinreichend zu erklären, sie waren durch übergeordnete reichspolitische Gesichtspunkte bestimmt und nur von daher zu verstehen, nicht zuletzt haben das die zeitgenössischen Gegner Bismarcks deutlich gesehen.

Je mehr relevante politische Absichten und Interessen jeweils hinter einer einzelnen Regelung steckten, desto heftiger wurde um ihre jeweilige Ausgestaltung gerungen. Sieht man auf die zwischen Regierung und Reichstag bzw. den verschiedenen Parteifraktionen weitgehend konsentierten Punkte und dann auf die strittigen, so ist auffallend: Die materiellen Grundfaktoren des Gesamtprojekts, also Beginn (und damit: die Dauer) und Höhe der Entschädigungszahlungen für verunglückte Arbeiter, waren ─ abgesehen von Forderungen der Sozialdemokraten und der linksliberalen Gewerkvereinler ─ bei den Parteien weitgehend konsentiert. Die Ablösung der persönlichen Einstandspflicht der Unternehmer (Haftungsausschluß) durch eine überindividuelle, betriebsbezogene Versicherung war ebenso unstrittig wie die begrenzte Höhe des materiellen Entschädigungsanspruchs des durch Unfall verletzten oder getöteten Arbeiters bzw. die Ablösung des unsicheren Anspruchs auf vollen, durch Richterspruch festzusetzenden Schadensersatz durch einen sicheren Anspruch auf eine begrenzte, aber durch Gesetz festgelegte Entschädigung bzw. „billig zu bemessende Versorgung“7 in Form einer sog. 66 2/3-Rente im Falle voller Erwerbsunfähigkeit. Die organisatorischen und finanziellen Fragen hingegen ─ Versicherungszwang, Abgrenzung des Kreises der versicherten Personen, Aufbringung der Mittel (incl. Staatsanteil dabei) sowie vor allem Ausgestaltung und Abgrenzung der öffentlich-rechtlichen Versicherungsträger ─ waren besonders umstritten und standen im Vordergrund der administrativen und politischen Auseinandersetzungen um ausgeklügelte Gesetzesparagraphen, deren Konsequenzen mitunter schwer absehbar waren.8 Der im Reichstag bekämpfte Reichszuschuß als materielle Substanz der geplanten Staatshilfe wurde dabei von der ersten bis zur dritten Regierungsvorlage ─ hier fand er sich nur noch in der Form einer Reichsgarantie ─ so reduziert, daß des badischen Liberalen Franz von Roggenbach ätzende Kritik hier nicht mehr ansetzen konnte: „Der Staat, der an und für sich unfähig ist, den an ihn gestellten Anforderungen, jedem ein Huhn in die Suppe zu legen, zu genügen, ist es doppelt mit den Potenzen, die uns regieren.“9 Davon abgesehen war der Reichszuschuß ─ als solcher erst vom preußischen Volkswirtschaftsrat in die erste Unfallversicherungsvorlage eingebracht ─ für Bismarck von Anfang an wohl eher taktisch-politisches Mittel zur parlamentarischen Durchsetzung seines großen, letztlich gescheiterten Plans zur Sicherung der finanziellen Grundlagen des Reichs durch Steuerreform und Tabakmonopol denn integraler Bestandteil seiner Vorstellungen über [ Druckseite XXIII ] eine zweckdienliche Ausgestaltung der Arbeiterversicherung. Mit der zweiten Unfallversicherungsvorlage, bei der die Aufbringung der Mittel nicht mehr auf dem Kapitaldeckungsverfahren, sondern auf dem zu Anfang erheblich billigeren bzw. kostengünstigeren sog. Umlageverfahren10 (etwa ein Zwanzigstel der Kosten des Kapitaldeckungsverfahrens im ersten Jahr!) beruhen sollte, geriet der Reichszuschuß dann wohl endgültig zur parlamentarischen Manövriermasse ─ die aktuellen Kostenvorteile für die deutsche Industrie, deren Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland durch die Unfallversicherung nicht gefährdet, sondern eher gefördert werden sollte11, waren dadurch erheblich größer als durch den geplanten Reichszuschuß zu den erforderlichen Mitteln.12

Angesichts der vorherrschenden politischen Auseinandersetzungen um das Regelungsprofil der Unfallversicherung ist es kaum möglich, die Intentionen Bismarcks allein mit dem Begriff „Arbeiterpolitik“ zutreffend zu kennzeichnen, mit mindestens dem gleichen Recht könnte man sie auch mit „Industriepolitik“ titulieren ─ am zutreffendsten charakterisiert man sie aber wohl als eine innovative Form konservativer Reichspolitik. Detail wie Gesamtzusammenhang der Auseinandersetzungen um die drei Vorlagen zur gesetzlichen Unfallversicherung zeigen, daß dabei eine der wenigen durchgehend verfolgten Perspektiven Bismarcks seine Auseinandersetzung mit dem Liberalismus war ─ Axiomatik und Tabuzonen des Projekts waren ganz wesentlich davon bestimmt. Im Gesetzgebungsverfahren gab es manchen Kompromiß, „wandlungsfähige, elastische, oft mühselige Anpassung an die Lage“13, [ Druckseite XXIV ] bestimmte Regelungen wurden seitens der Regierung zur Disposition gestellt ─ nie aber solche, die ideologische und ökonomische Kernpositionen der liberalen Fraktionen negativ berührten, wie etwa das Prinzip des direkten staatlichen Zwanges, die Ausschaltung der privaten Versicherungen, auch der bereits bestehenden, durch öffentlich-rechtliche Versicherungsträger14 und die Abkehr von der privatwirtschaftlichen Grundlage der Finanzierung, insgesamt also die öffentlich-rechtliche Regulierung der Folgen betrieblicher Unfälle für Arbeiter und Unternehmer.

Die antiliberale Grundtendenz von Bismarcks Politik ist für seine spezifische Form von Sozialpolitik allgemein von höchster Relevanz, und zwar weniger in dem Sinne, daß mit dem politischen Liberalismus, der bis 1878 Mitträger seiner Regierungspolitik war, eine staatliche Sozialpolitik nicht zu initiieren war, sondern in dem Sinne, daß Bismarck danach keine Form von Arbeitergesetzgebung mehr wollte, die auch für den nunmehrigen Gegner einer inneren Reichsgründung nach seinen Vorstellungen konsensfähig oder von diesem gar initiiert worden war. Andererseits konnte für ihn nicht zweifelhaft sein, daß dann, wenn dieser antiliberale Kurs der Reichspolitik durchgehalten werden sollte, andere Frontstellungen abgebaut, Konzessionen gemacht werden mußten, und dafür bot sich der Katholizismus bzw. das Zentrum an, das sich von Liberalismus und Sozialismus bedroht sah. Das bedeutete nicht nur ansatzweise Rücknahme der Kulturkampfgesetzgebung, sondern auch Rücksichtnahme auf einige Vorstellungen des Zentrums zur politischen Gestaltung des Reichs, die u. a. auf Stärkung der föderativen („partikularen“) Elemente desselben bzw. Verhinderung des Ausbaus der zentralen Machtsphäre des Staates hinausliefen.

