II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 101

1883 Juli [23]

Ausarbeitung1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann

Entwurf2

[Ablehnung zentraler Zwangsgenossenschaften als Versicherungsträger und abgestufter Risikoverteilung, Modifikation von Nr. 99]

Ew. Durchlaucht beehre ich mich ein Exemplar des von der Reichstagskommission für den Unfallversicherungs-Gesetzentwurf erstellten mündlichen Berichts gef. vorzulegen, in welchem bei den einzelnen Nummern der beantragten Resolution das Stimmverhältnis, mit welchem dieselben angenommen wurden, angegeben ist.3

Für die Frage, ob und wie weit eine Umarbeitung des Entwurfs vorzunehmen sei, handelt es sich, abgesehen von der den Reichszuschuß betreffenden No. 3, hauptsächlich um die unter No. 6 aufgestellten Organisationsvorschläge.

Dieselben werden indessen, da nach Bestimmung Ew. Durchlaucht

1. an der Gewährung eines Reichszuschusses,

2. an den auf direktem Zwange beruhenden Genossenschaften der Unternehmer desselben Industriezweiges (Gefahrenklasse), [ Druckseite 346 ] 3. an dem Umlageverfahren im Sinne des bisherigen Entwurfs

festzuhalten ist, im wesentlichen keine Berücksichtigung finden können.

Der bisherige Entwurf geht davon aus, daß die Unfallversicherung der Regel nach durch Zwangsgenossenschaften der demselben Industriezweige angehörenden Unternehmer bewirkt werden soll. Da aber diese Zwangsgenossenschaften, welche, um eine genossenschaftliche Verwaltung zu ermöglichen, für räumlich begrenzte Bezirke gebildet werden müssen, in dieser Begrenzung meistens nicht kräftig genug sein würden, um das volle Risiko tragen zu können, so soll das letztere in der Weise geteilt werden, daß von den einzelnen Genossenschaften nur der kleinere Teil desselben, der größere dagegen von der Gesamtheit aller Unternehmer einer Gefahrenklasse im ganzen Reiche getragen wird.

Eine Abweichung von der Regel der Zwangsgenossenschaft wurde deshalb notwendig, weil voraussichtlich die einzelnen Industriezweige in den räumlichen Bezirken oft nicht stark genug vertreten sind, um Genossenschaften bilden zu können, welche auch nur jenen kleineren Teil des Risikos zu tragen vermögen. Der in Genossenschaften nicht unterzubringende Teil der Betriebe eines Bezirks soll daher zu einem Betriebsverbande vereinigt werden, welcher für sich dieselbe Quote des Risikos tragen soll, welche den Genossenschaften auferlegt ist, während der Rest des Risikos, auch für die dem Betriebsverbande angehörenden Betriebe, der Gesamtheit der verschiedenen in dem Verbande vertretenen Gefahrenklassen zufallen sollte. Die Gesamtheit der einer Gefahrenklasse angehörenden Unternehmer, welche den größeren Teil des Risikos zu tragen hat, setzt sich also zusammen aus den für die verschiedenen Industriezweige dieser Gefahrenklasse gebildeten Betriebsgenossenschaften und aus den Betriebsverbänden angehörenden einzelnen Unternehmern dieser Industriezweige. Aus dieser doppelgliedrigen Organisation ergab sich die Notwendigkeit einer gemeinsamen Rechnungsstelle und eines einheitlichen Systems von Zahlungsstellen für die Entschädigungen. Als erstere ist ein Entwurf der Reichszentralstelle gedacht, die Funktion des letzteren sollten die Postverwaltungen übernehmen. Hierdurch werde zugleich eine einfache Abführung des Reichszuschusses ermöglicht, welche anderenfalls ein kompliziertes Abrechnungsverfahren mit Hunderten von Genossenschaften und Verbänden notwendig gemacht haben würde.

Gegen diese ganze Organisation sind von denjenigen Mitgliedern der Kommission, welche dem Genossenschaftsprinzip zustimmten, abgesehen von dem Reichszuschuß, hauptsächlich folgende Bedenken geltend gemacht:

1. Die ganze Organisation ergebe einen zu komplizierten und im Verhältnis zu seiner Aufgabe zu schwerfälligen Apparat.

2. Die Beschränkung der einzelnen Genossenschaften auf Betriebe derselben Gefahrenklasse und desselben Industriezweiges erschweren die Bildung von lebensfähigen Genossenschaften; und die Verteilung der Last lediglich nach Gefahrenklassen schließe die Berücksichtigung der zwischen den verschiedenen Betrieben derselben Gefahrenklasse bestehenden großen Unterschied der Unfallsgefahr aus und wirke dadurch ungerecht.

