II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 97

1883 [Juni 27]

Denkschrift1 des Geheimen Regierungsrates Eduard Magdeburg2 für den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Reinschrift mit Randbemerkungen Bismarcks

[Reichsweite, nach Industriezweigen gegliederte Körperschaften von Unternehmern als Versicherungsträger (Berufsgenossenschaften), Unfallverhütung, Arbeiterausschüsse, Selbstverwaltung]

1. Die Unternehmer der in § 1 des Gesetzentwurfs, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter bezeichneten Gewerbebetriebe3 bilden vom 1. Januar 1886

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für den Umfang des Reichs je nach ihrer Zugehörigkeit zu den nachstehenden Betriebsgruppen:

I. Bergbau4, Hütten5 und Salinen
II.6 Industrie der Steine und Erden
III.7 Metallverarbeitung8
IV.9 Maschinen, Werkzeuge, Instrumente10, Apparate
V. Chemische Industrie
VI. Industrie der Heiz- und Leuchtstoffe11
VII. Textilindustrie12
VIII. Papier- und Lederindustrie13
IX.14 Brauerei u. Brennerei anderer Industrie der Holz- und Schnitzstoffe15
X.16 Industrie der Nahrungs- und Genußmittel
XI. Bekleidung und Reinigung17
XII. Baugewerbe
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XIII. Polygraphische Gewerbe
XIV. Gewerbliche Kunstbetriebe18
XV. Verkehrsgewerbe,

je eine Korporation.

2. Den vorgedachten Korporationen liegt von dem bezeichneten Zeitpunkte ab die Verpflichtung zum Ersatz des Schadens ob, welche in einem der Korporation angehörigen Betriebe durch Verletzung oder Tötung eines in diesem Betriebe beschäftigten Arbeiters entsteht.

3. Der Schadensersatz ist gemäß den in dem Unfallversicherungsgesetzentwurf enthaltenen Vorschlägen zu bemessen.

4. Die Korporationen haben sich innerhalb Jahresfrist nach Publikation dieses Gesetzes zu konstituieren. Sie regeln ihre Organisation und die Ausübung ihrer Tätigkeit durch ein Statut, welches der Genehmigung des Reichskanzlers bedarf.

Die Konstituierung erfolgt durch eine Versammlung von Delegierten der Mitglieder der Korporation.

Zum Zwecke der Vornahme der Delegiertenwahl für die konstituierende Versammlung werden für den Umfang des Reiches die Mitglieder jeder Korporation durch den Reichskanzler in drei Klassen geteilt. Die Klasseneinteilung erfolgt analog dem System der Dreiklassenwahl mit der Maßgabe, daß nicht die Steuerleistung, sondern die Zahl der im Kalenderjahre 1883 durchschnittlich täglich beschäftigten Arbeiter entscheidet. Die erste Klasse umfaßt diejenigen Betriebe, welche in der durch die Zahl der beschäftigten Arbeiter gegebenen Reihenfolge das erste Drittteil der Gesamtzahl der Arbeiter beschäftigen, die zweite Klasse diejenigen Betriebe, welche das zweite Dritteil beschäftigen; der verbleibende Rest der Betriebe bildet die dritte Klasse. Jede Klasse wählt aus ihrer Mitte die gleiche Anzahl von Delegierten. Die Gesamtzahl der von jeder Korporation zu wählenden Delegierten wird in den Grenzen von 30 bis 90 durch den Bundesrat festgesetzt. Die Wahl erfolgt durch schriftliche Mitteilung an den Reichskanzler. Innerhalb einer jeden Klasse gelten diejenigen als gewählt, welche relativ die meisten Stimmen erhalten haben.

Zwischen Anberaumung und Abhaltung der Wahl muß ein Zeitraum von mindestens drei Monaten liegen. (Berufsberatung der Interessenten über die geeigneten Personen)

5. Die Delegierten werden von dem Reichskanzler zur konstituierenden Versammlung berufen. Die Versammlung konstituiert sich selbständig und hat das Statut aufzustellen.

Die Beschlüsse werden durch absolute Majorität gefaßt. Die Delegierten haben gleiches Stimmrecht.

6. Die vorbezeichneten Grundlagen bleiben maßgebend für die definitive Vertretung der Korporation. Das Mandat der Delegierten hat eine Dauer von fünf Jahren. Von fünf zu fünf Jahren finden also Neuwahlen statt. Die Aufstellung der Wahlliste, die Einteilung der Mitglieder in drei Klassen und die Anordnung der Wahlen erfolgt nach Konstituierung der Korporation durch den Vorstand derselben.

