II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 143

1884 März 1

Denkschrift1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann für den Direktor im Reichsamt des Innern Robert Bosse

Eigenhändige Ausfertigung

[Die Bildung von Arbeiterausschüssen wird als Organ der Arbeitervertretung und Mitwirkung bei der Unfallversicherungsgesetzgebung begründet und anhand der bisherigen praktischen Erfahrungen befürwortet]

Der Gedanke, zur Wahrnehmung der Interessen der Arbeiter bei der Verwaltung der Unfallversicherung selbständige Arbeiterausschüsse zu errichten, verdankt seine Entstehung nicht dem Vorgange des Altestenkollegiums, ist vielmehr aus der Erwägung hervorgegangen, daß der Natur der Sache nach die eigentliche Verwaltung von Genossenschaften, welche nur aus Arbeitgebern bestehen und zu deren Lasten Beiträge nur von diesen geleistet werden, auch nur Organen übertragen werden können, welche ausschließlich aus Vertretern von Arbeitgebern bestehen, und daß demnach für diejenigen einzelnen Funktionen, durch welche Recht und Interesse der Arbeiter unmittelbar berührt werde (Feststellung der Entschädigung und Erlaß von Sicherheitsvorschriften, welche für die Arbeiter verbindlich sein sollen), eine besondere Vertretung der Arbeiter zur Wahrnehmung dieses Interesses und Rechtes geschaffen werden müßte, an welcher die Arbeitgeber ebensowenig zu beteiligen seien, wie die Arbeiter an den Verwaltungsorganen der Genossenschaft beteiligt werden sollen.

Die erste Erörterung dieser Einrichtung findet sich in dem an S[ein]e Durchlaucht unterm 24. Oktober 18812 erstatteten Berichte bei der Erläuterung der demselben beigefügten Grundzüge für die Unfallversicherungsgenossenschaften auf S. 87 ff. mit folgenden Worten: [...] wird zitiert, hier abgedruckt unter Nr. 14, Abschnitt IV., S. 47 ff.

Bei dieser Erörterung handelt es sich noch um Genossenschaften, zu deren Lasten auch die Arbeiter ─ wenn auch nur in geringem Maße ─ Beiträge leisten sollten.

[ Druckseite 506 ]

Da der Gesetzentwurf von 1882 Genossenschaften ohne alle Beiträge der Arbeiter ins Auge faßte, so war um so mehr an der getrennten Organisation der Arbeitgeber- u. Arbeitervertretung festzuhalten, was auch ─ allerdings schon damals gegen das Votum des Volkswirtschaftsrats ─ in §§ 54 ff. [vgl. Nr. 57, S. 224] des Entwurfs geschah und auf S. 70 der Motive (Reichstagsdrucks. No. 19 II S. 1882) begründet wurde.

Gegen die Einwendungen, welche dieser Organisation entgegengestellt sind, kann allerdings auf die Erfahrungen, welche mit dem Ältestenkollegium der Marienhütte in Kotzenau3 gemacht sind, insofern mit Recht hingewiesen werden, als von dem Direktor der letzteren mit Bestimmtheit bezeugt wird, daß gerade die Zusammensetzung des Kollegiums ausschließlich aus Arbeitern besonders günstig gewirkt habe und weit entfernt für etwaige Agitationen ausgenutzt zu werden oder dem Geiste der Unbotmäßigkeit unter den Arbeitern Vorschub zu leisten, erheblich dazu beigetragen habe, den Geist der Disziplin, der Achtung vor dem Rechte und ein gesundes Ehrgefühl zu fördern und das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitern erfreulich zu gestalten. Namentlich wird in dieser Beziehung hervorgehoben, daß die Arbeiter Vorschriften, gegen welche sie früher entschieden Opposition gemacht haben würden, gern befolgten, seitdem dieselben von einem aus ihrer Mitte hervorgegangenen Organe ohne Beeinflussung von seiten des Arbeitgebers durchberaten werden.

Die ausführlichsten Mitteilungen über Wesen und Wirksamkeit des Ältestenkollegiums finden sich in dem unter A und B. anliegenden Schriftstücken, in denen die besonders bemerkenswerten Stellen angestrichen sind.

A. ist die Darlegung, welche auf der Hygieneausstellung ausgelegt war.4 Derselben liegt auch ein Exemplar des Statuts des Ältestenkollegiums an.

