II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 131

1883 Dezember 6

Immediatbericht1 des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich von Boetticher an den Deutschen Kaiser Wilhelm I.

Ausfertigung

[Mitteilung des internen Diskussionsstandes für eine dritte Unfallversicherungsvorlage (“Grundzüge”) und Bitte um Ermächtigung zur Ausarbeitung eines neuen Gesetzentwurfes auf dieser Grundlage]

Über den am 8. Mai v. J. dem Reichstage vorgelegten Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, hat die verfassungsmäßige Beschlußfassung des Reichstages wegen der notwendig gewordenen Schließung des-

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selben nicht erfolgen können.2 Es bedarf deshalb, um Eurer Majestät wiederholt kundgegebenen Intentionen zu entsprechen und da die Dringlichkeit des Bedürfnisses einer gesetzlichen Regelung der Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle unverändert fortbesteht, der Vorlegung eines neuen Entwurfs an die gesetzgebenden Körperschaften des Reiches. Mit Rücksicht auf die bei der ersten Beratung des früheren Entwurfs im Reichstage und in der Kommission desselben geäußerten Wünsche, sowie auf die inzwischen gemachten Erfahrungen mußte erwogen werden, ob nicht eine Änderung des Entwurfs in einzelnen Punkten geboten sei.

Das Ergebnis dieser Erwägungen gestatte ich mir, Eurer kaiserlichen und königlichen Majestät in den nachstehenden Grundzügen ehrerbietigst vorzulegen:

1. Die Unfallversicherung soll sich zunächst nur auf diejenigen Betriebe und Anlagen erstrecken, welche unter § 2 des Haftpflichtgesetzes vom 7. Juni 1871 fallen. Damit wird der Kreis der von der Unfallversicherung berührten Personen gegenüber dem früheren Entwurfe insofern eingeschränkt, als diejenigen Arbeiter, welche auf Werften, bei der Ausführung von Bauarbeiten und in solchen nicht fabrikmäßigen Betrieben beschäftigt werden, in denen Dampfkessel oder durch elementare Kraft bewegte Triebwerke zur dauernden Verwendung kommen, für jetzt nicht von dem Versicherungszwange getroffen werden. Es beruht dies auf der Erwägung, daß der Ausgangspunkt der Gesetzgebung auf diesem Gebiete in der Notwendigkeit liegt, zunächst das Haftpflichtgesetz, soweit dasselbe eine nachteilige Rückwirkung auf das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geäußert hat, zu beseitigen und für die unter seiner Herrschaft stehenden Arbeiter fest bestimmte und rücksichtlich ihrer Geltendmachung gesicherte Ansprüche in Fällen der durch Unfall aufgehobenen oder verminderten Arbeitsfähigkeit zu gewähren. Zugleich aber wird auch eine Grundlage zu schaffen sein, auf welcher die Ausdehnung der beabsichtigten Wohltaten für andere derselben ebenso bedürftigen Arbeiterkreise unschwer herbeigeführt werden kann.

Die Einschränkung soll nur eine vorläufige sein, sie empfiehlt sich, um so bald als möglich zu einer Verständigung über die Organisation des Unfallversicherungswesens zu gelangen. Je größer der Kreis der zu versichernden Personen geplant wird, desto schwieriger gestaltet sich die Diskussion über die Modalitäten dieser Organisation. Sobald die neue Gestaltung erst für die dem Haftpflichtgesetz unterworfenen gewerblichen Betriebe mit den gesetzgebenden Faktoren vereinbart sein wird, steht nichts entgegen, durch ein besonderes Gesetz die Unfallversicherung auch auf andere Betriebszweige auszudehnen.

2. Die Träger der Unfallversicherung sollen ausschließlich Genossenschaften sein, zu welchen die dem Berufe nach gleichartigen Betriebe der Industrie vereinigt werden. Es fallen damit die in der früheren Vorlage vorgesehenen, lediglich nach geographischen Bezirken abgegrenzten Verbände fort, zu denen die verschiedenartigsten Industriezweige lediglich zum Zwecke der Unfallversicherung vereinigt werden sollten.

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3. Der in dem früheren Entwurf vorgesehene Zuschuß des Reichs zu den Kosten der Unfallversicherung soll vorläufig in Fortfall kommen, bis sich an der Hand der praktischen Erfahrungen ein sicheres Urteil darüber gewinnen läßt, ob und in welchem Umfange die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit der einheimischen Industrie durch die derselben aus der Unfallversicherung erwachsenden Lasten etwa gefährdet werden möchte.

Die den verunglückten Arbeitern in der Form von Renten zu gewährenden Entschädigungen sollen von den Mitgliedern der Berufsgenossenschaften unter sich im Wege jährlicher Umlagen aufgebracht, bis dahin aber von den Postverwaltungen vorgeschossen werden. Diese übernehmen durch diese Vorstreckung der Betriebsmittel eine wesentliche Förderung der den Genossenschaften gestellten Aufgabe.

4. Bei der Bildung der Berufsgenossenschaften soll dem freien Ermessen der Beteiligten soviel wie tunlich Rechnung getragen werden. Zu diesem Zweck wird ein besonderes Anmeldeverfahren vorgesehen. Nur insoweit als auf diesem Wege leistungsfähige Genossenschaften nicht zustande kommen, soll der Bundesrat die Zusammensetzung der letzteren anordnen können.

