II. Abteilung, Band 1

II.

Die sozialpolitischen Positionen der Parteien47 sind vielgestaltig, das Arbeiterversicherungsprogramm à la Bismarck findet nur wenig positive Resonanz, Sozialpolitik erscheint als nachrangiges Politikfeld. Das betrifft vor allem die Sozialdemokratie, die nur im Reichstag als legaler Bestandteil der politischen Willensbildung geduldet war, sonst aber unter Ausnahmegesetzgebung stand. Hier überwiegt die Ablehnung in der Sprache der Kapitalismusanalyse: Die Arbeiterversicherungsgesetz- gebung ist keine Sozialreform, diese kann nur durch Einführung der sozialistischen Produktionsweise erreicht werden, und die passende taktische Forderung zu dieser Strategie ist die nach dem Normalarbeitstag als weitestgehende Form des Arbeitsschutzes.48 Aber daneben zeichnen sich auch reformistische Positionen ab, „Reformschrullen“49, die auch auf staatliche Reformen setzen.50 Insgesamt werden aber alle Arbeiterversicherungsgesetze von der Sozialdemokratie abgelehnt – „Gegensteuern“ und Hoffnung auf den Tag des „allgemeinen Kladderadatsch“, der nie kam, war die Strategie des populären Parteiführers August Bebel. „Die Führung hat“, so eine Kritik aus der Sicht des 20. Jahrhunderts, „nicht gewußt, wie dieses System anzugreifen ist, aber auch niemand anders.“51

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Bismarck baute bei seiner antiliberalen Politik die Sozialdemokratie mit ihrer Klassenposition rhetorisch geschickt ein, gab ihr eine Funktion als Motor sozialstaatlichen Ausbaus: „Wenn es keine Sozialdemokratie gäbe und wenn nicht eine Menge Leute sich vor ihr fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch nicht existieren.“52 „Sehr richtig!“ hieß es auf diese Bismarck-Sentenz hin bereits bei den Sozialdemokraten im Reichstag, und bis heute können sie sich mehr auf Bismarck denn auf Bebel berufen, wenn sie die Weichenstellung zum Sozialstaat für sich reklamieren. In diesem Sinne hieß es bereits in dem sozialdemokratischen Wahlaufruf von 1884: „keine Arbeitergesetzgebung ohne die Sozialdemokratie“53.

Aus dem nationalliberalen Lager finden sich kaum größere themenübergreifende programmatische Äußerungen zur Sozialpolitik, die sich für eine Aufnahme in diesen Band geeignet hätten.54 Eine prinzipielle Gegnerschaft, die sich in Publizistik hätte niederschlagen können, ist spätestens seit der auf Johannes Miquel zurückgehenden Heidelberger Erklärung vom 23. März 1884 ohnehin nicht gegeben.55 So verwundert es nicht, daß die von der Analyse her grundlegendsten Stücke von linksliberalen Parteigängern und Politikern, insbesondere von Max Hirsch und Karl Schrader, stammen.56 Diese sind zunächst im wesentlichen ablehnend gegenüber dem Bismarckschen Programm von „Staatshilfe“ bzw. Zwangsversicherung gegenüber den sozialen Risiken der Arbeiterexistenz, ihre Argumentation mutet modern an. Der „Staatssozialismus“ ist abzulehnen, er entmündigt, wichtiger ist die generelle Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiter durch Rückzug des Interventionsstaates bzw. durch Freihandel, das schafft Raum für Privatinitiative (etwa von gemeinnützigen Stiftungen)57 und vor allem Selbsthilfe. Aus dem Umkreis der Gewerkvereine wird diese Position konkretisiert und gestärkt, diese haben aber „in der sozialen Mechanik“ den „Punkt des Archimedes, von welchem