B. ist ein Auszug aus der Äußerung, welche der Direktor Schlittgen5 auf ein vom Handelsministerium veranlaßtes Ersuchen der Regierung in Liegnitz abgegeben hat.6

Ältestenkollegien von völlig gleicher Einrichtung, wie dasjenige der Marienhütte, sind soweit bekannt, noch nicht vorhanden.

Ein im Kreise Waldenburg errichtetes unterscheidet sich gerade dadurch von demjenigen der Marienhütte, daß seinen Verhandlungen auch ein Vertreter des Arbeitgebers beiwohnt.

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Ebenso bestehen der Kassenvorstand, welcher für die Fabrik von Franz Brandts7

in Münchengladbach die Funktionen eines Ältestenkollegiums wahrnimmt und der “Friedensverein” der Georg-Marienhütte bei Osnabrück8, welcher eine verwandte Stellung einnimmt, nicht ausschließlich aus Arbeitern. Auf diese Einrichtung wird daher für den vorliegenden Zweck nicht Bezug genommen werden können.

In den Jahresberichten des Gewerberats Frief9 für 1876, 1878, 1880, 1881, 1882 ist jedesmal der erfreulichen Wirksamkeit des Ältestenkollegiums rühmend gedacht. Sie enthalten aber keine Bemerkungen, welche nicht in dem anliegenden beiden Schriftstücken vollständiger enthalten wären.

Registerinformationen

Personen

  • Baare, Louis (1821─1897) Generaldirektor des Bochumer Vereins, Mitglied des preuß. Volkswirtschaftsrats
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Brandts, Franz (1834─1914) Textilunternehmer und Sozialreformer
  • Frief, Alfred (1836─1893) Fabrikinspektor
  • Schlittgen, Johann (1842─1908) Hüttendirektor
  • 1BArchP 15.01 Nr. 389, fol. 110─113. Diese Denkschrift Lohmanns wurde wohl von Bosse veranlaßt, da von seiten der Großindustriellen die Streichung dieser Einrichtung aus der dritten Unfallversicherungsgesetzesvorlage gefordert wurde. Auf Bosses Initiative läßt auch sein Vermerk für v. Boetticher schließen: Des Herrn Chefs Exzellenz mit dem Bemerken ehrerbietigst vorgelegt, daß das von den Herren Gamp und Bödiker zusammengestellte Material unmittelbar nachfolgen wird. 1.3.84. Darauf entstand dann die Ausarbeitung vom 3.3.1884 (vgl. Nr. 144). »
  • 2Vgl. Nr. 14. »
  • 3Das am 20.4.1875 begründete Ältestenkollegium war die erste Betriebsvertretung in der deutschen Schwerindustrie (vgl. Hans Jürgen Teuteberg, Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland, Tübingen 1961, S. 247 ff.). Das Eisenwerk Marienhütte, das Gußwaren und Eisenmaterialien produzierte, war das größte einzelne Werk Niederschlesiens, mit seinem Direktor Johann Schlittgen war Theodor Lohmann gut bekannt (vgl. Nr. 7 Anm. 4). ─ Vgl. zur Kritik an dem Ältestenkollegium die Ausführungen von Louis Baare auf der Generalversammlung des Zentralverbandes deutscher Industrieller vom 14.5.1884 (Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centralverbandes deutscher Industrieller, Nr. 28, Berlin 1884, S. 55 f.) mit Replik von Karl Gamp (ebd., S. 63 f.). »
  • 4Diese ist nicht überliefert. »
  • 5Johann Schlittgen (1842─1908), Direktor der Marienhütte in Kotzenau und als Generaldirektor Leiter der Mallmitzer Hüttenwerke; vgl. Anm. 3. »
  • 6Dabei handelt es sich um die Abschrift einer Stellungnahme vom 28.1.1880 (ebd., fol. 114─116 Rs.). »
  • 7Franz Brandts (1834─1914), Gladbacher Textilunternehmer, Gründer verschiedener sozialer Einrichtungen (“Sozialapostel”) und Vorsitzender des Verbandes “Arbeiterwohl”. »
  • 8Vgl. dazu die Ausführungen in: Die Einrichtungen für die Wohlfahrt der Arbeiter der größeren gewerblichen Anlagen im Preußischen Staate, Teil 1, Berlin 1876, S. 69 ff. »
  • 9Alfred Frief (1836─1893), seit 1874 Fabrikinspektor für Schlesien. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 143, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0143

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