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7. Das Statut hat Bestimmung zu treffen über:

a. Die Organisation des Vorstandes und der Verwaltung der Korporation und über die zur Erfüllung der Aufgaben der Korporation erforderlichen Behörden;

b. über den Verteilungsmaßstab für die Aufbringung der Lasten. Neben der Kopfzahl der in den Betrieben beschäftigten Arbeiter ist der nach der Art und nach der Einrichtung des Betriebes zu bemessende Grad der Gefährlichkeit desselben bestimmend;

c. über den Umfang und die Abgrenzung der Schiedsgerichte.

8. Die in dem Unfallversicherungsgesetzentwurf vorgesehenen Schiedsgerichte sind anzuführen. Die dem Stande der Arbeitgeber angehörigen Mitglieder der Schiedsgerichte sind von den beteiligten Korporationsvorständen bzw. von den Organen derselben zu ernennen.

9. Für die Bezirke der Schiedsgerichte sind die in dem Unfallversicherungsgesetzentwurf vorgesehenen Arbeiterausschüsse zu organisieren.

10. Die Korporationen sind befugt, für den Umfang des Reiches oder für bestimmt abzugrenzende Bezirke Vorschriften

a. über die von den Mitgliedern zur Verhütung von Unfällen in ihrem Betriebe zu treffenden Einrichtungen unter Bedrohung der Zuwiderhandelnden mit Strafzuschlägen zu den Beiträgen,

b. über das in den Betrieben ihrer Mitglieder von den Arbeitern zur Verhütung von Unfällen zu beobachtende Verfahren unter Bedrohung mit Geldstrafen zu erlassen.

Die Vorschriften bedürfen der Genehmigung des Bundesrats. Vor Erteilung der Genehmigung sind bei den Vorschriften sub lit. b die beteiligten Arbeiterausschüsse gutachtlich zu hören.

11. Gelangt das Statut vor dem 1. Januar 1886 nicht zur Genehmigung, so liegt von diesem Zeitpunkte ab bis zur erfolgten Genehmigung des Statuts die Erfüllung der (oben nach Nr. 2) den Korporationen obliegenden Verpflichtungen vorläufig, und vorbehaltlich des Rückgriffs auf die Mitglieder der nicht konstituierten Korporation, dem Reiche ob.

Die sämtlichen, dem Reiche hierdurch erwachsenden Kosten sind alljährlich auf die Mitglieder der Korporation nach Maßgabe der von denselben beschäftigten Arbeiterzahl umzulegen und durch Vermittlung der Landesbehörden im Verwaltungswege zur Erstattung zu bringen. Die Bezeichnung und Begrenzung der Bezirke der Schiedsgerichte erfolgt in diesem Falle durch den Bundesrat. Die Ernennung der dem Stande der Arbeitgeber angehörigen Mitglieder der Schiedsgerichte ferner steht in diesem Falle denjenigen staatlichen Landespolizeibehörden19 zu, in deren Bezirk das Schiedsgericht seinen Sitz hat.