aus die Welt des Arbeiterelends aus den Angeln gehoben werden kann“,58 weniger denn je gefunden und sind seit dem gescheiterten Waldenburger Streik von 1869 und dem Niedergang ihrer Arbeiterinvalidenkasse wie der übrigen Gewerkvereinskassen selbst auch keine politische Kraft für entsprechende Hebelbewegungen. Anders als in den frühen siebziger Jah- ren haben sie nur noch wenig Freunde und Förderer in Kreisen der Gelehrten und Parteipolitiker. Selbst der liberale Theoretiker und geborene Katholik Lujo Brentano beriet lieber seinen Freund Ernst Lieber vom Zentrum als die deutschen Gewerk-[ Druckseite XXIV ] vereine, die seinen am englischen Modell gewonnenen Idealen nicht entsprachen – jene hätten „den deutschen Arbeitern bisher noch gar nichts genützt“.59

Hoffnungen auf neues politisches Gewicht erhielt der politische und soziale Liberalismus durch die liberalen Ansichten des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, die die- ser nicht nur seinen Tagebüchern anvertraut;60 mit Hilfe einiger Berater bereitete er eine liberale Wende vor. Ein daraus hervorgehender Erlaß an den Reichskanzler vom 12. März 1888 zeigt die geplante Abkehr vom „Staatssozialismus“, den er in seinen Tagebucheintragungen scharf kritisiert hatte, deutlich.61 Dieser aber ist schon „ins Werk gesetzt“, die das Privateigentum ansatzweise substituierenden öffentlichrechtlichen Ansprüche („Peculium“) sind bei der gewerblichen Unfallversicherung bereits gegründet, ein entsprechend tätiges Reichsversicherungsamt mit dem aktiven Tonio Bödiker an der Spitze ist errichtet, und die konservative Ministerialbürokratie unter v. Boetticher und Robert Bosse werkelt bereits eifrig auch an einer entsprechenden Absicherung der Risiken Alter und Invalidität, die einen Reichszuschuß bringen sollte.62 Der am 9. März 1888 als Kaiser Friedrich III. inthronisierte Kronprinz ist seit einem Jahr unheilbar erkrankt und stirbt noch im Jahr seiner Thronfolge. Damit verliert die liberale Alternative endgültig an politischer Bedeutung, im Reichstag herrscht das sog. Kartell, das Bündnis von Deutschkonservativen, Reichspartei und Nationalliberalen, heftig befehdet von Zentrum, Freisinn und Sozialdemokratie.

Im konservativen Lager profiliert sich während dieser sog. Kartellzeit der Kathedersozialist Adolph Wagner, allerdings nicht sonderlich innovativ, bloßes Sprachrohr Bismarcks wie im für beide verlorenen Reichstagswahlkampf 1881 ist er aber auch nicht mehr.63 Die von ihm theoretisch abgesicherte konservative Position befürwortet den von der Reichsregierung seit 1878 vorangetriebenen Interventionsstaat: Der Staat hat das Recht, in wirtschaftliche Angelegenheiten einzugreifen, die Sozialdemokratie muß niedergehalten werden, eine über die Verheißungen des alten Kaisers in der Sozialbotschaft vom 17. November 1881 hinausgehende behutsame Sozialreform ist notwendig. Sozialpolitischen Handlungsbedarf sah Wagner nunmehr – mit einer breiten Front von Sozialpolitikern auch aus anderen politischen Lagern – insbesondere hinsichtlich des Arbeiterschutzes und der Einrichtung von Einigungsämtern.64