3. Die Belastung der Gesamtheit der einer Gefahrenklasse angehörenden Unternehmer mit dem größten Teile des Risikos verstoße gegen das Genossenschaftsprinzip, weil die Gefahrenklasse als solche keine genossenschaftliche Organisation [ Druckseite 347 ] habe und auch bei ihrer Zusammenstellung aus Industriezweigen der heterogensten Art nicht haben könne. Auch werde dadurch die Selbstverwaltung der Genossenschaften auf ein Minimum reduziert.

Zu 1 ist zu bemerken, daß es schwerlich jemals gelingen würde, die Aufgabe einer Organisation der Unfallversicherung auf der Grundlage der Zwangsgenossenschaften durch einen einfachen Apparat zu lösen, wenn den unerläßlichen Anforderungen genügt werden soll, welche durch die große Zahl, Mannigfaltigkeit und örtliche Verteilung der Industriezweige einerseits und durch die Notwendigkeit der unbedingten Sicherung der Entschädigungsansprüche andererseits an eine solche Organisation gestellt werden.

Zu 2 ist bei der Aufstellung des Entwurfs davon ausgegangen, daß ein unbedingter Zwang zur Bildung einer Genossenschaft nur für Betriebe mit wesentlich gleichartigen Verhältnissen, also für solche desselben Industriezweigs gerechtfertigt sei, daß die Vereinigung der Betriebe mehrerer Industriezweige der gleichen Gefahrenklasse unter der Voraussetzung zulässig erscheine, daß durch Beantragung derselben seitens Mehrheit der Unternehmer beider Industriezweige eine Garantie für ihre Zweckmäßigkeit gegeben sei. Dagegen hielt man einen Zwang gegen die Minoritäten nicht mehr für zulässig, sobald es sich um Industriezweige verschiedener Gefahrenklassen handelt, weil damit die gleiche Verteilung der Lasten der Genossenschaften nach dem einfachen Maßstabe der verdienten Löhne, welche von Anfang an als das für die Genossenschaftsbildung maßgebende Moment angesehen worden ist, beseitigt werden würde. Völlig unvereinbar mit dem Prinzip der Zwangsgenossenschaften würde es aber sein, wenn man den einzelnen Genossenschaften die Befugnis geben wollte, die Verteilung der Lasten unter Berücksichtigung der individuellen Unfallsgefahr der einzelnen Betriebe zu regeln, da diese Regelung nur durch Majoritätsbeschlüsse erfolgen könnte und auf diese Weise die

Minorität der Gefahr der Überlastung durch die Beschlüsse der Majorität ausgesetzt werden würde. Bei Zwangsgenossenschaften wird man in dieser Beziehung nie weiter gehen können, als wie es in dem Entwurf dadurch geschehen ist, daß man den Genossenschaften das Recht gegeben hat, für die ihnen angehörenden Betriebe gewisse Verminderung der Unfallsgefahr abzielende Vorschriften zu erlassen und deren Nichtbefolgung mit Geldstrafen zu belegen.

Zu 3 läßt sich nicht verkennen, daß der Stellung, welche die Gesamtheit der einer Gefahrenklasse angehörenden Unternehmer nach dem Entwurf einnehmen, dem Genossenschaftsprinzip wenig entspricht. Während diese Gesamtheit den größten Teil der Last zu tragen hat, ist ihr, weil sie kein genossenschaftliches Organ hat, irgendein Einfluß auf die Verwaltung nicht eingeräumt, namentlich kann sie keinerlei Einwirkung dahin ausüben, daß in allen ihr angehörenden Betrieben die zur Verminderung der Unfallsgefahr erforderlichen Einrichtungen vorgeschrieben und wirklich hergestellt werden, und ebensowenig steht ihr eine Mitwirkung bei Feststellung der Entschädigungen zu, welche sie zum größten Teile zu zahlen hat. In beiden Beziehungen muß sie sich auf die pflichtmäßige Tätigkeit der nur den kleineren Teil des Risikos tragenden Genossenschaften und Verbände verlassen, denen die einzelnen ihr angehörenden Unternehmer als Mitglieder zugewiesen sind. Ihr zum Zwecke der Mitwirkung bei der Verwaltung eine Organisation zu geben, dürfte kaum möglich sein, da die Betriebsunternehmer, für welche zu dem Ende [ Druckseite 348 ] eine Vertretung geschaffen werden müßte, nicht etwa sämtlich einer Reihe von Genossenschaften angehören, aus welchen durch Delegation eine Gesamtvertretung der Gefahrenklasse hervorgehen könnte, sondern zum großen Teil Mitglieder der Betriebsverbände sind, welche aus Unternehmern der verschiedensten Gefahrenklassen zusammengesetzt sind.