Sozialpolitische Quellen sind selten grundstürzend, und so ist das sicher keine überwältigend neue Perspektive, aber sie lenkt doch den Blick auf Bismarck, der für seine politischen Grundentscheidungen bzw. seine Vormachtstellung als Kanzler (und stimmführender preußischer Minister) rückhaltlose Anerkennung und Solidarität verlangte und entsprechend rücksichtslos in die einzelnen Ressorts hineinregierte ─ nicht nur dann, wenn, wie hier, seine politischen Absichten über Ressortgrenzen hinausgingen.15 Spätestens seit 1877 durfte auch innenpolitisch nichts mehr gegen Bismarck geschehen ─ etwas zu verhindern, war aber auch für den Kanzler leichter als etwas voranzubringen. Hatte Bismarck vor, Gang und Richtung der Regierungsmaschinerie und der Gesetzgebung positiv zu bestimmen, so hatte er intern allerdings mit „Ressortgeist“ und extern mit „Fraktionsgeist“ zu rechnen. Diese beiden Faktoren, die er durch sein „System“ oft geradezu provozierte, bestimmten seine Handlungsspielräume mitunter erheblich, ganz abgesehen von seinen „Magenverstimmungsanfällen und dem Gallenwahnsinn“.16

Diese beiden hier zu skizzierenden Handlungskonstellationen sind im Prinzip beide auch schon bekannt ─ anderes wäre angesichts des über Bismarck angehäuften Wissens wohl kaum denkbar ─, es ist aber ihr Funktionieren im Detail wie der [ Druckseite XXV ] wechselseitige Zusammenhang von Aktion im Parlament und Reaktion in der Ministerialbürokratie bzw. umgekehrt, den diese Quellensammlung, vielleicht besser und mehr als die bisher vorliegenden Darstellungen zu diesem Thema und zur Gesetzesentstehung im Deutschen Kaiserreich überhaupt deutlich machen kann. Die mit dem Unfallversicherungsgesetz verbundene grundsätzliche Weichenstellung für die zukünftige Entwicklung des Deutschen Reiches ─ ein „Sprung ins Finstere“, diese pessimistische Schlagwortwendung zur Charakterisierung eines politischen Experiments17 trifft für die Unfallversicherung zu ─ war Bismarck und seinen Zeitgenossen wohl bewußt. Bismarck hat deshalb den Prozeß der Gesetzesentstehung auch gleichsam experimentell gehandhabt, dieses zu verfolgen ist von besonderem Reiz. Die kritische Sentenz des liberalen Kronprinzen Friedrich Wilhelm wird hier wohl bestätigt: „Bismarcks Methoden widersprechen systematischen und ernsten Geistern, spotten aller Traditionen und aller, die an solchen haften.“18

Der eine Faktor der Handlungskonstellation, auf die hier hingewiesen werden soll, betrifft den (liberalen) „Ressortgeist“, also die administrative Seite des Gesetzgebungsprozesses, und ist durch den Eigensinn des Vortragenden Rats Theodor Lohmann gekennzeichnet, der dem des Kanzlers kaum nachstand!19 Dieser ist im Grunde seit Hans Rothfels’ klassischer Monographie im Familienauftrag über „Theodor Lohmann und die Kampfjahre der staatlichen Sozialpolitik“, also seit 1927, so bekannt, daß man fast versucht ist, weniger von einem Bismarck- denn von einem Lohmann-Mythos in der Geschichtswissenschaft zu sprechen.20 Der im Begriff der Sozialreform weitgehend verschüttete Grenzpfad zwischen der sog. versöhnenden Arbeiterpolitik durch Gesellschaftsreform und der „bindenden“ Arbeiterpolitik des Staates läßt sich historisch tatsächlich an den beiden Männern Theodor Lohmann und Otto Fürst von Bismarck exemplifizieren und verorten. Man kann vielleicht auch, etwas vereinfacht, sagen, daß es gerade die Grenzlinie zwischen Sozialliberalismus und Sozialkonservatismus war, die beide im Grundsätzlichen trennte und zu unterschiedlichen Vorstellungen über die jeweils prinzipiell richtige [ Druckseite XXVI ] staatserhaltende Gesetzgebung fuhren mußte.21 Darüber hinaus aber bestanden im konkreten Fall gegensätzliche Ansichten darüber, mit welchem Regelungsprofil das Gesetz durchführbar, praktikabel und vor der Zukunft zu verantworten war und mit welchem nicht. Im Rahmen seines experimentellen Vorgehens hat Bismarck die durchdachten, meist empirisch begründeten Gegenvorstellungen seines kenntnisreichen Referenten lange Zeit, bis hinein in den Frühsommer des Jahres 1883 vermutlich außergewöhnlich hoch geschätzt, ließ er doch auch „konkurrierend“ arbeiten und Sachverständige befragen ─ von seinen politisch begründeten Optionen, vor allem dem Umlageverfahren, ließ er sich aber „als der verantwortlich zeichnende Chef“ nicht abbringen.22 Hierzu bieten die nachstehenden Quellen mannigfach unbekanntes Detail bis hin zur Entstehung bekannter Aperçus: So beispielsweise, daß die bekannte und oft hervorgehobene Bismarcksentenz ─ „Der Staat und seine Einrichtungen sind nur möglich, wenn sie als permanent identische Persönlichkeiten gedacht werden“23 ─ durch Theodor Lohmanns Auslassungen über die mit den „gegenwärtig vorhandenen Beteiligten [...] vielleicht nicht identischen künftigen Mitgliedern der Genossenschaft“ provoziert worden ist.24

Die weniger bekannte Dimension des Faktors „Ressortgeist“ läßt sich mit missionarischem Handeln Theodor Lohmanns „auf eigene Faust“ kennzeichnen: Der fachlich zuständige und regierungspolitisch versierte Referent setzte Bismarcks Direktiven eigensinnige Projekte entgegen, die ihren Ausgangspunkt vom anders gestalteten Detail nahmen und nach und nach eigenständige (sozial-)politische Dimensionen