Im Hinblick auf das konservative Lager muß nicht zuletzt der Sozialprotestantismus genannt werden.65 Für die protestantisch-kirchlichen Kreise, allen voran Hofprediger Adolf Stoecker, waren die Forderungen nach einer fortschrittlichen Umgestaltung des Gesellschaftssystems, wie sie der linke Liberalismus verfocht, untrag- [ Druckseite XXV ] bar. Dabei gab es in der Frühzeit des Sozialprotestantismus bei den sozialpolitischen Forderungen im „technischen“ Sinn durchaus Gemeinsamkeiten zwischen sozialem Protestantismus und Sozialliberalismus.66 So hatten die Gründungsväter der christlich-sozialen Bewegung – Johann Hinrich Wichern und Viktor Aimé Huber – wie die Liberalen die sozialen Auswirkungen des Industrialismus in England studiert und propagierten Assoziationen, insbesondere auch genossenschaftliche Selbsthilfeeinrichtungen.67 Die Politisierung der Arbeiter lehnten beide aber ab, sie setzten auf Gesinnungsreform bei der Arbeiterbevölkerung, deren (Re-)Christianisierung und Versittlichung durch Innere Mission, die sie als Kulturbewegung verstanden. In den achtziger Jahren war das aber die Vergangenheit, die in der Reichsgründungszeit ausgeklungen war. Inzwischen, Anfang 1878, hatten sozial engagierte Protestanten um Adolf Stoecker eine politische Partei gegründet, die Christlich-soziale Arbeiterpartei.68 Diese folgte im Hinblick auf zentrale Forderungen ihres Programms konse- quent der staatssozialistischen Position ihres Gründungsmitglieds Adolph Wagner und hatte auch bei den Sozialdemokraten einige Punkte entliehen, sie fand allerdings kaum Zuspruch bei den Arbeitern, und auch von dem vorgesetzten Evangelischen Oberkirchenrat wurde dieses Vorgehen der Pastoren recht deutlich, wenn auch verklausuliert, 1879 abgelehnt.69 Angesichts der geringen Resonanz auf seiten der Ar- beiterschaft änderte die „Pastorenpartei“ ihre politische Zielrichtung, wandte sich eher den Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten zu und strich das Wort „Arbeiter“ im Parteinamen. Die Partei Stoeckers, wie sie genannt wurde, hieß nunmehr Christlich-soziale Partei und schloß sich als selbständige Gruppe den Deutschkonservativen an. Sie verfolgte einen üblen antisemitisch-antiliberalen Kurs und gab ihr ursprünglich radikales soziales Programm weitgehend auf. Statt dessen unterstützte sie mit Eifer die sozialpolitischen Initiativen der Regierung, wie sie in der Kaiserlichen Sozialbotschaft vom 17. November 1881 formuliert worden waren,70 profilierte sich als „Berliner Bewegung“, errang in der Reichshauptstadt aber bei den Wahlen – anders als bis 1880 – nur noch begrenzt Erfolge.71 Die antisemitische Hetze verquickte Stoecker mit seiner sozialpolitischen Agitation: Die „geplante Sozialreform auf christlicher Grundlage“ habe „an den Juden ihre bittersten Feinde“ tönte er am 3. Februar 1882 in einer christlich-sozialen Parteiversammlung unter „stürmischem, anhaltendem Beifall“.72 Die Reichsregierung ging deutlich auf Distanz zu diesen Parteigängern ihrer Politik. Diese erfolgte teils aus staatspolitischen Erwägungen (so bei Bismarck)73, teils aus christlicher Grundüberzeugung (so bei Robert Bosse und Theodor Lohmann), nur bei dem ehrgeizigen Prinzen Wilhelm, dem späteren Kaiser [ Druckseite XXVI ] Wilhelm II., konnte Stoecker vorübergehend reüssieren, allerdings weniger mit seiner Partei als mit seiner Förderung der Inneren Mission. 74

