II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 117

1883 Oktober 22

Schreiben1 des Geheimen Regierungsrates Tonio Bödiker an den Legationsrat Kuno Graf zu Rantzau mit Denkschrift

Eigenhändige Ausfertigung

[Der Wert der Unfallstatistik wird für die Ausarbeitung des Gesetzentwurfs für die Unfallversicherung der Arbeiter begründet und versucht, das Interesse des Kanzlers auf die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchungen zu lenken]

Der Herr Staatsminister von Boetticher hat mir mitgeteilt, daß die dem Herrn Reichskanzler vorgelegten unfallstatistischen Karten2 wenigstens zum Teil hochdesselben Beifall nicht gefunden haben.

Seitens Seiner Durchlaucht3 mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes nach den neuerdings gegebenen Direktiven beauftragt, habe ich ein hervorragendes sachliches Interesse daran, daß die Unfallstatistik selbst von dem Herrn Reichskanzler nicht unterschätzt werden möge, denn bei den bevorstehenden Reichstagsverhandlungen wird auf dieselbe voraussichtlich des öfteren zurückgegriffen werden, und m. E. können wir uns auf sie mit aller Sicherheit beziehen.

Ew. Hochgeboren wäre ich daher zu großem Danke verpflichtet, wollten Hochdieselben bei passender Gelegenheit die angeschlossene Darstellung Seiner Durchlaucht unterbreiten.4 Ich zweifle nicht, daß dieselbe eine Reihe von Angaben enthält, [ Druckseite 388 ] welche des Herrn Reichskanzlers Interesse besitzen werden. Die beiden letzten Seiten enthalten gewissermaßen die Quintessenz der Unfallstatistik.

Für den Fall, daß Se. Durchlaucht danach fragen sollten, erlaube ich mir, bei dieser Gelegenheit anzuführen, daß ich vor ein paar Tagen des Auftrags wegen

Aufstellung eines neuen Gesetzentwurfs mich entledigte, und daß ich der Überzeugung lebe, durch die dem Herrn Minister von Boetticher gemachte Vorlage den Absichten des Herrn Reichskanzlers entsprochen zu haben. Die Frage der berufsgenossenschaftlichen Organisation ist mittels formulierter Gesetzesparagraphen gelöst, und die Art der Lösung näher motiviert.5

Wenngleich ich vor einigen Wochen, gegenüber der 1882er Gesetzesvorlage, noch auf einem anderen Standpunkt stand, so habe ich mich doch, angesichts der neuen Direktiven Sr. Durchlaucht, aus Überzeugung der berufsgenossenschaftlichen Organisation zugewandt, hoffend, daß die von großem Hintergrund sich abhebende Reform6 immer weitere Kreise ziehen und die sozialrevolutionären Elemente wenn nicht auffangen, so doch an der Eruption hindern werde.

Um der Größe der Aufgabe willen, aus Verehrung und Dankbarkeit gegen den Herrn Reichskanzler und aus tiefem Mitgefühl mit den Tausenden und Abertausenden, die der Unfall Jahr für Jahr ins Elend stürzt, bin ich entschlossen, all meine Kraft und Energie, alle Lust und Liebe an die Sache zu setzen, wenn ich mit deren Vertretung ferner befaßt werden sollte. Bei einer Vorberatung der Abteilung II des Reichsamts des Innern wurde beschlossen, daß meine Vorlage dem Herrn Minister7 als Lösung der gestellten Aufgabe unterbreitet werde.

Indem ich zum Schlusse durch Ew. Hochgeboren hiermit höflichst ergebetem gütige Vermittlung dem Herrn Reichskanzler für das hochgeneigte Schreiben vom 18. d. M.8 ehrerbietigst danke und den Ausdruck meiner herzlichsten Wünsche für [ Druckseite 389 ] Sr. Durchlaucht und seines ganzen Hauses Wohlergehen wiederhole, verbleibe ich Euer Hochgeboren ergebenster Bödiker.

[Denkschrift]

Über den Wert und die Bedeutung der im Jahr 18819 erhobenen Unfallstatistik

I.

Nach der Unfallstatistik, bzw. Berufsstatistik sind Arbeiter und Beamte beschäftigt

[Unfallstatistik] [Berufsstatistik]
im Bergbau, Salinen- u. Hüttenwesen

450 449

428 845

in der Maschinenindustrie

210 562

203 358

in der chemischen Industrie

42 164

48 066

in summa rund

700 000

gegen

680 000

Differenz noch nicht 3 % Arbeiter und Beamte mehr für die Unfallstatistik. Dabei sind beide Statistiken auf entgegengesetzte Grundlagen erhoben, die erstere durch Befragung der Arbeitgeber, die andere durch Befragung der Arbeiter.