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erhielten. So hat Theodor Lohmann, der das Scheitern der ersten Unfallversicherungsvorlage begrüßte, sich sogar die Freiheit genommen, Bismarcks Pläne für sich bzw. seine Vorstellungen von notwendiger Gesellschaftsreform zu nutzen.25 Die zweite (und mittelbar auch die dritte!) Unfallversicherungsvorlage gestaltete er bei dem unauffälligen Punkt „Karenzzeit“, also der Dauer der Zeit zwischen Eintritt des Schadensereignisses und dem Beginn des Anspruchs auf Schadensersatz, so um ─ entgegen Bismarcks ausdrücklicher Weisung (wie auch einer Reichstagsvorgabe!) verkürzte er sie nicht von vier Wochen (so ihre vorgesehene Dauer in der ersten Unfallversicherungsvorlage) auf 14 Tage, sondern verlängerte sie auf 13 Wochen! ─, daß damit eine neue sozialpolitische Prämisse gesetzt wurde, d. h. nun war ein möglichst allgemeiner, unmittelbar auf reichsgesetzlicher Vorschrift beruhender Krankenversicherungszwang notwendig26, der die Hilfskassengesetzgebung auf eine neue Grundlage stellte. Das bedeutete eine gesetzliche Krankenversicherung zur materiellen Absicherung der Unfallfolgen gleichsam als Vorschaltgesetz mit der „ganz neuen Funktion einer substantiellen Ergänzung der Unfallversicherung“27. Da die Krankenkassenbeiträge zu zwei Dritteln von den Arbeitern finanziert wurden, bedeutete das eine Abwälzung eines erheblichen Anteils der materiellen Unfallfolgen auf die Arbeiter selbst ─ das ist von seiten der Opposition, vor allem der linksliberalen und sozialdemokratischen, bis zuletzt heftig kritisiert worden. Dem Krankenversicherungsprojekt hat dieser Referent mit größtem Eifer und Geschick über alle ahnungsvollen Beanstandungen aus Friedrichsruh und über die 52 Sitzungen umfassenden, fast ein ganzes Jahr lang dauernden Kommissionsverhandlungen im Reichstag hinweggeholfen, und so wurde „seine“ Krankenversicherung vor Bismarcks

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Projekt „Unfallversicherung“ als Reichsgesetz verabschiedet. Der Kanzler, der bekanntlich noch anderes zu tun hatte als sein Arbeiterversicherungsprojekt voranzutreiben und in den entscheidenden Monaten selbst kränkelte, bezeichnete das Krankenversicherungsgesetz recht treffend als ein ihm „untergeschobenes Kind“28

Die politisch-taktische Leistung Theodor Lohmanns bei der Schaffung dieses Krankenversicherungsgesetzes, die im 4. Band dieser Reihe noch genauer dokumentiert werden wird, muß man daran messen, daß aus diesen Jahren kein Reichsgesetz von vergleichbarer Tragweite bekannt ist, das ohne Initiativsetzung Bismarcks erfolgreich eingebracht, geschweige denn verabschiedet wurde! Diese Aktion war derart geschickt eingefädelt, daß die damit verbundene „nicht unwesentliche Umschichtung der Folgelasten von Betriebsunfällen zuungunsten der Arbeiterschaft“29 noch heute eher auf des Kanzlers ─ im übrigen unstrittige ─ industriefreundliche Haltung zurückgeführt wird, denn auf Taktik und Strategie seines denkwürdigen Referenten. Dieser nahm den von Arbeitervertretern heftig kritisierten materiellen Substanzverlust der Unfallversicherung bewußt in Kauf, hat ihn vielleicht sogar beabsichtigt, war er doch ─ aus grundsätzlichen Überlegungen heraus und im Gegensatz zu seinem Chef ─ auch engagierter Verfechter eines Beitragsanteils der Arbeiter zur Finanzierung der Unfallversicherung.30 Diese administrative Genese der gesetzlichen Krankenversicherung „bei Gelegenheit“ eines dienstlichen Auftrags zur gesetzlichen Unfallversicherung zeigt: Mit diesem missionarischen, in „seiner“ Sache bis zu Illoyalität und Obstruktion zielstrebig tätigen Protestanten, der eine Unfallversicherung entsprechend den Vorstellungen des Kanzlers einerseits für gefährlich, andererseits für totgeboren, jedenfalls für „reines dummes Zeug“ hielt31 und „persönliche“ Vorstellungen vertrat, die denen des politischen Gegners entgegenkamen, konnte das Bismarcksche Gesetzgebungsprogramm wohl begonnen, nicht aber vollendet werden: Das experimentelle Vorgehen, das Theodor Lohmann Spielraum gab, hatte politische Grenzen. Das gilt ungeachtet der unzweifelhaften Fragwürdigkeit mancher gesetzgeberischer Details der zweiten Unfallversicherungsvorlage32, die auf Bismarcks höchstpersönliche Einfälle bzw. Vorgaben zurückzuführen sind. Jedenfalls: Innerhalb eines Dreivierteljahres nach dem, [ Druckseite XXIX ] wie es genannt wurde, Ausscheiden Theodor Lohmanns aus dem Unfall wurde eine dritte Unfallversicherungsvorlage fertiggestellt und als Gesetz verabschiedet ─ allerdings nicht, ohne daß auch Bismarck angesichts des widerspenstigen „Fraktionsgeistes“ manche ursprüngliche Direktive so geändert bzw. zurückgenommen hatte, daß die Organisation der Unfallversicherung für gegen die Parteien gerichtete Zielsetzungen kaum noch zu verwenden war. Bismarck war damals zwar sicher auch schon „ermüdet in dem parlamentarischen Sande“33, es waren aber inzwischen auch wesentliche Veränderungen und Bewegungen innerhalb der Parteienlandschaft eingetreten, die Bismarck mit großem Geschick für seine Politik ausnutzte.34 Damit ist bereits der andere für Bismarck und das Schicksal der Unfallversicherungsvorlage wesentliche Faktor angesprochen.

