II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 91

1883 Juni 5

Schreiben1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Geheimen Regierungsrat Dr. Franz von Rottenburg mit Denkschrift

Eigenhändige Ausfertigung und Reinschrift

[Die Auffassungen der Nationalliberalen und Sezessionisten werden nach den Kriterien wie: Versicherungszwang, Bildung von Genossenschaften, Reichszuschuß, Umlageverfahren in Gegenüberstellung mit anderen politischen Parteien (Konservative und Zentrum) dargestellt. Lohmanns eigenen Vorstellungen nahestehende Auffassungen sind dabei hervorgehoben]

In Erwiderung auf Ihr gefälliges Schreiben vom gestrigen Tage, welches ich abends 3/4 11 Uhr erhielt, beehre ich mich, Ihnen eine Darlegung der von den Nationalliberalen und Sezessionisten zur Krankenversicherung2 eingenommenen Stellung und eine desgleichen, betreffend die Unfallversicherung, ergebenst zu übersenden.

Obwohl Aufzeichnungen über die einzelnen Abstimmungen in der Kommission nicht bestehen und eine genaue Vergleichung der (für die Krankenversicherung allein 4 Volumina bildenden) Akten bei der Kürze der Zeit nicht möglich war, so glaube ich doch richtig referiert und nichts Wesentliches unberücksichtigt gelassen zu haben.

Um die Stellung der beiden fraglichen Parteien klarzustellen, ist es erforderlich geworden, bei manchen Punkten auch die übrigen Parteien zu berücksichtigen. Hiermit und mit der Kürze der Zeit bitte ich bei Seiner Durchlaucht gefälligst zu entschuldigen, wenn die Darlegungen nicht so kurz ausgefallen sind, wie es für den Zweck vielleicht erwünscht gewesen wäre. Zu einer nochmaligen Überarbeitung blieb, wenn ich Ihnen die Schriftstücke nicht unmundiert zusenden wollte, keine Zeit mehr.

[Anlage]

Betrifft die Haltung der Nationalliberalen und Sezessionisten gegenüber der Unfallversicherungsvorlage

Der bisherige Gang der Kommissionsverhandlungen läßt nur die allgemeine Stellung der Parteien zu den Grundlagen des Entwurfs erkennen.

Die Ersetzung der Haftpflicht durch den Versicherungszwang wird prinzipiell nur noch vom Fortschritt bekämpft. Die Sezessionisten erklären sich eventuell bereit, derselben zuzustimmen, werden aber am liebsten den Antrag Buhl und Genossen wieder aufnehmen3 und bekämpfen auch für den Fall der Annahme des Versicherungszwangs die Durchführung desselben auf dem Wege öffentlich rechtlich geregelter Institutionen.

[ Druckseite 309 ]

Die Nationalliberalen sind gegenwärtig ohne Vorbehalt bereit, den Versicherungszwang anzunehmen und haben (abweichend von der mit dem Antrag Buhl und Genossen eingenommenen Stellung) die Einrichtung einer subsidiären öffentlich rechtlichen Institution zur Durchführung des Versicherungszwangs (Betriebsverbände) als notwendig anerkannt. Sie wollen aber einen Zwang, dem öffentlichen Verbande anzugehören, nur für diejenigen Unternehmer zulassen, welche nicht nachweisen, daß sie ihre Arbeiter durch Beitritt zu einer freiwilligen Genossenschaft oder Gegenseitigkeitsgesellschaft oder durch Versicherung bei einer Privatversicherungsanstalt versichert haben. Die Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften und Privatversicherungsanstalten sollen durch gesetzliche Normativbestimmungen geregelt werden. Nach den bisherigen Äußerungen der nationalliberalen Kommissionsmitglieder ist anzunehmen, daß sie die Privatversicherungsanstalten schließlich preisgeben werden, wenn sie nur fakultative Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften erreichen.4

Zu bemerken ist hierbei, daß die Absicht des Entwurfs, die Zwangsgenossenschaften zur Grundlage der Organisation zu machen, und nur diejenigen Unternehmer den Betriebsverbänden zuzuweisen, welche sich zur Einfügung in eine Genossenschaft nicht eignen, bei der überwiegenden Mehrheit der Kommission ebensowenig Anklang gefunden hat wie der Gedanke einer Teilung des Risikos zwischen den Betriebsverbänden und Betriebsgenossenschaften einerseits und den Gefahrenklassen andererseits.