Der Evangelische Oberkirchenrat hatte bereits 1879 bei seiner „Ansprache an die Geistlichen und Gemeindekirchenräte, betreffend ihre Aufgaben gegenüber den aus der sozialistischen Bewegung entstandenen Gefahren“, der erwähnten ablehnenden Stellungnahme gegenüber der politischen Agitation von Adolf Stoecker und anderen Pastoren, hervorgehoben, daß man „die unter christlichen Namen auftretenden sozialen Reformbewegungen“ deutlich von „der so gesegneten Arbeit der Inneren Mission“ unterscheiden müsse.75

Auch die „Innere Mission“ – inzwischen weniger Kulturbewegung als Trägerin sozialer Einrichtungen – war eine Wirkungsstätte Stoeckers. Sie kämpfte mit ihm gegen die Agitation der Sozialdemokratie gegen Christentum, Kirche und Staat auf lokaler wie zentraler Ebene, übernahm jedoch nicht dessen antisemitische Agitation. Für die lokale Ebene der Inneren Mission sei die Berliner Stadtmission genannt,76 die Stoecker begründet hatte, für die zentrale der von Johann H. Wichern 1849 begründete Zentralausschuß für die Innere Mission, der 1878 seine Statuten von 1849 revi- diert hatte und dem Adolf Stoecker seit 1877 angehörte, eine führende Rolle spielte er hier aber nicht. Immerhin regte er 1884 in diesem Kreise eine Denkschrift zur sozialen Frage an und unterbreitete einen ersten Entwurf dazu.77 Den damit ersten Schritt des Zentralausschusses in die politische Öffentlichkeit bestimmte dann aber inhaltlich alsbald Theodor Lohmann, dessen vielfach variierte Grundideen einer „versöhnenden Arbeiterpolitik“ allerdings eher auf eine Sozialgesellschaft, denn auf einen Sozialstaat, der Altersversorgungsansprüche für Arbeiter generierte, zielten.78 Im Herbst 1883 war es zum offenen Bruch zwischen Bismarck und Lohmann gekommen, im Staatsapparat war Lohmann daraufhin bis zu Bismarcks Sturz weitge- hend kaltgestellt.79 Nun wurde der Zentralausschuß sein Aktionsfeld. Lohmann, der die Sozialpolitik der Kaiserlichen Botschaft für ein totgeborenes Kind80 hielt, wurde – wie bald durchsickerte – der maßgebliche Verfasser der im Sommer 1884 veröffentlichten Denkschrift über „Die Aufgabe der Kirche und ihrer Inneren Mission gegenüber den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart“. In dieser wurde „der weitverbreiteten Neigung, die ‚Lösung der sozialen Frage‘ vorzugsweise von äußeren Maßregeln und Organisation zu erwarten“, kurzum dem Interventionsstaat à la Bismarck eine klare Absage erteilt. 81Dieser Text gilt trotz [ Druckseite XXVII ] seiner argumentativen Schwächen als geschlossener sozialethischer Entwurf, er wurde gezielt an politisch einflußreiche Personen von Bismarck über Staatssekretär von Boetticher bis zu den Ober- und Regierungspräsidenten versandt und auch sonst eifrig in etwa 10 000 Exemplaren als Broschüre verbreitet, fand zeitgenössisch aber kaum mehr als höflichen Dank. Selbst auf dem Kasseler Kongreß der Inneren Mission im Jahre 1888 stand zwar die Behandlung der sozialen Frage im Mittelpunkt,82 nicht aber Theodor Lohmann, der Vordenker von politikfähigen Antworten darauf war der Referent. Der Denkschrift von 1884 wurde insgesamt Respekt gezollt, mehr nicht, ihr folgte auch kein Aufschwung der Inneren Mission und schon gar keine neue Aufgabenerfüllung bei Kirche und Staat. Der „Staatssozialist“ Bismarck sah sozialpolitisch agierende Pastoren und Vereine von vornherein mit tiefer Skepsis und Unbehagen: „Die freien Vereine können wohl Kritik üben und über Schäden Klage führen, aber heilen können sie letztere nicht“. Der Kanzler