Dieser andere Faktor der Handlungskonstellation betrifft die politischen Rahmenbedingungen nach der oppositionellen Reichstagswahl vom Herbst 1881: Die Verheißung materieller Sicherungen, die den Wahlkampf bestimmt hatten, schienen nicht geeignet, die Herrschafts- und Legitimierungschancen der Regierung Bismarck zu erhöhen.35 „Die eklatante Wahlniederlage zwang dem Kanzler, wollten er oder der Kaiser nicht die politischen Konsequenzen ziehen, eine Verschärfung seines bereits eingeschlagenen antiparlamentarischen, gegen die Mehrheit der bestehenden Parteien gerichteten Kurses förmlich auf.“36 Hier mußte also ─ aus der Sicht des Kanzlers ─ mindestens die Schwächung der Liberalen und die Stärkung des großagrarisch-aristokratischen Flügels des Zentrums bzw. die Annäherung an die eher konservativen, meist süddeutschen Zentrumsmitglieder fortgesetzt werden, mit allerlei politischem Gaukelspiel, aber auch mit partieller Begünstigung bzw. begrenzten Zugeständnissen.37 Gleichzeitig wurden regierungsseitig die antiparlamentarischen Pläne mehr oder weniger offen weiterhin erwogen, ein neues Verfassungssystem des Deutschen Reiches auf berufsständischer Grundlage als politische Absicht des Kanzlers lanciert. Im Rahmen dieser politischen Strategie, vielleicht auch nur Taktik, dürfte eine auf korporativer Organisation gegründete Arbeiterversicherung,

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wie sie in der Kaiserlichen Sozialbotschaft vom 17. November 1881 angekündigt wurde, so etwas wie ein „doppelter Boden“ im politischen Spiel mit den Parteien und dem Parlamentarismus gewesen sein: zunächst tragfähig für eine Partei wie das Zentrum, deren Ideal ein ständischer, also durch korporative Institutionen bestimmter Gesellschaftsorganismus war und sodann aber ─ möglicherweise ─ sogar auch tragfähig für eine neue Reichsverfassung mit berufsständischem Wahlrecht. Diese politische Verwendbarkeit des berufsgenossenschaftlichen Prinzips hat Bismarck jedenfalls schon Ende 1881 im Auge gehabt38, es unter diesen Auspizien, die als solche erst im Herbst 1883 manifest wurden, organisatorisch-technisch umzusetzen, war die Aufgabe, deren Lösung Bismarck vom Reichsamt des Innern erwartete und die nach der administrativen Kaltstellung Theodor Lohmanns, der ─ soweit ersichtlich ─ in dieser politischen Grundfrage gar nicht prinzipiell opponierte39, ─ man kann wohl sagen: überraschend gut ─ glückte. Das Prinzip der korporativen Verbände als ein Ansatzpunkt zur genossenschaftlichen Gliederung der Industrie führte zwar, wie bekannt, nicht zu einer politischen Alternative zum Reichstag, aber die diesem zuzurechnenden Berufsgenossenschaften haben sich als eine der dauerhaftesten und unstrittigsten sozialpolitischen Institutionen erwiesen. Hundert Jahre nach Robert Bosses Wirken konnte der Ministerialdirektor beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Karl Hauck fast bedauernd von der publizistischen „Abseitsstellung“ der Unfallversicherung sprechen: Grundsätzliche Einwände werden gegen sie nicht erhoben, „sie wird in ihren Strukturen weitgehend als etwas Fertiges, Abgeschlossenes gesehen.“40

Im Frühjahr 1884 waren die Berufsgenossenschaften als Ansatzpunkt für ein neues politisches Fundament des Reichs bereits wieder ebenso obsolet geworden wie die ─ parallel geplanten ─ Gewerbekammern, ihr Reichsbezug erschien Bismarck nun entbehrlich. Die ausgerechnet gegenüber Theodor Lohmann mit erstaunlicher ─ sicher aber wohlberechneter ─ Offenheit mitgeteilten Staatsstreicherwägungen schienen nach dem sog. Heidelberger Programm der Nationalliberalen, das „dem Fürsten Bismarck wie das konservative Programm vom Jahr 1876 auf den Leib zugeschnitten“41 war, und dem offenen politischen Dissens der Zentrumsfraktion bei der Verlängerung des Sozialistengesetzes (und der damit nach außen [ Druckseite XXXI ] sichtbaren Meinungsverschiedenheit im Hinblick auf den Regierungskurs) nicht mehr notwendig. Elf Tage nach dem positiven Abstimmungsverhalten der konservativen Mitglieder des Zentrums, die in der Reichstagskommission zur Beratung der dritten Unfallversicherungsvorlage wirkten, gegenüber der Regierungsvorlage zur Verlängerung des Sozialistengesetzes und drei Tage nach Billigung des sog. Heidelberger Programms durch den Berliner Parteitag der Nationalliberalen unter Miquels Führung kam es erneut zu einem sog. klerikal-konservativen Kompromiß, der ─ anders als der bei der ersten Unfallversicherungsvorlage vorbereitete ─ sich als haltbar und tragfähig erwies.

Dieser von uns erstmals in seiner Genese und seinem materiellen Gehalt dokumentierte Kompromiß42, ein von Ministerialdirektor Robert Bosse persönlich aufgesetzter, umfassender gemeinsamer Abänderungsantrag von Konservativen, Freikonservativen und Zentrum, also einer Tripelallianz43 gegenüber dem, was die Reichstagskommission zuvor interfraktionell, teilweise also auch mit den oppositionellen Liberalen, als Stellungnahme zur dritten Unfallversicherungsvorlage erarbeitet hatte, hat zunächst die sozialpolitische Dimension, daß dadurch die essentielle Substanz der Regierungsvorlage, soweit gefährdet44, wieder hergestellt wurde. Der Vorsitzende der Reichstagsfraktion des Zentrums, der bayerische Grandseigneur Georg Arbogast Freiherr von und zu Franckenstein handelte dafür sich bzw. dem Zentrum und de facto einigen Bundesstaaten vom Königreich Bayern bis zum Fürstentum Reuß ä.L. nur die Landesversicherungsämter45 mit eher geringer praktischer Bedeutung ein, die als solche eher der relativen Eigenständigkeit seines Heimatlandes Bayern als dem Zentrum dienten. Die politische Dimension dieses ungleichen Tauschgeschäfts geht allerdings tiefer und reicht weiter, sie ist im Rahmen dieser Quellensammlung schwerer zu dokumentieren. Sie gleicht in manchem der der ungleich bekannteren Franckensteinschen Klausel im Zolltarifgesetz von 1879, und auch die politische Rahmenkonstellation war ähnlich: Das Zentrum sah sich wohl (kirchen)politisch bedroht, als die 1881 ebenfalls gestärkten Nationalliberalen mit dem „Heidelberger Programm“ auf den Reichskanzler zugingen und überholte sie ganz einfach auf diesem Weg zur Macht, d.h. es bot seinerseits Bismarck [ Druckseite XXXII ] parlamentarischen Rückhalt an, profilierte sich als Quasi-Regierungspartei, hoffend, so einer parlamentarischen Aufhebung der Kulturkampfgesetze näher zu kommen als durch fortdauernde Opposition. Da es sich ─ anders als die Nationalliberalen ─ programmatisch in Sachen Unfallversicherung noch nicht festgelegt (und damit seinen politischen Spielraum noch nicht verschenkt) hatte, war auch für die Reichsregierung vorrangig mit den als unberechenbar geltenden Zentrumsleuten46 die mehrheitsfähige Beschlußvorlage, die für sie akzeptabel war, festzustellen. Mit Freiherr von Franckenstein, dem seit 1879 hinlänglich als antiliberal47 bekannten Vorsitzenden der Unfallversicherungskommission, einem geschätzten Gesprächspartner Bismarcks48 ─ der liberal gesonnene Kronprinz Friedrich Wilhelm charakterisierte die „große Exzellenz“ als einen „ganz schwarzen bayerischen Ackermann, stockfränkischer Partikularist“49 ─, als Verhandlungsführer und Ludwig Windhorsts, der „kleinen

