II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 111

1883 September 27

Erstfassung1 der Direktiven des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck2 für eine dritte Unfallversicherungsvorlage

Reinschrift

[Geltungsbereich von Unfallversicherungsgesetz und Haftpflichtgesetz müssen (zunächst) gleich sein, Umlageverfahren, reichsweite Berufsgenossenschaften (Körperschaften von Berufsklassen) mit regionalen Sektionen als Versicherungsträger, Versicherungszwang, Unfallverhütung, Reichszuschuß bzw. Reichsgarantie]

Für den dem Reichstage vorzulegenden Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes sind die nachstehenden Gesichtspunkte festzuhalten:

1. Beseitigung des Haftpflichtgesetzes und seiner nachteiligen Rückwirkung auf die Beziehungen zwischen den Arbeitern und den Arbeitgebern. Dieser Zweck ist der nächstliegende und ursprüngliche Anlaß für das Einschreiten der Gesetzgebung auf diesem Gebiete. Der Entwurf hat sich daher die Deckung aller aus dem Haftpflichtgesetz abzuleitenden Verpflichtungen in erster Linie zur Aufgabe zu stellen [ Druckseite 373 ] und ist zunächst auf die von der Haftpflicht betroffenen Betriebe einzuschränken. Erst wenn diesem Zwecke durch den Entwurf vollständig entsprochen ist, wird an die Aufgabe heranzutreten sein, die Vorteile, welche das Gesetz gewähren soll, auch anderen von der Haftpflicht nicht betroffenen Betrieben zugänglich zu machen.

2. Die Kosten der Unfälle eines jeden Jahres sind am Ende desselben durch Umlagen auf die nach dem Gesetz zur Tragung Verpflichteten auszuschreiben, während im Laufe des Jahres die vorschußweise Befriedigung der Beschädigten aus Staatsmitteln geleistet wird, so daß der Staat resp. das Reich den einjährigen Bedarf aller Versicherten als Betriebskapital auslegt und sich durch Umlage am Schlusse des Jahres bezahlt macht.

Ob weitere Staatshilfe erforderlich werden wird, ist eine Frage, die sich erst aufgrund einer mindestens zehnjährigen und längeren Erfahrung wird entscheiden lassen.

3. Die Beitragspflicht ruht auf den Berufsgenossenschaften; jeder von dem Haftpflichtgesetz betroffene Betrieb ist einer solchen anzuschließen.

Betriebe, deren Genossen zahlreich und leistungsfähig genug sind, um in sich selbst eine dem Zweck entsprechende Korporation bilden zu können, werden ausschließlich aus Genossen des gleichartigen Betriebes gebildet und haften, wenn es sein kann, im ganzen Reiche evtl. im ganzen Staate für die unter ihren Berufsgenossen vorkommenden Unfälle solidarisch. Die Gesamtkorporation ist nach Maßgabe der geographischen Verteilung des Betriebes in Sektionen zu teilen, welche den Sitz ihrer Verwaltung nach Möglichkeit in den Zentren der beteiligten Industrien haben: geringere Unfälle sind von den Sektionen innerhalb ihres geographischen Bezirks selbständig zu erledigen, schwerere unterliegen der Revision durch die Zentralleitung der gesamten Berufsklasse.3

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Solche Betriebe, an denen die Beteiligung nicht zahlreich oder nicht leistungsfähig genug ist, um der Versicherung als Unterlage zu dienen, sind mit anderen derselben Gefahrenklasse angehörigen von möglichst verwandter und gleichartiger Natur zu einer Korporation zusammenzuschließen. Dieser Zusammenschluß erfolgt da, wo er nicht freiwillig in einer die Aufsicht führende Staatsbehörde befriedigenden Gestaltung zustande kommt, nach Anordnung der Aufsicht führenden Staatsbehörde.

