II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 146

1884 März 8

Entwurf eines Gesetzes betr. die Verlängerung der Gültigkeitsdauer des sog. Sozialistengesetzes mit Begründung1

Druck, Teildruck

[Das Gesetz soll um zwei Jahre verlängert werden, durch die Sozialgesetze wird es nicht sofort, sondern erst langfristig überflüssig werden]

Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser,

König von Preußen etc. verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags, was folgt:

Die Dauer der Geltung des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878 (Reichs-Gesetzblatt Seite 351) wird [ Druckseite 532 ] unter Abänderung des § 2 des Gesetzes vom 31. Mai 1880, betreffend die authentische Erklärung und die Gültigkeitsdauer des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878 (Reichs-Gesetzblatt Seite 117), hierdurch bis zum 30. September 1886 verlängert.

Begründung.

Nach § 2 des Gesetzes vom 31. Mai 1880, betreffend die authentische Erklärung und die Gültigkeitsdauer des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878, erreicht die Geltung des letzteren am 30. September dieses Jahres ihre Endschaft.

Die Wirkungen, welche man sich von dem Gesetze am 21. Oktober 1878 versprechen konnte, sind, wie den vielfachen gegenteiligen Behauptungen gegenüber zunächst festzustellen ist, im Großen und Ganzen erzielt worden. Es sind einmal dem weiteren Umsichgreifen der sozialdemokratischen Bewegung gewisse Schranken gezogen, und es ist ferner durch energische Handhabung der Bestimmungen des Gesetzes möglich geworden, die lauten, Gesetz und Recht offen verhöhnenden Kundgebungen der sozialdemokratischen Partei einigermaßen von der Oberfläche zu verdrängen. ─ Auch haben sich die von vielen Seiten geäußerten Befürchtungen als grundlos erwiesen, daß sich die Handhabung des Gesetzes eine Unterdrückung berechtigter Bestrebungen und Anwendungen der Bestimmungen auf Elemente, welche den Umsturzparteien nicht angehören, nicht werde vermeiden lassen.

Dagegen kann ein Zweifel darüber nicht obwalten, daß die sozialdemokratische Bewegung selbst, mehrfacher Schwankungen ungeachtet, in wesentlich gleicher Stärke fortbesteht. Die gerade in der letzten Zeit sowohl in Deutschland wie in anderen Kulturstaaten zur Erscheinung gekommenen verbrecherischen Angriffe auf das Leben und Eigentum, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Initiative der Umsturzparteien zurückzuführen sind, müssen in eindringlicher Weise davor warnen, aus der an der Oberfläche eingetretenen größeren Ruhe den Fehlschluß auf ein Ermatten oder gar Erlöschen der Bewegung zu ziehen. Es erscheinen daher die außerordentlichen Befugnisse, welche den Regierungen durch das Gesetz vom 21. Oktober 1878 zur Bekämpfung der Umsturzbestrebungen der Sozialdemokratie in die Hand gegeben worden sind, für die nächste Zeit noch unentbehrlich. Auch werden dieselben mit dem Inkrafttreten der projektierten Reformgesetze auf dem sozialen Gebiet keineswegs sogleich gegenstandslos. Im Gegenteil wird nach den bei dem Krankenversicherungsgesetz gemachten Erfahrungen2 eine sorgfältige Anwendung der bezüglichen Bestimmungen nicht zu umgehen sein, um den Gesetzen eine ihren wohlwollenden Absichten entsprechende Durchführung zu sichern. ─ Die hiernach gebotene angemessene Verlängerung des Gesetzes vom 21. Oktober 1878 herbeizuführen, ist Zweck des vorstehenden Gesetzentwurfs.

Was die Dauer der Verlängerung anbetrifft, so kann offenbar eine kürzere als zweijährige Frist überhaupt nicht in Frage kommen, wenn eine fortgesetzte erfolgreiche Wirkung des Gesetzes nicht von vornherein in Frage gestellt werden soll. [...]