Für das System der Vorlage stimmt überhaupt nur ein Mitglied der konservativen Partei.

Die Mehrheit der Konservativen wollen die Betriebsverbände zur Grundlage machen und das Risiko zwischen den einzelnen Betriebsverbänden und der Gesamtheit derselben teilen, daneben aber die Möglichkeit zur Bildung fakultativer Genossenschaften (nach gesetzlichen Normativbestimmungen) geben. Das Zentrum will (partikularistisch) nur Betriebsverbände, welche der Regel nach auf die Grenzen der einzelnen Staaten beschränkt sind und jeder für sich das ganze Risiko tragen. Eine Ausscheidung von Genossenschaften aus denselben soll nur unter erschwerenden Bedingungen stattfinden.

2. Für den Reichszuschuß haben sich in der Kommission überhaupt nur zwei Stimmen gefunden, von denen die eine der konservativen, die andere der Reichspartei angehört.

3. Die Übernahme der Versicherung für die ersten 13 Wochen nach Eintritt des Unfalls wird außer vom Fortschritt auch von den Sezessionisten grundsätzlich abgelehnt. Die Nationalliberalen wollen diese Übernahme auf vier Wochen beschränken, daneben aber bestimmen, daß die Arbeitgeber unfallversicherungspflichtiger Arbeiter zu den Krankenkassen, denen die letzteren angehören, noch einen Extrabeitrag leisten. Konservative und Zentrum wollen die Vorlage in dieser Beziehung mit dem Vorbehalte beibehalten, daß die Leistungen der Krankenkassen für die 5te bis 14te Woche durch Leistungen aus der Unfallversicherung bis zu dem Betrage der vollen Unfallentschädigungsrente ergänzt werde.

[ Druckseite 310 ]

Für die unveränderte Vorlage stimmen auch in dieser Beziehung nur die unter 2 bezeichneten beiden Mitglieder.

4. In notwendiger Konsequenz der Zulassung fakultativer Genossenschaften erklären sich die Nationalliberalen (und mit ihnen auch die Mehrheit der Konservativen) gegen die Beibehaltung des Umlageverfahrens in der im Entwurf vorgesehenen Form, wonach halbjährlich nur das aufgebracht werden soll, was im abgelaufenen Halbjahr wirklich zu zahlen war. Die Mehrheit scheint sich einem Umlageverfahren zuzuneigen, nach welchem halb-(oder viertel- oder ganz-)jährig der volle Wert der in der voraufgegangenen Rechnungsperiode entstandenen Verpflichtungen auf die Mitglieder der Betriebsverbände beziehungsweise der Genossenschaften umgelegt wird.

5. Über die der Postverwaltung zugedachte Geschäftsvermittlung ist noch nicht beraten. Abgesehen davon, daß sie von denjenigen nicht aufrechterhalten werden kann, welche in irgendeiner Weise fakultative Verbände zulassen wollen, steht insbesondere das Zentrum aus partikularistischem Interesse diesem Gedanken entschieden ablehnend gegenüber. Nationalliberale und Sezessionisten werden denselben in Konsequenz zu ihrer Auffassung der Organisationsfrage nicht zustimmen können, wenn auch die ersteren sonst einer solchen einheitlichen Regelung nicht abgeneigt sein möchten.

Registerinformationen

Personen

  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • 1BArchP 07.01 Nr. 524, fol. 277─278 (Begleitschreiben), fol. 288─295 (Denkschrift, Reinschrift von der Hand eines Kanzlisten). »
  • 2Diese Stellungnahme ist hier nicht abgedruckt, sie befindet sich ebd., fol. 279─287. »
  • 3Vgl. Nr. 37. »
  • 4Vgl. dazu Nr. 83, 87 u. 88. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 91, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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