prognostizierte „das sichere Mißlingen ihrer Unternehmungen“ – allein die Staatsgewalt sei „auf dem We- ge der Gesetzgebung befähigt (...) zum positiven Schaffen und Erhalten lebensfähiger Reformen“.83 Und einem Adjutanten des Kronprinzen Friedrich Wilhelm ließ er hinsichtlich der verweigerten Subventionierung eines Projekts der Inneren Mission, das Friedrich von Bodelschwingh initiiert hatte, kühl mitteilen: „Gewiß kann der einzelne viel Gutes tun, aber die soziale Frage lösen kann nur der Staat.“84

Vertreter der Inneren Mission sahen die soziale Frage auch als entscheidend für den Ausgang der konfessionellen Auseinandersetzungen an, die Bismarck mit dem Kulturkampf auf den politischen Sektor übertragen hatte.85 So verkündete der prominente Theologe Gerhard Uhlhorn, Hannoveraner wie Theodor Lohmann, 1886 auf dem ersten „Instructions-Cursus für Innere Mission“: „An der sozialen Frage werden sich auch die Geschicke der Kirchen entscheiden. Diejenige Kirche wird den Sieg behalten, welche zur Lösung der sozialen Frage am meisten beiträgt“.86 Dabei sprach er, insgesamt allerdings sich eher auf Luthers Berufsethik als auf Bismarcks Rhetorik vom „praktischen Christentum“ stützend, dem Protestantismus die größere Kom- petenz zu. Der Protestantismus allein habe die richtige Einstellung zur Rolle des Staates in der wirtschaftlichen Entwicklung, nicht aber der Katholizismus, der auf Korporationen setze und den Staatssozialismus ablehne.

Das sagte er, der protestantische Abt des Klosters Loccum, zu einer Zeit, als die katholische Arbeitervereinsbewegung87 ebenso im Aufstieg begriffen war wie der Sozialkatholizismus insgesamt! Uhlhorn polemisierte gegen den Katholizismus, aber

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dieser stellte sich inzwischen, beraten von rheinischen Industriellen und Sozialreformern, mit erheblicher Sachkunde den Problemen des Industrialismus, mochte es auch noch eine ständestaatlich orientierte Grundlinie geben vom berühmten Antrag Graf Galen88 bis zu den Haider Thesen eines Freiherrn von Vogelsang, die immer noch gern beschworen wurden.89 Die „Ausbildung korporativer Verbände“ – konkret Körperschaften des öffentlichen Rechts –, die auch in der Kaiserlichen Botschaft als Programmpunkt angesprochen wurde, wurde eine tragende Säule der Bismarckschen Arbeiterversicherung. Der gegenwarts- wie zukunftsorientierte Sozialkatholizismus hatte in dem auf dem Katholikentag 1879 gegründeten Arbeitgeberverband „Arbeiterwohl“ einen sachverständigen Träger und in dem Mönchengladbacher Kaplan Franz Hitze, Generalsekretär dieses Verbandes, einen sozialpolitischen Sprecher von eigenem Format gefunden. In „Mönchengladbach, wo die Entscheidung zur Mitarbeit der Katholiken innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung bereits gefal- len war, wandelte sich der Sozialreformer Hitze zum Sozialpragmatiker und Sozialpolitiker.“90 Von der alten Generation der Zentrumsfraktion, insbesondere von Frak- tionsführer Ludwig Windthorst, wurde er zunächst zurückhaltend aufgenommen, als er 1884 in den Reichstag einzog: „Die ‚kleine Exzellenz‘ witterte in dem Neuling einen Sozialisten im geistlichen Gewande.