II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 142

1884 Februar 16

Eingabe1 des Zentralverbandes deutscher Industrieller an den Bundesrat

Ausfertigung

[Kritik an zentralen Punkten der “Grundzüge”: reichsweiten Berufsgenossenschaften, entfallenem Reichszuschuß, fehlendem Arbeiterbeitrag, Arbeiterausschüssen und Abkehr vom Verschuldensprinzip]

Dem hohen Bundesrate beehren wir uns, anbei in Sachen, betreffend die Grundzüge für den Entwurf eines Gesetzes über die Unfallversicherung der Arbeiter, eine Abschrift derjenigen Resolutionen zu überreichen, welche der Ausschuß des Zentralverbandes Deutscher Industrieller in seiner Sitzung vom 11. Februar d.J. gefaßt hat.2

Der Zentralverband hat von Anfang an den Bestrebungen des hohen Bundesrats, welche darauf gerichtet waren, die soziale Lage der Arbeiter aufzubessern und dieselben gegen Gefahren und Unfälle sicherzustellen, welche die moderne Art des Betriebes mit sich gebracht hat, die opferwilligste Zustimmung entgegengetragen, und indem wir die großen Schwierigkeiten nicht verkennen, mit welchen die Regelung dieser hochwichtigen Angelegenheit verknüpft ist, erklären wir auch jetzt, daß wir bereit sind, zur Erreichung dieses wünschenswerten Zieles alle, nur einigermaßen erträglichen Lasten und Opfer auf uns zu nehmen.

Zunächst unterlassen wir nicht, unseren Dank dafür abzustatten, daß an der dreizehnwöchentlichen Krankenpflegezeit festgehalten, und daß die Unterstützung der durch Unfall Verletzten während dieser Zeit von der Unfallversicherung ausgeschieden und den Krankenkassen überwiesen werden soll.

Die Motive der Grundzüge heben mit Recht hervor, daß ein Bedürfnis zur Fürsorge für die Verletzten im Wege der Unfallversicherung während der angegebenen Zeit nicht vorhanden sei, nachdem durch das Krankenversicherungsgesetz die Verpflichtung der Krankenkassen zur Gewährung von Krankenunterstützung bis zum Ablauf der dreizehnten Woche für alle diejenigen Personen, auf welche sich die Unfallversicherung bezieht, allgemein festgesetzt worden ist. Bei den bisher vorhanden gewesenen Fabrikkrankenkassen ist überdies diese Praxis fast von Anfang an eingeführt worden, ohne daß sich irgendwelcher Übelstand oder Nachteil für die Krankenkassen daraus ergeben hätte, und ohne daß eine Klage darüber laut geworden wäre.

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Durch die Überweisung aller der leichteren Unfälle an die Krankenkassen wird überhaupt erst eine rationelle und korrekte Grundlage für die Unfallversicherung gewonnen, die Simulation wird zum größten Teile ausgeschlossen und eine zweckmäßige Verwaltung des Unfallwesens ermöglicht.

Man sieht in der Industrie in dieser Bestimmung einen kleinen Ersatz für alle die sonstigen schweren Lasten, welche die Unfallversicherung mit sich bringen wird, und legt den allergrößten Wert darauf, daß diese Vorschriften von den gesetzgebenden Faktoren angenommen werden möchten.

Wir wissen wohl, daß diese Bestimmung von liberaler Seite aus Unkenntnis der Verhältnisse voraussichtlich angefochten werden wird.

Einen hohen Bundesrat bitten wir aber, von derselben nicht abzugehen, mit dem ganzen Gewichte seines Ansehens im Reichstage dafür einzutreten und event[uell] das Zustandekommen des Gesetzes davon abhängig zu machen.