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Exzellenz“, Zustimmung vorab50 war ein Kompromiß garantiert, der Bismarcks Vorstellungen von seinem innenpolitischen Reformwerk entsprach. Die Nationalliberalen waren dabei gestrandet, der kritisch-unabhängige Freisinn ausgebootet. Da konnte der zufriedene Fürst-Reichskanzler denn auch auf eine erneute kritische Eingabe des Zentralverbandes Deutscher Industrieller hin unwirsch anordnen, „daß die Einwendungen der Industriellen nicht weiter zu berücksichtigen seien“.51

Die tiefen politischen Hintergründe dieser Problemlösung im Spannungsfeld von Reichsausbau vs. Partikularismus, Liberalismus vs. Sozialismus und Katholizismus bzw. prekärer Verfassungslage, Staatsintervention und Kulturkampfabbau sowie persönlichem Streben der beteiligten Parteiführer im politischen Spiel zu bleiben, sind zwar mit den bisher erschlossenen Quellen nicht genau zu erfassen, aber sicher ist Theodor Lohmanns eher kritischer, denn bewundernder Anerkennung auch dann zuzustimmen, wenn man die innere Qualität der dritten Unfallversicherungsvorlage positiver beurteilt als er: „Daß der Gesetzentwurf (...) überhaupt hat angenommen werden können, ist lediglich eine Frucht des meisterhaften Schachspiels des Fürsten.“52 Man kann das natürlich auch so formulieren wie unser eingangs zitierter Gewährsmann Robert Bosse: „Fürst Bismarck kam frisch und kampflustig von Friedrichsruh und sprach bei der ersten Beratung unseres Entwurfs im Reichstag vorzüglich. Die Aussichten für die Vorlage waren, da auch das Zentrum sich freundlich dazu stellte, gut, und die Kommission des Reichstags arbeitete fleißig und sehr sachlich. Am 6. Juli 1884 wurde das Unfallversicherungsgesetz wirklich im Reichsgesetzblatt verkündet“.53