Weitere Vergleiche sind vor der Hand ─ bis zur Aufstellung der Gewerbebetriebsstatistik aus der Berufsstatistik ─ nicht möglich, da in den übrigen Industriezweigen auch die rein handwerksmäßigen bei der Unfallstatistik nicht mitberücksichtigten Betriebe in den Tabellen der Berufsstatistik mit enthalten sind. Die Gewerbezählung vom 1. Dezember 1875 bezifferte das in der Gruppe des Bergbaus pp. beschäftigte Personal auf 433 206.

Was sodann die beobachteten Unfälle anlangt, so beträgt nach der Unfallstatistik beim Bergbau-, Salinen- und Hüttenwesen die Zahl der infolge Unfalls Verstorbenen aufs Jahr berechnet pro 10 000 Arbeiter 20,44, während auf den unter der Aufsicht der Bergbehörden stehenden Bergwerken und Aufbereitungsanstalten in Preußen

im Durchschnitt der Jahre 1861 bis 1866 21,67
" " " " 1867 " 1880 24,65

von je 10 000 Arbeitern mit tödlichem Ausgange verunglückt sind. Würden in der Unfallstatistik ebenfalls nur die Bergwerke und Aufbereitungsanstalten in Ansatz gebracht, so ergäbe sich für die tödlich Verunglückten die Zahl 25,35 auf 10 000, wogegen 25,97 auf die preußischen Werke im Jahre 1880 kommen: gewiß ebenfalls eine bemerkenswerte Übereinstimmung.

II.

Die Bedeutung der Unfallstatistik besteht ─ abgesehen davon, daß sie zur Abgrenzung der Gefahrenklassen diente ─ darin, daß auf ihr

die Berechnung der Gesamtunfallast,

die Ermittlung des Verhältnisses der Unfall- zur Krankenkassenlast,

die Berechnung der allmählichen Steigerung der Umlagen bis zum 75. Jahre der Wirksamkeit des Versicherungsgesetzes beruht.

[ Druckseite 390 ]

Außerdem ist die Arbeiteralterstabelle der Unfallstatistik neben den Alters-, Witwen- und Invaliditätstabellen der Berufsstatistik (1883er Juniheft der Reichsstatistik) für den Entwurf von Grundzügen für die Invaliden- und Altersversorgung von hoher Bedeutung. Rechnungsrat Behm, mit welchem der Unterzeichnete wegen der Anstellung von Berechnungen über die Höhe der Jahresbeiträge bei Zahlung gewisser Alters-, Invaliden- und Witwenrenten eingehend verhandelt hat, erklärte jene Alterstabelle, die das Alter von rund zwei Millionen Industriearbeitern jahrgangsweise ergibt, für einen Hauptausgangspunkt der von ihm anzustellenden Berechnungen.

III.

Aus dem unter II. Angeführten erhellt, daß ein hohes sachliches Interesse daran besteht, den Wert der Unfallstatistik in den Augen des Herrn Reichskanzlers nicht geschmälert zu sehen. [...] Es folgt eine Auseinandersetzung mit der Detailkritik Bismarcks, der u. a. “handgreifliche” Unrichtigkeiten beanstandet hatte.

Zum Schlusse mögen noch die folgenden wertvollen Resultate der Unfallstatistik hier mitgeteilt werden:

a. Es belastet die Berufsgenossenschaft, a in Durchschnittsverdienstprozenten berechnet

1. der tödliche Unfall mit

271,35 %

2. der zur Invalidität führende Unfall mit

787,59 %

3. der Fall vorübergehender Erwerbsunfähigkeit von mehr als 13 Wochen mit

0,84 %a

so daß, wenn der Lohn des Getöteten 1000 M betrug, der Wert der Last 2713,5 und bei einem Invaliden 7875,9 M beträgt

b. aWird der Wert der Invalidenrenten gleich 1000 gesetzt, so ergeben sich folgende Wertverhältniszahlen:

Invalidenrenten

1000

Witwenrenten

225

Waisenrenten

97

Sterbegelder

12

Renten für Aszendenten

10

Krankengelder (über 13 Wochen)

1

Hieran ist auch unmittelbar zu ermessen, in welchem Verhältnisse eine Erhöhung oder Ermäßigung der im Gesetzentwurfe vorgesehenen einzelnen Entschädigungen wirken würde.

c. Die gesamte durch Unfälle entstehende Last (2 749 295 [Das sind die von Bödiker berechneten Kosten der 13wöchigen Heilbehandlung] + 13 796 872 M) = 16 546 167 M würde demnach mit rund 16 1/2 Prozent auf die Krankenkassen und mit 11 Prozent auf die zu diesen zwei Drittel der Beiträge leistenden Arbeiter entfallen, wobei zu beachten bleibt, daß die Arbeitgeber zu den gesamten Krankenunterstützungen und nicht etwa nur zu den durch Unfälle veranlaßten ein Drittel beitragen.