Wir sind auch damit durchaus einverstanden, daß die Kosten der Unfallversicherung mittels Umlage dergestalt aufgebracht werden sollen, daß immer nur der wirkliche Jahresbedarf zur Einziehung gelangt. Das System der Kapitalsdeckung würde der Industrie unentbehrliche Kapitalien entziehen und dadurch die Betriebsamkeit lähmen, und da man unter allen Umständen nur leistungsfähige Berufsgenossenschaften bilden wird, so liegt kein ausreichender Grund vor, diese Genossenschaften mit einer komplizierten Rechnungsführung und Kassenverwaltung zu belasten und der Industrie diejenigen Kapitalien zu entziehen, die zu einem zweckmäßigen Betriebe erforderlich sind.

Wir können aber nicht umhin, unser Bedauern darüber auszusprechen, daß nach den Grundzügen die Unfallversicherung auf die unter das Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 fallenden Betriebe beschränkt, und daß dadurch ein großer Prozentsatz von Arbeitern, denen die früheren Gesetzentwürfe eine gleiche staatliche Fürsorge zugedacht hatten, von den Wohltaten der letzteren ausgeschlossen werden soll.

Wenn auch in den Motiven der Grundzüge diese Ausschließung nur als eine vorläufige bezeichnet und die Ausdehnung auf weitere Arbeiterkreise ausdrücklich für wünschenswert erklärt wird, so glauben wir doch, aufgrund unserer Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse annehmen zu müssen, daß diese Ausdehnung innerhalb des Rahmens der Grundzüge und bei der in denselben vorgesehenen neuen Form für den Aufbau der Unfallversicherung ohne die allergrößten praktischen Schwierigkeiten sich nicht bewerkstelligen lassen wird. Es dürfte sich deshalb empfehlen, an der territorialen und geographischen Organisation der Unfallversicherung, wie sie der Zentralverband mehrfach und zuletzt in dem in seinem Auftrage verfaßten Gesetzentwurf3 erbeten hat, als Regel festzuhalten und nur ausnahmsweise für einzelne Industriezweige, die sich dazu vorwiegend eignen, die Bildung besonderer, über das ganze Deutsche Reich sich erstreckender Versicherungsgenossenschaften zu gestatten, wobei freilich vorausgesetzt wird, daß jede dieser Genossenschaften in eine ausreichende Zahl von Sektionen zerfallt, und daß die letzteren mit den weitgehendsten Verwaltungsbefugnissen ausgestattet werden.

Der in den Grundzügen ausgesprochenen Tendenz, der individualistischen und atomistischen Weltanschauung entgegenzuarbeiten und die Bildung korporativer

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Elemente zu begünstigen, können wir unseren Beifall nicht versagen, wir glauben aber, daß dies bei einer Organisation, welche einzelne industrielle Etablissements von Memel bis Colmar und von Viersen bis Kattowitz umfaßt, nicht zu erreichen sein wird. Im Gegenteil, es liegt die Befürchtung nahe, daß durch die Ausscheidung aller wirtschaftlichen Angelegenheiten, welche einen wesentlichen Inhalt des kommunalen Lebens bilden, die bestehenden korporativen Organisationen (Gemeinden, Kreise etc.) geschwächt und beeinträchtigt werden dürften4.

Vor allem aber haben wir nicht ohne die allerernsteste Besorgnis aus den Grundzügen ersehen, daß die Arbeiterausschüsse, auf deren Gefährlichkeit wir schon in unseren früheren Eingaben aufmerksam gemacht haben, aufs Neue beibehalten worden sind.

Wir können nicht genug vor einer Maßregel warnen, welche unzweifelhaft 5 von der rührigen Sozialdemokratie dazu benutzt werden wird, die Massen zu mobilisieren, sozialdemokratische Tendenzen über das ganze deutsche Reich zu verbreiten und einen Generalstab für eventuelle Aktionen zu gewinnen.