  • 1GStA Dahlem Rep. 92 NL Bosse Nr. 7, fol. 1 ff.; es handelt sich dabei um eine Abschrift von fremder Hand. »
  • 2Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner, Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994, S. 242 f. »
  • 3So Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt 1980, S. 602. »
  • 4Wolfgang Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht. Die soziale Unfallversicherung als Teil des allgemeinen Schadensrechts, Tübingen 1969, S. 31. Diese Versuche liefen weitgehend auf eine Abkehr vom Verschuldensprinzip (bis hin zur Gefährdungshaftung) und zwangsweise Sicherstellung der Zahlung im Wege der Versicherung, dabei zumindest substitutive Zulassung privater Versicherungsgesellschaften als Träger hinaus. Dieser in den europäischen Industriestaaten mit Ausnahme Deutschlands zunächst beschrittene Weg verschärfter Haftpflichtregelungen bewährte sich aber ─ anders als die öffentlich-rechtliche Unfallversicherung ─ historisch nicht und wurde im 20. Jahrhundert verlassen, vgl. Hansjoachim Henning, Bismarcks Sozialpolitik im internationalen Vergleich, in: Hans Pohl (Hg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart (VSWG Beiheft 95), Stuttgart 1991, S. 195 ff. »
  • 5Vgl. dazu: Florian Tennstedt u. Heidi Winter, „Der Staat hat wenig Liebe ─ activ wie passiv“. Die Anfänge des Sozialstaats im Deutschen Reich von 1871, Zeitschrift für Sozialreform 1993, S. 362 ff.; Walther Ecker, Patriarchalische Sozialpolitik und mehr als das, ebd., 1994, S. 394 ff. Inwieweit einige der Befürworter einer zivilistischen Lösung der Absicherung von Unfallschäden sozusagen im Gehäuse ihrer privatrechtlichen Denkstrukturen derart gefangen waren, daß für sie der Bismarcksche Ansatz gar nicht recht „verstehbar“ war, sei dahingestellt. »
  • 6Diese Feststellung impliziert selbstverständlich nicht, daß der von Bismarck bereits im administrativen Stadium verhinderte privatrechtliche Problemzugriff einer Haftpflichtverschärfung als Gesetzesvorlage regierungspolitisch (Preußen, Bundesrat) und parlamentarisch (Reichstag) durchsetzungsfähig gewesen wäre. »
  • 7So die Begründung der ersten Unfallversichcrungsvorlage (Sten.Ber.RT, 4. LP, IV. Sess. 1881, Bd. 1, S. 231. »
  • 8Christoph Conrad differenziert bei seiner Analyse ─ durchaus ähnlich ─ zwischen dem Leistungsprofil und dem Regelungsprofil eines Sozialgesetzes (Vom Greis zum Rentner..., S. 244). »
  • 9So in einem Brief vom 7.11.1883 an Albrecht v. Stosch, Julius Heyderhoff (Hg.), Im Ring der Gegner Bismarcks. Politische Briefe Franz von Roggenbachs 1865─1896, Leipzig 1943, S. 223. »
  • 10Bei dem Umlageverfahren werden die jährlich zu zahlenden Beitragssummen nur nach dem akuten Finanzierungsbedarf berechnet, d. h. ohne Berücksichtigung der absehbar zunehmenden Fälle von Verunglückungen bzw. entsprechend steigender Rentenzahlungen, also der erhöhten Anforderungen der späteren Zeit, die das Kapitaldeckungsverfahren mit seiner Prämicnanspeicherung berücksichtigt; vgl. zur quantitativen Dimension Nr. 147. »
  • 11Dieser ─ modern gesprochen ─ Abbau von komparativen Standortnachteilen lag nach den Vorstellungen der unmittelbar Beteiligten, vor allem Bismarcks, in der Beseitigung der Haftpflichtprozesse, die als solche 1. den Industriepatriarchalismus gefährdet haben sollen („Erbitterung unter den Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ hervorriefen) und 2. das ökonomische Risiko betrieblicher Unfälle untragbar bzw. unkalkulierbar gemacht haben sollen, da das richterliche Ermessen bei der Bestimmung der Höhe des Schadensersatzes unbeschränkt war. Insgesamt soll so durch den Ausgang der Haftpflichtprozesse der „Bestand industrieller Unternehmungen“ öfter gefährdet gewesen sein (vgl. Robert Landmann, Das Unfallversicherungsgesetz v. 6. Juli 1884, Nördlingen 1886, S. 4 f.). »
  • 12Vgl. Nr. 147. Die für den Anfang zu große Belastung der Industrie wurde tatsächlich vermieden, aber die Lasten steigerten sich ─ natürlich auch infolge der Ausdchnungsgesetzgebung und Zunahme der Beschäftigten in versicherungspflichtigen Betrieben durch die zunehmende Industrialisierung des Deutschen Reichs ─ im Laufe der Zeit erheblich: Während die Ausgaben 1886 noch 1,9, 1890: 39,2 Mio M betrugen, stellten sie sich 1900 auf 125,1 und 1904 bereits auf 164,1 Mio M; durch Novelle vom 30.6.1900 wurde dann auch der Reservefonds bedeutend verstärkt, 1904 betrug er 198,1 Mio M. ─ Die Debatte um den Reichszuschuß lebte dann bei der Alters- und Invaliditätsversicherung wieder auf, die dann auf ein modifiziertes Kapitaldeckungsverfahren gegründet wurde. »
  • 13So Werner Frauendienst zur Charakterisierung der wechselnden außenpolitischen Ansichten bzw. Vorgaben Bismarcks in der Einleitung zu „Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins“, Bd. 1, Göttingen 1956, S. XXIX. »
  • 14Vgl. dazu auch Nr. 135 Anm. 4. »
  • 15Vgl. die Analyse von Werner Frauendienst, Das preußische Staatsministerium 1808─ 1918. Organisation und Geschichte, unveröffentlichtes Manuskript, BA Koblenz, NL Frauendienst Nr. 4, S. 54 ff. »
  • 16So Franz von Roggenbach in dem zitierten Brief (Anm. 9). »
  • 17Otto Ladendorf, Historisches Schlagwörterbuch, Straßburg und Berlin 1906, S. 296; L. weist diesen Terminus bereits für 1873 nach. »
  • 18Tagebucheintragung vom 18.2.1881, GStA Dahlem (M) Rep. 52 F1 Nr. 7u. »
  • 19Eine neu akzentuierende Analyse der Konstellationen und Strukturen des politischen Handelns dieses eigensinnigen Lutheraners aus dem 1866 von Preußen annektierten Königreich Hannover wird versucht in der aus der Analyse auch dieser Quellen hervorgegangenen Arbeit von Florian Tennstcdt: Sozialreform als Mission. Anmerkungen zum politischen Handeln Theodor Lohmanns, in: Jürgen Kocka u. a. (Hg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. FS Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München 1994, S. 538 ff. »
  • 20Die neueren historischen Darstellungen der Bismarckzeit widmen Theodor Lohmann fast durchgängig einen eigenen Abschnitt und folgen darin Hans Rothfels’ ideengeschichtlichem Gesamtkunstwerk unter Vernachlässigung wichtiger Details des politischen Prozesses; die einschlägigen Reichsakten der Jahre ab 1881 hat Rothfels kaum ausgewertet. So wird zwar auch erwähnt, daß das Umlageverfahren ein maßgeblicher Punkt im Konflikt zwischen Bismarck und Lohmann war, nicht aber, in welch hohem Maße Lohmann hierin die vorherrschenden Ansichten der parlamentarischen Opposition (und vieler anderer Experten) teilte, denen Bismarck aus seinen reichspolitischen Überlegungen heraus keine Chance geben wollte. »