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Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 15.01 Nr. 385, fol. 10─16 Rs. Die Denkschrift ist weder datiert noch gezeichnet. Sie ist mit der V(erfügung) Bödikers Zu den Akten (an geeigneter Stelle), gegengezeichnet durch Bosse und Boetticher vom 15.1.84 versehen. Von einem Kanzleibeamten wurde sie zwischen Vorgänge vom 18.6.1883 (Nr. 95) und die beiden vom 23.9.1883 (Nr. 107 Anm. 1) eingeheftet. Datierung und Bestimmung der Verfasserschaft ist durch die Bearbeiter nach folgenden Indizien erfolgt: Die Datierung nach einem Bericht des bay. Gesandten Hugo Graf Lerchenfeld-Koefering v. 2.7.1883. Danach habe sich Bismarck in der vergangenen Woche, also zwischen dem 25. und 30.6.1883, eingehend mit dem Studium einer Denkschrift über die Unfallversicherung beschäftigt. Die Denkschrift ist im Reichsamt des Innern, nicht aber von Lohmann verfaßt (BayHStA, Bay.Ges. Berlin Nr. 1053, n.fol.). Die Bestimmung der Verfasserschaft erfolgt u.a. nach der Angabe Bosses (Nr. 112 und 113); Lohmann und Bödiker arbeiteten an bezirklich und nach Gefahrenklassen ausgerichteten Konzeptionen für Versicherungsträger, die nicht einem reichsweit einheitlichen Industriezweig- bzw. Betriebsartprinzip (“Berufsgenossenschaften”) folgten. Anlaß zur neuen Orientierung Bismarcks auf Berufsgenossenschaften nach dem Kriterium jeweils gleicher Industriezweige statt jeweils gleicher Gefahrenklassen als einheitliches, reichsweites Organisationsprinzip, dessen Funktionsbedingungen die Denkschrift Magdeburgs skizzierte, dürften die Anträge bzw. Ausführungen der Zentrumsabgeordneten Georg Frhr. v. Hertling (vgl. Nr. 83) und Christoph Moufang (vgl. Nr. 87 Anm. 3) gewesen sein, in denen Bismarck wohl zugleich ein sinnvolles politisches Gestaltungsprinzip sah, das beim Reichstag “durchging” und zugleich im Kern eine politische Alternative zu diesem stellen konnte; im übrigen entsprach es den von ihm seit Sommer 1881 geäußerten Vorstellungen, sofern man die artifiziellen “Gefahrenklassen” daraus eliminiert! Eduard Magdeburg, seit März 1882 Referent für Unfallversicherung und bereits zu diesem Zeitpunkt wohl mit einem ähnlich anonymen Spezialauftrag betraut (vgl. Nr. 41), berichtet in seinen Lebenserinnerungen: Die Grundlage für den Aufbau des Unfallversicherungsgesetzes rührt von mir her. Es stand grundsätzlich zur Erwägung, ob die unfallversicherungspflichtigen Betriebe aller Art gemeinschaftlich in Anlehnung an die Kreise u. ähnliche Organe korporativ zusammenzufassen und zu gliedern seien, oder aber ob diese Betriebe fachlich in geographisch nicht begrenzte Berufsgenossenschaften korporativ zusammenzufassen u. zu organisieren seien. Aufgrund meiner Vorschläge wurde das Unfallversicherungsgesetz auf der berufsgenossenschaftlichen Gliederung aufgebaut. (Durchschrift der Lebenserinnerungen im Besitz von Frau Brigitte Schönherr, Kassel). Die Lebenserinnerungen ergeben keinen Hinweis darauf, daß Bismarck Magdeburg diesen Auftrag direkt erteilt hat. So ist anzunehmen, daß es von Boetticher war. B. hat dann ─ nach Aufstellung der Grundzüge (Nr. 133) ─ diese weichenstellende Denkschrift, deren Gehalt (erst?) Ende September 1883 Robert Bosse bekannt wurde, dem Referenten Tonio Bödiker für die Akten mitgegeben, da sie überholt war. »
  • 2Eduard Magdeburg (1844─1932), seit 9.7.1881 (Geh.) Regierungsrat im Reichsamt des Innern, bearbeitete zunächst Alters- und Invalidenversicherung sowie Armensachen. »
  • 3B.: Haft-Pflicht-Aufhebung. Fabrik-Definition (Maschinen durch Naturkräfte, Roßwerke bewegt, Dampf, Wind, u(nd) Wasser, Elektr(izität), chemische Angenzin [wohl: Agenzien, also Treibmittel] »
  • 4B. (darüber): 1 »
  • 5B. (darüber): 2 »
  • 6 Gruben (darüber: 3) u. Bruch »
  • 7B.: Eisen, Kupfer »
  • 8B. (darüber): 5 »
  • 9B.: Maschinenbau, Zeugschmiede »
  • 10B. hat über Maschinen eine 4 gesetzt, Werkzeuge durchgestrichen und Bau darübergeschrieben, (Instrumente) eingeklammert »
  • 11von B. durchgestrichen und am Rande mit ? versehen »
  • 12B.: Wolle, Baum (wolle), Spinn (erei), Seide »
  • 13B.: andere, mit Maschinenbetrieb »
  • 14von B. durchgestrichen »
  • 15B.: IX. Brauerei u. Brennerei »
  • 16Die beiden folgenden Worte von B. durchgestrichen, darunter B.: andere »
  • 17von B. durchgestrichen »
  • 18von B. durchgestrichen »
  • 19Vgl. das preuß. Gesetz über die Polizeiverwaltung v. 11.3.1850 (GS S. 265). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 97, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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