II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 135

1884 Januar 10

Schreiben1 des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich von Boetticher an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Eigenhändige Ausfertigung

[Die Tageszeitungen ─ mit Ausnahme der linksliberalen ─ nehmen die Grundzüge wohlwollend auf, so daß der neue Entwurf Chancen hat, gebilligt zu werden]

Eurer Durchlaucht beehre ich mich hierneben die mir bisher zugegangenen Äußerungen der Presse über die Grundzüge des Unfallversicherungsgesetzentwurfes zur hochgeneigten Kenntnisnahme mit der Bitte um Rückgabe vorzulegen.2

[ Druckseite 478 ]

Die konservativen und Zentrumsorgane sind dem Organisationsplan günstig gestimmt, auch einzelne nationalliberale3 und fortschrittliche Äußerungen sind wenigstens nicht durchweg abfällig. Am heftigsten gebärden sich die sezessionistischen Organe, und zwar offenbar im Interesse für die Privatversicherungsgesellschaften. Mein allgemeiner, auch durch das Urteil ruhig abwägender Politiker bestätigter Eindruck geht dahin, daß der Plan nicht unerhebliche Chancen auf Billigung hat.4

Der Volkswirtschaftsrat ist zum 22. d. M. berufen. Ich werde morgen Eurer Durchlaucht motiviert vorzuschlagen mir erlauben, demselben noch eine andere Vorlage wegen Abänderung der Maß- und Gewichtsordnung zugehen zu lassen.

Registerinformationen

Personen

  • Biedermann, Prof. Dr. Karl (1812─1901) Universitätsprofessor, MdR (nationalliberal)
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Rantzau, Kuno Graf zu (1843─1917) Legationsrat im Auswärtigen Amt, Schwiegersohn Bismarcks
  • 1BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 284─284 Rs. »
  • 2Vgl. die von Tonio Bödiker angelegte Sammlung: BArchP 15.01 Nr. 415, fol. 30─54. Am 5.1.1884 hatte Boetticher Bismarck mitgeteilt, daß er eine Besprechung in der offiziösen Presse veranlaßt hatte: Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung wird denselben am Montagabend und am Dienstag früh wird in diesem Blatt sowie in einer Anzahl anderer Eurer Durchlaucht Politik freundlich gesinnter Blätter die erste Besprechung des Entwurfes erscheinen. (ebd., 07.01 Nr. 509, fol. 240─240 Rs.) »
  • 3Auch der “Vater des Haftpflichtgesetzes” Karl Biedermann schrieb recht positiv darüber in der Vierteljahresschrift für Volkswirtschaft, Politik und Kulturgeschichte: Über den neuesten Unfallversicherungsgesetzentwurf. (21. Jg. 1884, II., S. 22─40) »
  • 4Bismarck ließ durch seinen Schwiegersohn Kuno Graf Rantzau (dessen Diktatnotiz dazu: 07.01 Nr. 509, fol. 284/1 Rs.) hierauf am 11.1.1884 verlauten: Da die Konservativen und das Zentrum im Reichstage noch keine Majorität bilden, so möchte der Herr Reichskanzler noch keine zu sicheren Schlüsse für das Zustandekommen der Unfallversicherung machen. Immerhin würde aber die eventuelle Ablehnung des Gesetzes für die Neuwahlen günstig wirken, da die Fehler des Haftpflichtgesetzes jetzt ziemlich allgemein anerkannt wären. Der Zulassung der Privatversicherung, die ja als Mittel, die liberalen Stimmen zu gewinnen, vielleicht in Aussicht genommen werden könnte, würde der Herr Reichskanzler außerstande sein, eine Konzession zu machen; er glaubt vielmehr, daß mit dem Festhalten an dem Prinzip der Ausschließung der Privatversicherung das Gesetz stehen und fallen muß. (BArchP 15.01 Nr. 388, fol. 7─7 Rs.) »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 135, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0135

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