  • 21Im Zentrum finden sich diese wieder in den (naturrechtlichen) Auseinandersetzungen darüber, ob der Staat denn auch Quelle des Rechts oder nur eine Einrichtung zum Schutze des Rechts sei, je nach Standpunkt kam man, sofern nicht pragmatische Überlegungen ausschlaggebend waren, zur Befürwortung oder Ablehnung des „Staatssozialismus“, die Grenzlinie wurde 1889 beim Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz zum Rubikon! »
  • 22Das Studium der Akten wie des Lohmann-Nachlasses zeigt nicht nur einen missionarischen Sozialreformer Theodor Lohmann mit eigenen interessanten Gedanken und politischer Phantasie, sondern auch gerade bei der Arbeit an der Unfallversicherung einen zunehmenden „Referenten-Komplex“: „Solange es (...) Referenten gibt, werden sie überzeugt sein, die von ihnen bearbeitete Sache besser beurteilen zu können als der verantwortlich zeichnende Chef, werden sie sie für vordringlich wichtig halten. Sie möchten, daß nach ihnen vordringlich entschieden wird. Es lebt in ihnen eine unterdrückte Unzufriedenheit“ (Werner Frauendienst, Einleitung, S. XXXII). Die von uns erstmals in extenso veröffentlichten Denkschriften Lohmanns wie seine Briefe bieten dem Leser die Möglichkeit, sich ein eigenes „Bild“ davon zu machen: Kaum einer der anderen Referenten im Bismarckschen Umfeld dürfte sich allerdings seinen „Komplex“ durch eigenständigen Gedankenreichtum und Realitätssinn gleichermaßen „erarbeitet“ so haben wie Theodor Lohmann! Andererseits zeigen sich die eigentlichen Innovationen gerade auch als Folge eines ─ aus der Sicht von Fachleuten ─ sicher geradezu verblüffenden Diletantismus und fehlender Sachkenntnis Bismarcks auf dem Sektor der Industrie und des dafür entwickelten Rechts. »
  • 23Heinrich von Poschinger, Hans Rothfels und Werner Frauendienst haben sie in ihre Bismarckeditionen aufgenommen, Frauendicnst hat sie noch mit dem Hinweis versehen, daß sie „besondere Beachtung“ verdient. (Die gesammelten Werke, Bd. 6 c: 1871 bis 1890, Berlin 1935, S. 251 f. »
  • 24Vgl. in diesem Band Nr. 26 Anm. 5, Nr. 44 Anm. 9 und Nr. 48. »
  • 25Im Rückblick muß beachtet werden, daß manche Auseinandersetzung nicht zuletzt deshalb so heftig geführt wurde, weil die jeweiligen Vorstellungen prinzipiell und alternativ gesehen und vertreten wurden, häufig auch mit moralischem Impetus, also nicht pragmatisch-komplementär. In diesem Sinne galt es zu entscheiden: Rechtsstaat oder Sozialstaat, Arbeiterschutz oder Arbeiterversicherung, Zwang oder Freiwilligkeit usw. Dabei wurde dann zusätzlich mit ideologischen Pfunden und historischen Traditionssträngen von der Antike bis zum Absolutismus gewuchert, aber es standen sicher in einem erheblichen Ausmaß auch ernste persönliche Überzeugungen dahinter. Im entwickelten sozialen Rechtsstaat der Gegenwart sind die institutionellen Ansätze von Förderung, Sicherung und Schutz im Arbeits-, Sozial- und Gewerberecht eher ineinander „komplementär“ verschränkt. »
  • 26Gegenüber Lorenz von Stein hat Theodor Lohmann dieses enthüllt, als er mitteilte, daß Bismarck die Krankenversicherungsvorlage „eigentlich nur aus Not (zur Deckung der 13wöchigen sogenannten Karenzzeit)“ zuließ, seinen Anteil an der Herbeiführung dieser Konstellation aber verschwiegen, vgl. Nr. 66; treffend dazu auch die Analyse von Ute Frevert (Krankheit als politisches Problem 1770─1880, Göttingen 1984, S. 181), die nach sorgfältiger Auswertung der veröffentlichten Materialien zu einem prinzipiell ähnlichen Ergebnis kommt. Das eigentliche Ausmaß, in dem hier ein Lohmann Geschichte machte, ergibt sich erst aus den (bislang) unveröffentlichten Quellen. »
  • 27Wolfgang J. Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reichs unter Otto von Bismarck, 1850 bis 1890, Berlin 1993, S. 645; bereits Ute Frevert (Krankheit als politisches Problem..., S. 181) hat das Krankenversicherungsgesetz treffend als „ein Vorschaltungsgesetz, das der Unfallversicherung funktional zugeordnet“ war, bezeichnet; vgl. in diesem Band Nr. 14, 41, 42 und 54 Anm. 3. »
  • 28Vgl. Nr. 65 und 66. »
  • 29So Wolfgang J. Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat. S. 646; in der Einschätzung ähnlich: Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866─1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 344. »
  • 30Unklar ist hingegen Lohmanns initiativ-persönlicher Anteil an der Höchstjahresverdienstgrenze, deren mit der zweiten Unfallversicherungsvorlage geplante Einführung noch eine weitere materielle Verschlechterung der Rentensituation der verunglückten Arbeiter gebracht hätte, bei den Besserverdienenden um 40 %; in dem verabschiedeten Gesetz wurden deren einschränkende bzw. ─ um es mit einem neueren Begriff zu sagen ─ „deckelnde“ Auswirkungen wieder etwas reduziert. Vgl. dazu Nr. 27 Anm. 4. »
  • 31Vgl. Nr. 71 und 113 und Anm. 22 Dieser Einleitung. »
  • 32Der als Geschäftsführer des Zentralverbandes Deutscher Industrieller mit dem Gesetzesvorhaben befaßte Henry Axel Bueck spricht wohl nicht zu Unrecht von der „absoluten Unmöglichkeit, diese komplizierte Organisation praktisch durchzuführen“ (Der Centralverband Deutscher Industrieller 1876─1901, 2. Bd., Berlin 1905, S. 205) ─ nicht gerade schmeichelhaft für einen Kanzler, der für sich gern in Anspruch nahm, jede Gesetzes ─ macherei „vom grünen Tisch“ aus abzulehnen bzw. verhindert zu haben. »
  • 33Ansprache an die Vertreter deutscher Innungen v. 17.4.1895, Die gesammelten Werke, Bd. 13, S. 574. »
  • 34Lothar Gall, Bismarck, S. 656 ff. ─ Die Differenzierungs- und Wandlungsprozessc innerhalb des Zentrums auch nur annähernd vollständig zu dokumentieren, konnte nicht Aufgabe dieser Quellensammlung sein, obwohl sie für die sozialpolitischen Entscheidungsprozesse im Deutschen Reich ganz wesentlich waren. »
  • 35Die Stärke der politisch wesentlichen Fraktionen im Deutschen Reichstag gestaltete sich von 1878 zu 1881 folgendermaßen: Konservative 59:50, Deutsche Reichspartei 57:28, Liberale ohne Fraktionszugehörigkeit 10:1, Nationalliberale 99:47, Liberale Vereinigung ─:46, Fortschrittler 26:60, Zentrum 94: 100, Polen 14: 18 und Sozialdemokraten 9: 12 bei insgesamt 397 Reichstagsmitgliedern. Dabei waren dem Regierungslager nur die Konservativen und die Freikonservativen (Deutsche Reichspartei) zuzurechnen (vgl. Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871─1918, München 1980, S. 39) »