[ Druckseite 533 ]

Registerinformationen

Personen

  • Behm, Gustav (1821─1906) Geheimer Sekretär und Kalkulator im preuß. Handelsministerium
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1Sten.Ber.RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 3, S. 422, Aktenstück Nr. 24. In seiner Sitzung vom 21.3.1884 überwies der Reichstag die Regierungsvorlage einer Kommission; eine materielle Diskussion der Regierungsvorlage vom 8.3.1884 fand nicht statt, bei der Abstimmung wurde sie schließlich mit 10 : 10 Stimmen abgelehnt (vgl. den von Frhr. v. Hertling verfaßten Kommissionsbericht v. 5.5.1884: Sten. Ber.RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 4, S. 734─743, Aktenstück Nr. 80), es drohte die sofortige Auflösung des Reichstages (vgl. Marschall an Turban v. 15.3.1884, Abdruck: Großherzog Friedrich I., Bd. 2, S. 243 f.). Vom 8.-10.5.1884 fand die zweite Beratung der Regierungsvorlage im Reichstagsplenum statt, in die Debatte griff auch Bismarck ein (Sten.Ber.RT, 5. LP. IV. Sess. 1884, Bd. 1, S. 441─530; vgl. auch Nr. 166); am Schluß fand eine namentliche Abstimmung statt, die eine Mehrheit für die Regierungsvorlage ergab (189 : 157 Stimmen bei einer Enthaltung); mit Handschreiben gratulierte Wilhelm I. Bismarck zu dem unerwarteten Siege in der 2ten Lesung! (Kaiser Wilhelm I. und Bismarck, Stuttgart u. Berlin 1901, S. 327). Als bedeutsam galt dabei die “Spaltung” des Zentrums: 39 Zentrumsabgeordnete stimmten für die Verlängerung des Sozialistengesetzes, 13 blieben der Abstimmung fern, der Rest unter Führung Windhorsts stimmte dagegen. Bamberger schrieb am 2.4.1884 an v. Stauffenberg, er habe W(indhorst) noch nie so gedrückt und von Sorgen niedergebeugt gesehen, wie am Schluß des Reichstags und in der einzigen Sitzung der Soz(ialistengesetz)Kommission (BArchP 90 Sta 1, fol. 60), vgl. auch Margaret Lavinia Anderson, Windthorst, Düsseldorf 1988, S. 324 ff. Am 12.5. wurde dann in 3. Lesung der Gesetzentwurf endgültig angenommen und als Gesetz verkündet. Die Regierung sah in der “Spaltung” der Opposition ein positives Signal für die Annahme der dritten Unfallversicherungsvorlage. Die Mitglieder der dafür zuständigen VII. Kommission zur Vorberatung des Entwurfs eines Gesetzes über die Unfallversicherung der Arbeiter (vgl. Nr. 152) votierten bei der Abstimmung der 2. Lesung des Sozialistengesetzes folgendermaßen: Die Konservativen, die Freikonservativen (Deutsche Reichspartei) und die Nationalliberalen geschlossen dafür, die Mitglieder der Fortschrittspartei geschlossen dagegen, die Mitglieder des Zentrums und der Liberalen Vereinigung hingegen unterschiedlich. Vom Zentrum stimmten dafür: Heinrich Graf Adelmann, Georg Frhr. zu Franckenstein, Alois Fritzen, Friedrich Frhr. von Gagern, Josef Geiger und Dr. Georg Frhr. v. Hertling; dagegen stimmten: Dr. Ferdinand Graf v. Galen, Albert Horn, Dr. Christoph Moufang, Gerhard Stötzel, Carl Frhr. v. Wendt und Dr. Ludwig Windthorst.Von der Liberalen Vereinigung stimmten dafür: Eduard Eberty und Heinrich v. Schirmeister; dagegen stimmten: Dr. Wilhelm Th. Barth, Dr. Egidi Gutfleisch und Karl Schrader. »
  • 2Gemeint ist die Bevorzugung der freien Hilfskassen gegenüber den gesetzlichen Zwangskassen durch die organisierte Arbeiterschaft, die durch das Substitutivprinzip möglich war, vgl. Nr. 167. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 146, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0146

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.