“91 Im Zentrum wirkte Hitze offensiv und pragmatisch für eine adäquate Reaktion des Staates auf die soziale Frage, nicht zuletzt durch eine präventive Arbeiterschutzpolitik.92 An Sachkenntnis und Technik der sozialen Gesetzgebung war er, wie der Band 3 „Arbeiterschutz“ dieser Abteilung zeigt, dem Philosophen Georg von Hertling voraus. Die Haltung des Zentrums zum Alters- und Invaliditätsgesetz, das mit seinem Reichszuschuß als Prototyp des Staatssozialismus angesehen wurde, war allerdings überwiegend ablehnend, Georg von Hertling und Franz Hitze stimmten unter Windthorsts Führung dagegen. Auf der anderen Seite gab es auch engagierte Befürworter: Besondere Verdienste bei der Durchsetzung der Arbeiterversicherungspolitik à la Kaiserliche Sozialbotschaft im Reichstag hat der Zentrumsabgeordnete und bayerische Reichsrat Georg Arbogast von Franckenstein, die „große Exzellenz“, erworben, er leitete mit großem Geschick und wenig Worten die entsprechenden Kommissionen und folgte Bismarcks Intentionen wie seiner Überzeugung, Windthorst verfolgte ihn scharf mit seiner Kritik.93

Mit dem großen Bergarbeiterstreik vom Frühjahr 1889 wurde offenbar, daß die Arbeiterversicherungspolitik die industrielle Konfliktfreudigkeit der Arbeiter, die sie [ Druckseite XXIX ] bereits in den Gründerjahren so beeindruckend gezeigt hatte, nicht gehemmt hatte. Ähnliches läßt sich über die betriebliche Sozialpolitik sagen, die staatlicherseits gern dokumentiert und gepriesen wurde, nicht nur im Bergbau.94 Der bereits genannte Robert Bosse äußerte in einem Rückblick auf das Jahr 1889 sorgenvolle Gedanken: „Ein Anwachsen begehrlicher, auf den Umsturz der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnungen bedachter Mächte. Arbeitseinstellungen von früher unge- ahntem Umfang und mit höchst bedrohlichen Folgen. Keine durchgreifende Versöhnung, sondern anscheinend steigende Verbitterung.“95 Zum Bergarbeiterstreik, bei dem weder Arbeiterversicherung noch Arbeiterschutz „Thema“ waren, haben wir die bisher nur gekürzt veröffentlichte Denkschrift des Vortragenden Rats im preußischen Handelsministerium und konservativen Politikers Karl Gamp aufgenommen.96 Eine weitere quellenmäßige Dokumentation des großen Bergarbeiterstreiks von 1889 ist nicht Aufgabe dieses Bandes97. Gleichwohl ist die weitere Entwicklung von der Arbeiterversicherungspolitik zu weiterer sozialpolitischer Gestaltung des Staates, wie sie die Februarerlasse Wilhelm II. ankündigten, ohne die vermittelten Wirkungen der bis dahin größten Arbeiterbewegung der deutschen Geschichte nicht erklärbar.

  • 47Vgl. für den hier interessierenden Zeitraum: Lothar Gall (Hg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn 2001; ders. (Hg.), Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks, Paderborn 2003. »
  • 48Vgl. Nr. 50, Nr. 51 und Nr. 82. »
  • 49So August Bebel an Friedrich Engels am 20.9.1881 über Wilhelm Liebknecht, in: August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2/2, bearb. von U. Herrmann u. H. Gemkow, Berlin 1978, S. 68. »
  • 50Vgl. Nr. 21. In einem Brief vom 9.10.1882 an deutsche Sozialdemokraten in New York stellte Bebel fest, daß manche in der Partei „von einer sozialen Reform im Bunde mit anderen Elementen träumen. Das sind aber nur einige Führer, und diese wissen ganz genau, daß, wenn sie mit ihren Ideen offen herausrückten, sie bei der Masse der Partei jämmerlich Schiffbruch litten.“ Als Perspektive entwickelte er demgegenüber: „Die Partei übernimmt bei der kommenden Umwälzung die Führung“; vgl. August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2/2, S. 94, vgl. auch S. 57 zum „Kladderadatsch“. »