Selbst wenn die Genossenschaftsbildung als Regel vor sich gehen sollte, wie die Grundzüge es anordnen, würde die Zahl der Ausschüsse, da auch für jede Sektion ein besonderer Arbeiterausschuß ernannt werden soll, sich ziemlich hoch belaufen, und die Sozialdemokratie würde somit durch das ganze Reich die Zentralisationspunkte gewinnen, von denen aus sie, noch dazu mit obrigkeitlicher Erlaubnis, ihre Hebel an die Massen ansetzen könnte. In den neuen Grundzügen erscheinen diese Ausschüsse auch um deswillen noch bedenklicher, weil durch sie die Tendenz und ihre Machtbefugnisse erweitert worden sind.

Eine zweckmäßige Verwaltung des Unfallwesens ist aber nach der übereinstimmenden Ansicht aller derjenigen, welche die industriellen Verhältnisse kennen, nur dann zu gewinnen, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam berufen werden, in einem und demselben Organe die Verwaltung zu führen. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß dies auch der Wunsch der Arbeiterpartei ist. Der hohe Bundesrat würde wahrscheinlich von Hause aus diese Korporation der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in einem und demselben Organe vorgesehen haben, wenn hochderselbe sich dazu hätte entschließen können, die Arbeiter in einem angemessenen Prozentsatze zu den Unfallasten heranzuziehen. Die Überweisung der ersten 13 Wochen an die Krankenkassen ist kein ausreichendes Äquivalent, da die hierdurch entstehenden Kosten nur etwa 10 bis 11 % der gesamten Unfallkosten ausmachen.

Da die Arbeiter durch die Unfallversicherung nicht allein gegen haftpflichtige, sondern auch gegen nicht haftpflichtige Unfälle sichergestellt werden sollen, so würde es der Billigkeit entsprechen, wenn ihnen etwa 20 bis 25 % aller Unfallasten auferlegt würden; wäre dies aber der Fall, so würde nichts im Wege stehen, die Arbeiter auch an der Verwaltung der Unfallversicherung in Gemeinschaft mit den Unternehmern und in einem und demselben Organe zu beteiligen. Die Arbeiter sind erfahrungsgemäß sehr gute Verwalter bei allen denjenigen Institutionen, zu deren Erhaltung sie Beiträge leisten müssen, und diese Korporation der Arbeitgeber und Arbeitnehmer würde dazu beitragen, die gegenseitige Annäherung anzubahnen [ Druckseite 504 ] und friedlicheren Anschauungen Raum zu gewähren, während die Gegenüberstellung von Arbeitgebern und Arbeitern in gesonderten Körperschaften notwendigerweise den Keim schwerer Konflikte in sich tragen müßte.

Wir bitten daher. die Arbeiterausschüsse unter allen Umständen zu beseitigen und die Verwaltungsorgane der Genossenschaften durch Arbeitgeber und durch Arbeitnehmer gemeinsam zu besetzen.

Bei der Beratung des Gesetzes über die Krankenversicherung der Arbeiter haben wir auf die Gefahren hingewiesen, welche die Begünstigung der freien Kassen gegenüber den Betriebskrankenkassen zur Folge haben würde. Die meisten Agitationen, welche in den letzten Monaten zugunsten dieser freien Kassen von extremen Parteien ins Werk gesetzt wurden, haben unsere Vorhersage bestätigt und dazu beigetragen, eine neue Beunruhigung in den industriellen Kreisen hervorzurufen.

Die vom Herrn Reichskanzler angestrebten Arbeiterwohlfahrtsgesetze bezwecken, die Aussöhnung der Arbeiter mit den wirtschaftlichen Einrichtungn und den Frieden zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern herbeizuführen. Diese im hohem Grade löbliche Absicht wird aber nicht erreicht werden, wenn die Arbeiterausschüsse ins Leben treten sollten, und zu spät würde auch hier die Erfahrung lehren, daß unsere Auffassung, die sich auf die Praxis und das Leben stützt, eine richtige gewesen ist.