  • 36Lothar Gall, Bismarck, S. 613. »
  • 37Immerhin hatten die Vorgänge bei der ersten Unfallvcrsicherungsvorlage gezeigt, daß in außerkirchlichen Fragen, insbesondere bei der Beurteilung der sozialen Staatsintervention, das Zentrum unsicher und zerstritten war, sein geschlossenes Auftreten nach außen nur mühsam zu erreichen war! »
  • 38Vgl. Nr. 31 Anm. 18. »
  • 39Vgl. Nr. 115; soweit sich die politischen Auffassungen Theodor Lohmanns rekonstruieren lassen, ist festzustellen, daß in seinen Zukunftsvisionen der parlamentarischen Demokratie kaum ein wesentlicher Platz eingeräumt worden ist. »
  • 40Die gesetzliche Unfallversicherung als Bestandteil des sozialen Netzes, in: 100 Jahre gesetzliche Unfallversicherung, Wiesbaden 1985, S. 32. »
  • 41Siegfried von Kardorff, Bismarck. Vier Vorträge, Berlin 1929, S. 52; der Chef der Reichskanzlei Franz v. Rottenburg berichtete am 19.5.1884 dem Grafen Wilhelm v. Bismarck, daß er noch zu mitternächtlicher Stunde von seinem Vertrauensmann Victor Schweinsburg informiert worden sei, daß das Heidelberger Programm auf dem Berliner Parteitag der Nationalliberalen akzeptiert worden sei: „Die Nationalliberalen haben sich als Partei Bismarck sans phrase konstituiert. Bennigsen hat gegen Manchestertum und für sozialpolitische Reform gesprochen.“ (BA Koblenz NL 298 Goldschmidt Nr. 31, n.fol., Abschrift aus Varzin) Die Anwendung von Windthorsts Charakterisierung der Freikonservativen (Reichspartei) auf die Nationalliberalen zeigt gut den zeitgenössischen Eindruck dieser programmatischen Festlegung. »
  • 42Vgl. Nr. 175 und 176 sowie die faksimilierte Wiedergabe einer Seite im Frontispiz. »
  • 43So Hans-Peter Benöhr, Verfassungsfragen der Sozialversicherung nach den Reichstagsverhandlungen von 1881 bis 1889, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanist. Abt., 97, 1980, S. 94 ff. (hier: 105) »
  • 44Soweit ex post feststellbar, mußten nach der Situation im Mai 1884 von diesen Abänderungsbeschlüssen (Nr. 173) folgende für die Reichsregierung bzw. den Reichskanzler inakzeptabel sein: Die Zulassung der Rückversicherung der öffentlich-rechtlichen Berufsgenossenschaften bei Privatversicherungsgesellschaften, die Substituierung der Garantie der Gesamtheit der Genossenschaften an die Stelle der Reichsgarantie und die Substituierung von Arbeitermitgliedern im Genossenschaftsvorstand an die Stelle der selbständigen Arbeiterausschüsse. Darüber hinaus mußte für Außenstehende, die den Dissens zwischen Bismarck und Lohmann in dieser Frage nicht kannten, auch die Reduktion der Karenzzeit von 13 auf vier Wochen als für Bismarck untragbar erscheinen, d.h. zum Scheitern auch der dritten Unfallversicherungsvorlage beitragen. »
  • 45BArchP 07.01 Nr. 1656, fol. 209. Der beteiligte Tonio Bödiker spricht hier von „verkrüppelten Landesversicherungsämtern“, die neben dem Rcichsversicherungsamt keine besondere Bedeutung haben. »
  • 46Vgl. Nr. 158 Anm. 3. »
  • 47Über das Zustandekommen der sog. Franckensteinschen Klausel ─ der Sache nach bedeutete sie vor allem, daß die bisher provisorischen Matrikularbeiträge der einzelnen Staaten für das Reich zu einer dauernden Institution wurden, entworfen hatten sie die bayerischen Zentrumsmitglieder Kaspar Ruppert und Thomas v. Hauck, Franckenstein brachte sie als Antrag bei der sog. Tarifkommission ein ─ ließ F. später verlauten, das Zentrum habe „sich mit den Konservativen einfach zu dem Zwecke verbunden (...), die nationalliberale Partei definitiv aus ihrer Verbindung mit der Regierung abzudrängen“. (zit. nach Gerhard A. Ritter (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1871─1914, Göttingen 1975, S. 214) »
  • 48Georg Frhr. v. Hertling berichtet in seinen Erinnerungen, daß Bismarck Frhr. v. Franckenstein von Fall zu Fall zu sich bat, „um sich mit ihm über die jeweilige Lage zu besprechen“ und Windthorst ihm berichtet habe, dadurch befinde sich ─ nach einem Wort von Adolph Franz ─ die Zentrumsfraktion „auf der schiefen Ebene ─ nach oben“. (Georg von Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 2, Kempten und München 1920, S. 16). Aufschlußreich für Franckensteins Biographie noch immer: Johann Baptist Stamminger, Ein wahrer Edelmann. Gedächtnisrede auf seine Exzellenz Georg Eugen Heinrich Karl Arbogast Freiherrn von und zu Franckenstein, Herrn der Herrschaften Ockstadt, Ullstadt und Bünzburg, Kapitular-Großkomthur und Großkanzler des Königlich Bayerischen St. Georg Ordens, Königlich Bayerischer Kämmerer, erblichen Reichsrath der Krone Bayern, Ersten Präsidenten der Kammer der Reichsräthe, Mitglied des deutschen Reichstages &c.&c gehalten bei der am 30. Januar 1890 im Saale des Platz’schen Gartens zu Würzburg veranstalteten Trauerfeier, Würzburg 1890. Der Autor teilt über das Verhältnis des konservativen Aristokraten Frhr. v. Franckenstein, der sich auch guter Beziehungen zu Papst Leo XIII. erfreute, zum bürgerlichen Politiker Dr. Ludwig Windhorst mit: „Wer aber ihr gegenseitiges Verhältnis hat kennlernen wollen, der brauchte nur nach Berlin zu gehen. Dort konnte man jeden Nachmittag Windthorst, den kleinen, fast blinden Greis an dem Arme des Hünen Franckenstein lustwandeln sehen. Das ist das sprechendste Bild ihres Verhältnisses zueinander, und in diesem Bilde werden sie durch die Geschichte gehen. Beide waren die innigsten Freunde und darum so innige Freunde, weil jeder nicht nur von dem anderen empfing, sondern weil jeder dem andern auch zu geben hatte“ (ebd., S. 21). Eine neuere Biographie dieses Zentrumspolitikers fehlt, sie wird z.Zt. von Dr. Leonhard Lenk in Neufahrn b. Freising im Auftrag der Familie vorbereitet. »
  • 49Tagebucheintrag vom 15.2.1881, GStA Dahlem (M), Rep. 52 F1 Nr. 7u; F. hatte als erbliches Mitglied des bayer. Reichsrats sowohl gegen die Teilnahme Bayerns am deutschfranzösischen Krieg wie gegen dessen Eintritt in das Deutsche Reich gestimmt. »
  • 50Vgl. Nr. 167. »
  • 51Vgl. Nr. 180 Anm. 1. »
  • 52Vgl. Nr. 183. »
  • 53GStA Dahlem Rep. 94 NL Bosse Nr. 7, fol. 24. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Abschnitt 4, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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