  • 51Vgl. Shlomo Na’ aman, Gibt es einen „Wissenschaftlichen Sozialismus“, Hannover 1979, S. 96; insgesamt zum Problem: Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1881–1914 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 5), Bonn 1992. »
  • 52 So Bismarck im Reichstag am 26.11.1884 (Sten. Ber. RT 6. LP I. Session 1884, S. 25; Abdruck: Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 12, Berlin 1929, S. 498. »
  • 53 Vgl. Nr. 51; zur Haltung August Bebels: Autorenkollektiv unter Leitung von Ursula Herr- mann und Volker Emmrich, August Bebel. Eine Biographie, Berlin 1989, S. 246 ff.; vgl. insgesamt: Hans-Peter Benöhr, Soziale Frage, Sozialversicherung und Sozialdemokrati- sche Reichstagsfraktion (1881–1889), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsge- schichte, Germanistische Abteilung, 1981, S. 95 ff. »
  • 54 Eine Gesamtdarstellung der sozialpolitischen Aktivitäten der Liberalen auf Reichsebene gibt: Wolther von Kieseritzky, Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutsch- land zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878–1893), Köln u. a. 2002. »
  • 55 Vgl. Nr. 151 Bd. 2 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 56 Vgl. Nr. 29, Nr. 40, Nr. 49, Nr. 52, Nr. 54, Nr. 66 und Nr. 69. »
  • 57 Vgl. Nr. 37. »
  • 58So Max Hirsch, Die Arbeiterfrage und die deutschen Gewerkvereine, Leipzig 1893, S. 70. »
  • 59 Vgl. Lujo Brentano, Die Arbeiterversicherung gemäß der heutigen Wirtschaftsordnung, Leipzig 1879, S. 222. »
  • 60 Vgl. Nr. 60 und Nr. 78. – In diesem Kontext sind vor allem die Vorschläge Karl Schraders, der zum Freundeskreis des Kronprinzen gehörte, zu sehen: Nr. 49 und Nr. 52. »
  • 61 Vgl. Nr. 77. »
  • 62 Vgl. dazu Nr. 37 ff. Bd. 6 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 63 Vgl. Nr. 21 dieses Bandes und Nr. 188, Nr. 189 und Nr. 191 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 64 Vgl. Nr. 88 und Nr. 89. »
  • 65 Erkki I. Kouri, Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870–1919, Berlin u. a. 1984, und J. F. Gerhard Goeters u. Joachim Rogge (Hg.), Die Geschichte der Evangeli- schen Kirche der Union, Bd. 2: Die Verselbständigung der Kirche unter dem königlichen Summepiskopat, Leipzig 1994, S. 258 ff. »
  • 66 Vgl. William O. Shanahan, Der deutsche Protestantismus vor der sozialen Frage 1815– 1871, München 1962, S. 243 ff. u. 323 ff. »
  • 67 Vgl. Nr. 79. »
  • 68 Vgl. dazu Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 69 Vgl. Günter Brakelmann, Kirche, soziale Frage und Sozialismus, Bd. 1: Kirchenleitungen und Synoden über soziale Frage und Sozialismus 1871–1914, Gütersloh 1977, S. 18 ff. »
  • 70 Vgl. Nr. 24. »
  • 71 Vgl. dazu die materialreiche zeitgenössische Darstellung: Max Schön, Die Geschichte der Berliner Bewegung, Leipzig 1889. »
  • 72 Adolf Stoecker, Das Judentum im öffentlichen Leben, eine Gefahr für das Deutsche Reich, in: ders., Christlich-Sozial, Reden und Aufsätze, 2. Aufl., Berlin 1890, S. 419 ff. »
  • 73 Vgl. Nr. 76. »
  • 74Vgl. Nr. 75. »
  • 75Abdruck bei: Günter Brakelmann, Kirche, soziale Frage und Sozialismus (vgl. Anm. 69), S. 72 ff. »