4. Jeder vom Haftpflichtgesetz betroffene Betrieb muß in einer der genossenschaftlichen Korporationen versichert sein und wird, wenn der Beteiligte in einer präklusivischen Frist keine der Aufsichtsbehörde annehmbare Wahl trifft, von ihr der entsprechenden Genossenschaft mit der Wirkung zugeschrieben, daß die auf ihn zur Repartition gelangenden Beiträge gleich den Kommunallasten exekutivisch beigetrieben werden können.

5. Den Genossenschaften steht die Beaufsichtigung eines jeden ihnen angehörigen Betriebes behufs Verhütung von Unfällen zu, so daß die Bestimmungen über die zu diesem Zweck erforderlichen Vorkehrungen von derselben Korporation auszugehen haben, welchen die Deckung der vorkommenden Unfälle obliegt.

6. Die Genossenschaften verwalten ihr Versicherungswesen selbständig durch gewählte Organe unter Aufsicht des Staats resp. des Reichs und verpflichten sich zum Zweck der schleunigen Feststellung der Unfälle einander zu unterstützen, so daß da, wo eine Berufsgenossenschaft einzelnen geographisch entlegenen Betrieben gegenüber die Organe zur Wahrnehmung ihrer Interessen nicht rechtzeitig zur Stelle zu bringen vermag, die Vertreter jeder anderen, womöglich der nächstverwandten, Berufsgenossenschaft der Requisition der beschädigten Genossenschaft zu entsprechen hat. Wo dies nicht tunlich ist, ist die Genossenschaft durch die geeigneten Organe der Staatsbehörde in der betreffenden Lokalität nach Bedarf zu vertreten.