Aber auch selbst abgesehen hiervon machen diese Zahlen es ganz klar, daß die durch Unfall hervorgerufene vorübergehende Erwerbsunfähigkeit bis zu 13 Wochen, mögen die Fälle noch so zahlreich sein, kaum in das Gewicht fällt gegenüber den Todes- [ Druckseite 391 ] und Invaliditätsfällen. Jene erheischen 2 3/4, diese 13 4/5 Millionen Mark. Man sieht, wie sehr bisher die ersteren Fälle hinsichtlich ihrer finanziellen Bedeutung überschätzt sind. Wenn die vorliegende Statistik kein weiteres Verdienst hätte, als über diese bis dahin vollkommen dunklen Verhältnisse Licht verbreitet zu haben, so wäre die auf ihre Erhebung verwandte Mühe und Arbeit vollständig belohnt. Hier kommt das Gesetz der großen Zahlen zur vollen Geltung. Eine wesentliche Änderung jener Verhältniszahlen steht infolge späterer Beobachtungen wohl kaum zu erwarten.a

Registerinformationen

Personen

  • Behm, Gustav (1821─1906) Geheimer Sekretär und Kalkulator im preuß. Handelsministerium
  • Feilitzsch, Max Freiherr von (1834─1913) bayer. Innenminister
  • Herrmann, Joseph (1836─1914) Ministerialrat im bayer. Innenministerium, stellvertretender Bundesratsbevollmächtigter
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 07.01 Nr. 528, fol. 148─153 Rs., Abschrift (Auszug): ebd. 07.01 Nr. 509, fol. 210─211. Die durch a-a gekennzeichneten Kernpassagen hat Bödiker aus seinem gedruckten Aufsatz “Die Unfall-Statistik des Deutschen Reichs nach der Aufnahme vom Jahre 1881”, Monatsheft zur Statistik des Deutschen Reichs, Jg. 1882, Ergänzungsheft, S. 1 ff., ausgeschnitten und auf die Denkschrift aufgeklebt. »
  • 2Nicht überliefert, vgl. zu Bismarcks Kritik an Bödikers fachlichen Arbeiten auch Nr. 113. »
  • 3Vgl. Nr. 114, Bödiker dürfte nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub (wohl am 8.10.) über den Auftrag unterrichtet worden sein, inwieweit dieser überhaupt (zumindest mittelbar) auf Bismarck zurückgeht, ist strittig (vgl. Nr. 113 u. 114 Anm. 10, aber auch das Zitat aus der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung Nr. 127). »
  • 4Auch mit diesem Schreiben und Denkschrift hielt Bödiker offensichtlich nicht den Dienstweg ein, am 14.12.1883 notierte Bosse in seinem Tagebuch: Bödiker hat hinter Boettichers und meinem Rücken wiederholt über amtliche Vorkommnisse mit den “Getreuen” in Friedrichsruh (Rottenburg, G[ra]f Wil[helm] Bismarck, G[ra]f Rantzau) korrespondiert. Er ist von einem ungemessenen Ehrgeiz besessen, wiewohl ich ihn zum förmlichen Denunzieren für zu anständig halte. Doch warnte mich Magdeburg mit Bezug auf einen bestimmten Fall, in dem Bödiker Äußerungen von mir an Rottenburg überbracht hatte, ich möchte ja vorsichtig sein. Welche unerquicklichen Zustände! In Boettichers Auftrage habe ich Bödiker dienstlich ersucht, die Korrespondenz auf eigene Hand mit Friedrichsruh zu unterlassen. Soweit sind wir schon. Das kommt davon, daß Fürst Bismarck ausschließlich von seinen jungen Leuten umgeben ist. (GStA Dahlem Rep. 92 NL Bosse Nr. 7, fol. 38─38 Rs.) »
  • 5Dieser Erstfassung der “Grundzüge” ging dann wohl in die Grundzüge B ein (vgl. Nr. 125 Anm. 54). Der bayerische Bundesratsbevollmächtigte Joseph Herrmann berichtete dazu am 28.10.1883 an den bayerischen Minister des Innern Max Freiherr von Feilitzsch: Dem neuen Entwurfe Bödikers liegen Berufsgenossenschaften zugrunde, die sich über das ganze Reich erstrecken und welchen beizutreten Zwangspflicht ist; z. B. alle Müller im deutschen Reiche bilden eine Berufsgenossenschaft. Der Plan ist fast abenteuerlich, und ich möchte glauben, daß er dem Herrn Reichskanzler zumeist wegen der darin liegenden unitarischen Tendenz am Herzen liegt, daß er aber gerade darum bei der ausschlaggebenden Stellung des Zentrums keine Aussicht hat, im Reichstage durchgebracht zu werden. (BayHStA MA 77380, n.fol.) »
  • 6Anspielung auf die von Bismarck entwickelten Gesichtspunkte einer politischen Verwendung der Berufsgenossenschaften. »
  • 7Karl Heinrich von Boetticher. »
  • 8Dieses Schreiben konnte nicht ermittelt werden. »
  • 9Vgl. Nr. 57 Anm. 10. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 117, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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