  • 76Vgl. dazu die Festschrift: Gott liebt diese Stadt. 100 Jahre Berliner Stadtmission 1877–1977, Berlin 1977. »
  • 77Vgl. Nr. 42. »
  • 78Vgl. dazu Lothar Machtan, Der Gesellschaftsreformer Theodor Lohmann, in: Inge Marßolek/Till Schelz-Brandenburg (Hg.), Soziale Demokratie und sozialistische Theorie. Fest- schrift für Hans-Josef Steinberg zum 60. Geburtstag, Bremen 1995, S. 30–38, und Renate Zitt, Zwischen Innerer Mission und staatlicher Sozialpolitik, Heidelberg 1997, vgl. Nr. 82. »
  • 79Vgl. dazu Nr. 113 und Nr. 114 Bd. 2 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 80So in einem Brief an seinen Freund Ernst Wyneken vom 15.10.1882, vgl. Nr. 70 Bd. 2, 1. Teil, der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 81Vgl. Nr. 45 und Nr. 46, zur Interpretation und zum sog. Nachwort von 1894: Jochen- Christoph Kaiser, Protestantismus und Sozialpolitik. Der Ertrag der 1890er Jahre, in: Jochen-Christoph Kaiser/Wilfried Loth (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart 1997, S. 94 ff. (98 ff.); zur Detailanalyse der Denkschrift vgl. auch den Beitrag von Hans Otte, Den Ideen Gestalt geben (ebenda, S. 32 ff.). »
  • 82Vgl. Nr. 83. »
  • 83Vgl. Nr. 76. »
  • 84Vgl. Nr. 62. »
  • 85Vgl zum Kulturkampf: Der Kulturkampf, hg. und erläutert von Rudolf Lill, Paderborn u. a. 1997, und Hubert Kirchner, Das Papsttum und der deutsche Katholizismus 1870–1958, Leipzig 1992, S. 40 ff. »
  • 86Gerhard Uhlhorn, Katholicismus und Protestantismus gegenüber der socialen Frage, in: ders., Schriften zur Sozialethik und Diakonie, hg. von Martin Cordes und Hans Otte, Hannover 1990, S. 196 ff. »
  • 87Vgl. Nr. 81. »
  • 88Vgl. Nr. 102 Bd. 3 der I. Abteilung dieser Quellensammlung, siehe auch Nr. 91 des vorliegenden Bandes. »
  • 89Vgl. Nr. 38. »
  • 90So Norbert Klinkenberg, Sozialer Katholizismus in Mönchengladbach, Mönchengladbach 1981, S. 145; vgl. auch Nr. 57 und Nr. 81. »
  • 91So Franz Müller, Franz Hitze und sein Werk, Hamburg 1928, S. 68. »
  • 92Vgl. Franz Müller, Franz Hitze und sein Werk, und Marcus Böhne, Der Verband Arbeiterwohl und die Arbeiterfrage. Geschichte, Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege des Verbandes katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde (1880–1928), Diss. theol. Paderborn 2001; zur vom Kulturkampf geprägten Haltung des Zentrumsführers Ludwig Windhorst gegen Staatssozialismus bzw. „Staatsomnipotenz“ vgl. Nr. 39 dieses Bandes und Nr. 21 Anm. 8 Bd. 2 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 93Karl Otmar von Aretin, Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II., Stuttgart 2003; diese Darstellung beruht wesentlich auf der Auswertung des Nachlasses Franckensteins, insbesondere der umfangreichen Korrespondenz mit seiner Frau. »
  • 94Vgl. Die bestehenden Einrichtungen zum Besten der Arbeiter auf den Bergwerken Preußens. Im Auftrage seiner Exzellenz des Ministers für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten nach amtlichen Quellen bearbeitet, Berlin 1875; vgl. auch Nr. 43. »
  • 95Rückblick auf das alte und Ausblick in das neue Jahr, in: Monatschrift für Deutsche Beamte 13 (1889), S. 442 ff. (444). »
  • 96Vgl. Nr. 91. »
  • 97Vgl. dazu Bd. 4 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Abschnitt 5, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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