5. Entsprechend dem Prinzip der Selbstverwaltung sollen die Berufsgenossenschaften ihre innere Organisation und ihre Geschäftsordnung selbständig regeln, und soll die behördliche Anordnung auch in dieser Beziehung nur insoweit Platz greifen, als diese Regelung in einer den Aufgaben der Genossenschaften und den öffentlichen Interessen entsprechenden Weise nicht erfolgt.

6. Um die bei dem Mangel jeglicher Erfahrungen auf dem Gebiet der Unfallversicherung notwendige Beweglichkeit in der Abgrenzung der Berufsgenossenschaften zu sichern, soll die Abänderung des Bestandes derselben zunächst dem freien Ermessen der beteiligten Kreise vorbehaltlich der Genehmigung des Bundesrates überlassen bleiben.

7. Da die Unfallgefahr in den einzelnen Betriebsarten je nach der größeren oder geringeren Vollkommenheit der Einrichtungen eine verschiedene ist, so sollen im Interesse einer möglichst gerechten Verteilung der durch die Unfälle entstehenden Kosten entsprechende Gefahrenklassen innerhalb der Genossenschaften aufgrund statutarischer Bestimmungen gebildet und die Betriebe nach Maßgabe der vorhandenen Gefahr in diese Klassen eingeschätzt werden.

8. Das in dem früheren Entwurf den Betriebsgenossenschaften und den Betriebsverbänden eingeräumte Recht zur Beaufsichtigung der Betriebseinrichtungen ihrer Mitglieder sowie zum Erlaß von Bestimmungen zur Verhütung von Unfällen soll auch den jetzt vorgesehenen Berufsgenossenschaften zustehen. Gleichzeitig soll den Behörden die Verpflichtung auferlegt werden, die Berufsgenossenschaften vor Erlaß solcher Vorschriften zur Verhütung von Unfällen gutachtlich zu hören.

9. Die bereits in dem früheren Entwurfe vorgesehenen Arbeiterausschüsse sollen insofern eine Erweiterung ihrer Zuständigkeit erfahren, als ihnen außer der Mitwirkung beim Erlaß von Vorschriften zur Verhütung von Unfällen und bei der Wahl von Beisitzern für die Schiedsgerichte auch die Wahrnehmung der Interessen der Versicherten bei den Verhandlungen über die Feststellung der einzelnen Unfälle eingeräumt werden soll.

10. Zur Beaufsichtigung der Genossenschaften sowie zur Entscheidung von Streitigkeiten der Genossenschaften untereinander und der Beschwerden der Besitzer [ Druckseite 449 ] versicherungspflichtiger Betriebe über die Genossenschaftsorgane soll ein Reichsversicherungsamt eingesetzt werden, dessen Direktor und ständige Mitglieder zu ernennen Eurer kaiserlichen und königlichen Majestät vorbehalten bleiben soll. Neben den ständigen Mitgliedern sollen auch nichtständige Mitglieder fungieren, welche teils vom Bundesrat, teils von den Berufsgenossenschaften und den Arbeiterausschüssen gewählt werden sollen.

11. Entgegen dem früheren Entwurf soll im Interesse der Wahrung des Rechts der Beteiligten und der Einheitlichkeit der Rechtsprechung gegen die Entscheidungen der innerhalb der Berufsgenossenschaften zu bildenden Schiedsgerichte die Berufung an das Reichsversicherungsamt in allen denjenigen Fällen zulässig sein, in denen es sich um Renten für Verunglückte oder deren Hinterbliebene handelt. Bei den Entscheidungen des Reichsversicherungsamts sollen die nichtständigen Mitglieder desselben als Vertreter der Berufsgenossenschaften und der Arbeiterausschüsse mitwirken.

Eure Kaiserliche und Königliche Majestät gestatte ich mir im Einverständnis mit dem Reichskanzler alleruntertänigst zu bitten, Allerhöchstdieselben wollen durch huldreiche Vollziehung des im Entwurfe anliegenden Allerhöchsten Erlasses die Ermächtigung zur Ausarbeitung eines den vorstehenden Grundzügen entsprechenden Entwurfs eines Gesetzes3, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, zu erteilen geruhen.

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • 1GStA Dahlem (M) 2.2.1 Nr. 29949, fol. 125─133; Reinkonzept: BArchP 15.01 Nr. 386, fol. 151─157 Rs. Die erste Fassung des Entwurfs wurde von Gamp am 6.12.1883 erarbeitet und nach Kenntnisnahme von Bödiker, Bosse und Eck am gleichen Tag von v. Boetticher eigenhändig überarbeitet bzw. zur Endfassung redigiert, ebenfalls noch am 6.12. wurde die Reinschrift erstellt und Reichskanzler und Kaiser vorgelegt. Wilhelm I. ermächtigte am 10.12.1883 den Reichskanzler, einen Gesetzentwurf über die Unfallversicherung der Arbeiter auf der Grundlage der Grundzüge zu erarbeiten. »
  • 2Vgl. Nr. 94. »
  • 3Dieser war allerdings schon seit Anfang November 1883 in Arbeit (vgl. Nr 123 u. 124); als dann am 29.11.1883 auf der Friedrichsruher Konferenz die Vorarbeiten im Reichsamt des Innern von Bismarck gebilligt worden waren, war es an der Zeit, auch den Monarchen wieder in das Verfahren einzubeziehen, der diskretionäres Vorgehen seines Kanzlers bzw. seiner Minister bei Gesetzesvorlagen nicht schätzte (vgl. dazu: Werner Frauendienst, Das Preußische Staatsministerium 1808─1918, Organisation und Geschichte, unveröffentlichtes Manuskript, S. 55 ff., BA Koblenz, NL Frauendienst Nr. 4). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 131, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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