Daß die Verwaltung der Unfallversicherung desto sorgfältiger und sparsamer sein wird, je größer das Interesse der verwaltenden Korporation an den Ergebnissen ist, und daß es desfalls wünschenswert wäre, auch den größeren Teil des Risikos einem organisierten, an der Verwaltung teilnehmenden Verbande auferlegen zu können, dürfte anzuerkennen sein. Ob aber eine Abänderung des Entwurfs in dieser Richtung möglich ist, wird einer sehr sorgfältigen Erwägung bedürfen. Denkbar wäre sie vielleicht infolgender Weise:

1. Die Einteilung sämtlicher Betriebe in Gefahrenklassen wird beibehalten.

2. Ebenso bleiben als untere Klasse der Organisation die Betriebsgenossenschaften und Betriebsverbände als Träger eines Teils der Unfallgefahr.

3. Als Träger des größeren Teiles des Risikos treten an die Stelle der Gefahrenklassen größere Vereinigungen

a) von Betriebsgenossenschaften

b) von Betriebsverbänden.

4. Die Zusammenstellung der Betriebsgenossenschaften zu einer größeren Vereinigung (Gesamtgenossenschaft) erfolgt getrennt nach Gefahrenklassen und innerhalb der letzteren, soweit möglich, auch nach Industriezweigen.

5. Für jede Gefahrenklasse wird nach Maßgabe der Unfallgefahr die Zahl der Arbeiter festgestellt, welche mindestens in den zu einer Gesamtgenossenschaft vereinigten Betrieben vorhanden sein müssen.

Umfassen die für einen Industriezweig gebildeten Betriebsgenossenschaften für sich allein die erforderliche Anzahl von Arbeitern, so werden sie zu einer Gesamtgenossenschaft vereinigt. Auch können aus denselben mehrere Gesamtgenossenschaften mit geographischer Abgrenzung gebildet werden, wenn jeder derselben die erforderliche Zahl von Arbeitern verbleibt.

Soweit die für einen Industriezweig gebildeten Genossenschaften zusammen nicht die erforderliche Zahl von Arbeitern zählen, werden sie mit den für andere Industriezweige derselben Gefahrenklasse zu bildenden Genossenschaften zu einer Gesamtgenossenschaft vereinigt.

6. Vor den Betriebsverbänden werden so viele nach geographischer Abgrenzung zu einem Gesamtverbande verei[nigt] Das überlieferte Stück bricht hier ab, vgl. aber Nr. 99.

[ Druckseite 349 ]

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Herbert Graf von (1849─1904) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Lucius, Dr. Robert (1835─1914) Arzt, preuß. Landwirtschaftsminister
  • Ohlen und Adlerscron, Dr. Kurt von (1846─1900) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Rantzau, Kuno Graf zu (1843─1917) Legationsrat im Auswärtigen Amt, Schwiegersohn Bismarcks
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 17, fol. 29─32 Rs., nicht datiert, die Datierung wurde durch die Bearbeiter vorgenommen, von der Hand Theodor Lohmanns mit Kopfkürzeln von fremder Hand: Kiss(in)g(en) 25.7 F(ü)r G(ra)f B(ismarck) o(der) Balling. »
  • 2Kontext bzw. Verwendungszusammenhang dieses Stücks konnten nicht geklärt werden. Folgende Hypothese kann aber gewagt werden: Die nicht ganz eindeutig lesbaren bzw. aufzulösenden Kürzel deuten wohl darauf hin, daß (durch Bosse?) versucht werden sollte, Bismarck auf etwas ungewöhnliche Weise mit Lohmanns modifizierten Vorstellungen vertraut zu machen bzw. jenen “umzustimmen”. An Chuzpe zu einem derartigen Projekt gebrach es Lohmann wohl nicht, zudem fühlte er sich durch v. Boetticher schlecht vertreten (vgl. Nr. 96); im übrigen war der Versuch eines direkten Zugangs zum Machthaber hinter dem Rücken des verantwortlichen Vorgesetzten im “System Bismarck” nicht ungewöhnlich, vgl. Nr. 117. Sofern unsere Hypothese über den Verwendungszusammenhang dieser Ausarbeitung zutreffen sollte, beruhen die Kürzel aber auf falschen Annahmen der Projektemacher: Bismarck befand sich am 25.7. noch in Friedrichsruh, er traf erst am 28.7. in Bad Kissingen ein, dabei wurde er von seinem Sohn Graf Wilhelm begleitet. Der mit Bismarck gut bekannte Kissinger Kurarzt Dr. Anton von Balling war bereits 1875 verstorben. Die Einzelheiten dieses mutmaßlichen Vorhabens ─ vorläufige, nicht verifizierte Hypothese der Bearbeiter! ─ sind nicht mehr zu ermitteln; sicher ist nur, daß es nicht gelang, Bismarck erneut mit Theodor Lohmanns Vorschlägen zu befassen, vgl. Nr. 102. ─ Die Unterstreichungen erfolgten nachträglich ─ wohl als “Merkpunkte” ─ mit Bleistift. »
  • 3Vgl. Nr. 99 Anm. 2. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 101, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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