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Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Herbert Graf von (1849─1904) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Bismarck, Wilhelm Graf von (1852─1901) Regierungsrat in der Reichskanzlei
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Miquel, Johannes (1828─1901) Oberbürgermeister von Frankfurt
  • Moeller, Dr. Ernst von (1834─1886) Unterstaatssekretär im preuß. Handelsministerium
  • Rantzau, Kuno Graf zu (1843─1917) Legationsrat im Auswärtigen Amt, Schwiegersohn Bismarcks
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • 1BArchP 15.01 Nr. 385, fol. 228─235 und Nr. 386, fol. 125─130 Rs. (mit Kanzleivermerk: Direktive des Reichskanzlers), wurde Anlage “C” des Berichts v. 20.11.1883 (vgl. Nr. 125) und damit Grundlage der erweiterten Zweitfassung (vgl. Nr. 126): ebd. 07.01 Nr. 509, fol. 204─209 mit dem wohl auf diese Erstfassung bezogenen Kanzleivermerk: Von Sr. Durchl(aucht) diktiert 27.9.1883. (Original-Diktat in Friedrichsruh). »
  • 2Bismarck war an diesem Tag aus Gastein bzw. München zurückgekehrt. Die “Kölnische Volkszeitung” berichtete über seine Ankunft: Fürst Bismarck ist heute um die achte Morgenstunde wieder hier eingetroffen. Die Polizei hatte den Anhalter Bahnhof, auf welchem seine Ankunft erfolgte, unter scharfe Obhut genommen. Zahlreiche Organe derselben vom höhern und niedern Range hielten die Zudringlichen von allzu großer Annäherung an den Reichskanzler und seine Begleitung ab. Diese Aufgabe war freilich keine besonders schwierige, weil die Neugierigen nur in sehr geringer Zahl sich eingefunden hatten. Wohl um einer Belästigung durch das Publikum vorzubeugen, war die Ankunft des leitenden Staatsmannes bis zum letzten Augenblick geheimgehalten, und die Nachricht verbreitet worden, daß derselbe von München aus auf direktem Wege über Hannover nach Friedrichsruh sich begeben werde. Empfangen wurde der Reichskanzler außer vom Bahnhofsinspektor nur von einigen Bediensteten des auswärtigen Amtes. So weit man beobachten konnte, hat das Aussehen des Fürsten Bismarck sich wesentlich verändert. Die frühere Wohlbeleibtheit ist merklich geschwunden, damit aber auch die Schwerfälligkeit der Bewegung und die kranke Gesichtsfarbe. Gestützt auf einen derben Spazierstock entstieg der Reichskanzler, bekleidet mit einem dunkelfarbigen Sommerüberzieher und den Kopf mit dem Schlapphute bedeckt, leichten Schrittes seinem Salonwagen. Näherstehende wollen auf dem Antlitze des Reichskanzlers sogar einen Anflug von gesunder Röte wahrgenommen und an ihm eine heitere Stimmung entdeckt haben. Dagegen befand sich seine Gemahlin in einem augenscheinlich recht leidenden Zustande. Dem Kanzler und seiner Gemahlin, welche einen geschlossenen Wagen bestiegen, wurden von der Dienerschaft neben zahlreichen Blumensträußen mehrere stark gefüllte Dienstmappen nachgetragen, welche als Beweisstücke dafür angesehen werden können, daß der leitende Staatsmann während seines Badelebens trotz der entgegenstehenden halbamtlichen Erklärungen (vgl. Nr. 99) recht lebhaft mit den Angelegenheiten seines Amtes sich beschäftigt hat. In einem zweiten Wagen folgten dem fürstlichen Paare der ältere Sohn des Reichskanzlers, Legationsrat Graf Herbert Bismarck, und der Chef der Reichskanzlei, Geh. Rat Dr. Rottenburg. Wie die Kreuzzeitung wissen will, läge es in der Absicht des Fürsten Bismarck, bereits morgen nach Friedrichsruh weiterzureisen. Vor wenigen Tagen hatte dasselbe Blatt bekanntlich gemeldet, daß der Reichskanzler wahrscheinlich auf einige Zeit nach Berlin kommen werde, um sich mit den Ministern über den nächsten parlamentarischen Feldzugsplan zu beraten. Welche von diesen Lesarten die richtige ist, bleibt anzuwarten. (Nr. 266 v. 28.9.1883) Tags darauf wurde gemeldet: Fürst Bismarck hat am Montag Gastein verlassen und ist nach einigem Aufenthalt in Salzburg und München in Berlin eingetroffen. Wie es heißt, ist ihm der Aufenthalt im Gebirge sehr gut bekommen. Die Einladung, welche der Oberbürgermeister von Frankfurt, Miquel, im Namen der Stadt zur Teilnahme an dem gelegentlich der Einweihung des Nationaldenkmals stattfindenden Kaiser-Diner an ihn gelangen ließ, hat er abgelehnt. Er spricht in der Antwort sein Bedauern aus, daß sein Gesundheitszustand und ärztliche Verordnungen ihm die Teilnahme an dem Fest unmöglich mache. Die jüngst aufgetauchte Kunde, Fürst Bismarck habe seine sozialpolitischen Pläne aufgegeben, wird von nahestehender Seite als falsch bezeichnet; wir haben keinen Augenblick der Nachricht Glauben geschenkt. Der Reichskanzler wirft nicht so schnell die Flinte ins Korn. Sind es doch noch nicht zwei Jahre her, daß er seinen sozialpolitischen Plänen die Sanktion des Kaisers verschafft hat, und wenn er auch bisher nur sehr geringe Erfolge aufweisen kann, der Kulturkampf allein schon zeigt, wie fest er an seinen Plänen hält. (Nr. 267 v. 29.9. 1883) Tatsächlich galt der Berliner “Abstecher” Bismarcks wohl hauptsächlich dem Start der dritten Unfallversicherungsvorlage: Hierüber konferierte er nacheinander mit Lohmann, v. Boetticher und v. Moeller und diktierte die hier abgedruckten grundlegenden Direktiven! »
  • 3B. hat mit der Sektionsbildung den Gedanken von Bezirksgenossenschaften bzw. -verbänden in Anlehnung an Verwaltungseinheiten positiv “aufgehoben”. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 111, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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