Mit Betrübnis haben wir ferner davon Kenntnis genommen, daß der bisher von der Reichsregierung festgehaltene Reichsbeitrag fallen gelassen werden soll, während derselbe doch nichts anderes darstellt als einen sehr mäßigen Ausgleich für die Armenverpflichtung, welche die Gemeinden und Kommunalverbände in Deutschland seit Jahrhunderten getragen haben. Der Zentralverband spricht daher die Bitte aus, daß in dem neu auszuarbeitenden Gesetzentwurfe 25 % dem Reiche als Beitrag zu den Unfallprämien auferlegt werden möchten.

Wir erachten es als eine der unerläßlichsten Bedingungen, daß Vorsätzlichkeit und grobes Verschulden des Arbeiters, durch welches nicht nur dieser selbst, sondern auch Leben und Gesundheit der Mitarbeiter sowie der ganze Betrieb und damit das Vermögen und die Existenz des Betriebsunternehmers gefährdet bzw. in Verlust gebracht werden können, bei Feststellung der Entschädigungen und Renten berücksichtigt werden müssen. Daher bitten wir, an der Bestimmung festzuhalten, daß, wenn der Unfall durch Vorsätzlichkeit oder durch ein grobes Verschulden des Verletzten herbeigeführt worden ist, die zur Feststellung der Entschädigung bzw. der Rente berufenen Organe berechtigt sein sollen, die dem Verletzten resp[ektive] dessen Angehörigen zu gewährende Entschädigung nach Lage des Falles herabzumindern oder gänzlich zu entziehen.

In Erwägung, daß der Zentralverband in den zu seinen Vereinen und Unterverbänden gehörigen Etablissements nahezu zwei Drittel aller unter die Grundzüge fallenden Arbeiter beschäftigt und ein industrielles Anlage- und Betriebskapital von Milliarden repräsentiert, geben wir uns der Hoffnung hin, daß der hohe Bundesrat unseren Anträgen Gehör schenken und nach Maßgabe derselben die Grundzüge umgestalten wird.6

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Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 15.01 Nr. 396, fol. 112─120 Rs. Die von George Ferdinand Beutner eigenhändig geschriebene Eingabe ist An den Hohen Bundesrat des Deutschen Reiches, z.H. Seiner Durchlaucht des Herrn Reichskanzlers Fürsten Bismarck adressiert; Geschäftsvermerke: Eingang 17.2. 25.2. Gamp, Bödiker, Bosse, Bödiker: Sofort! Zur nächsten Bundesratssitzung vorzulegen. Am 28.2.1884 wurde die Eingabe des Zentralverbandes dem IV. und VI. Ausschusse des Bundesrats zur Beratung übergeben. (ebd., S. 122) »
  • 2Ebd., fol. 121, dieses auch in der Presse veröffentlichte Sieben-Punkte-Monitum ist abgedruckt bei: Henry A. Bueck, Der Centralverband deutscher Industrieller 1876─1901, Bd. 2, Berlin 1905, S. 256─258, seinem Inhalt nach entspricht es weitgehend den nachstehenden Ausführungen. »
  • 3Vgl. Nr. 99 Anm. 7. »
  • 4Bismarck?: Unverständlich! »
  • 5Boetticher: nur zweifeln! »
  • 6Die Bundesratsausschüsse für Handel und Verkehr und für Justizwesen berieten bis zum 27.2.1884 den Gesetzentwurf und beantragten Änderungen, die aber die Abänderungsvorschläge des Zentralverbands deutscher Industrieller nicht berücksichtigten (BR-Drucks. Nr. 23 v. 27.2.1884); auf der 9. Sitzung des Bundesrates v. 1.3.1884 nahm dieser den Gesetzentwurf mit den Änderungvorschlägen der Subkommission und einigen weiteren an; die “Norddeutsche Allgemeine Zeitung” vom 18.2.1884 hatte bereits diese Resolutionen für nicht belangreich genug erklärt, um sich anders denn resümierend mit denselben zu beschäftigen, die Zeitschrift für Versicherungswesen schloß daraus auf eine in den Kreisen des Reichsamts des Innern herrschende Verstimmung. (Nr. 7 v. 18.2.1884, S. 79) »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 142, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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