II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 87

1883 Mai 30

Protokoll1 der elften Sitzung der VIII. Reichstagskommission2

Abschrift

[Beratung über die §§ 7, 11 und 14 der zweiten Unfallversicherungsvorlage]

Der Vorsitzende Frhr. v. Franckenstein eröffnet die Sitzung 8 Uhr 30 Minuten.

Zur Debatte steht § 7 nebst den Anträgen Dr. Moufang zu §§ 7, 7a, 7b3 u. Buhl4, Lohren5, Wichmann6.

[ Druckseite 296 ]

Abg. Dr. Moufang begründet seinen Antrag. Er ist der Ansicht, daß nach der hier vorgeschlagenen Methode die gesamte deutsche Industrie in etwa 50 Betriebsverbände einzuteilen sein werde. Diese Verbände würden sehr wohl imstande sein, die gesamte Unfallslast zu tragen. Um aber auch einen Weg zur Bildung wirklicher Berufsgenossenschaften zu geben, habe er seinen § 7 b beantragt.

Abg. v. Schirmeister7 beantragt zur Geschäftsordnung die Debatte auch auf § 11 bzw. die Organisationsparagraphen über die Träger der Versicherung zu erstrecken. Abg. Lohren schließt sich dem an. Abg. Dr. Buhl beantragt ebenfalls, die §§ 7 bis 14 zusammen zur Diskussion zu stellen. Abg. Dr. Moufang ist damit ebenfalls einverstanden.

Der Vorsitzende schlägt vor, die §§ 7, 11 und 14 in der Diskussion zu verbinden. Die Kommission ist damit einverstanden.

Abg. Frhr. von Maltzahn-Gültz konstatiert zunächst das Einverständnis der Kommission in der Ablehnung des Reichszuschusses. Ferner sei eine überwiegende Majorität gegen einen direkten Beitrag der Arbeiter zur Unfallversicherung. Es bleibe also nur übrig, die Last auf die Schultern der Arbeitgeber zu legen. Über die Verteilung der Last aber gehe man bisher auseinander. Redner erläutert nun die im Antrage Wichmann versuchte Verteilung zwischen engeren und weiteren Verbänden, von denen die ersteren auf bestimmt abgegrenzte geographische Bezirke, die anderen auf die durch die Gemeinsamkeit des Berufs bedingten gemeinsamen Interessen zu basieren sein würden.8

Abg. Frhr. von Wendt ermahnt, sich von vornherein über die Nomenklatur betreffs der zu schaffenden Versicherungsverbände vollkommen klar zu werden. Im [ Druckseite 297 ] übrigen befürwortet er ein möglichst freies Zusammentreten der einzelnen Unternehmer zu Verbänden.

aGeh.Oberregierungsrat Lohmann bittet, der Anregung des Vorredners, die Nomenklatur des Gesetzentwurfs umzukehren, keine Folge zu geben.9 Die Nomenklatur der Vorlage sei die logisch richtige, indem “Genossenschaften” die mehr organischen, “Verbände” die mehr mechanischen Bildungen seien.10 Der Antrag Moufang würde, was die Bildung von Genossenschaften betrifft, einer wesentlichen Änderung bedürfen. An dem Antrage Wichmann bemängelt er, daß man nicht sicher sein kann, immer hinreichend leistungsfähige Berufsgenossenschaften zu haben, und deshalb doch gezwungen sein könnte, auf die umfangreichen Gefahrenklassen zurückzugreifen.a

Abg. Dr. Buhl befürchtet, daß die Berufsgenossenschaften einen nicht genügenden Inhalt haben würden. Besser würde für den vorliegenden Zweck die Zusammenlegung der örtlich benachbarten Betriebe genügen. Auch hier aber ergeben sich manche Bedenken, besonders die gewaltsame Zusammenschweißung durchaus heterogener Elemente. Deshalb sei das Richtigste die freie Vergesellschaftung der Unternehmer. Unter diesem Gesichtspunkte begrüßt er Absatz 2 des § 11 des Antrags Wichmann, der seinem eigenen Antrage im wesentlichen entspreche. aEr bemängelt nur, daß die Normativbestimmungen durch den Bundesrat erlassen werden sollen und beantragt, dieselben durch Reichsgesetz zu regeln. Durch Abs. 2 des § 11 im Antrag Wichmann solle, wie er ihn verstehe, die Frage, welche Arten von Gesellschaften zugelassen werden sollen, offengelassen werden.a

aGeh. Oberregierungsrat Lohmann schickt voraus, daß er in seiner Beteiligung an der Diskussion über diese Anträge nicht die Stellung der verbündeten Regierungen zum Ausdruck bringen könnea und verteidigt dann die im Entwurf vorgesehenen Genossenschaften besonders gegen den Vorwurf, daß sie nicht genug leisten würden im Punkte der Unfallverhütung. Der Erörterung des Gedankens in Abs. 2 des § 11 will er nicht entgegentreten, aber dann awerde man auch die Normativbestimmungen aus der Mitte der Kommission vorschlagen müssen. Das sei die Voraussetzung, unter welcher die Vertreter der verbündeten Regierungen sich an dieser Diskussion beteiligen könnten.a 11

Abg. Lohren ist mit § 7a des Moufangschen Antrages im wesentlichen einverstanden. Desgleichen mit 7b unter dem Gesichtspunkte, daß die Bildung der Genossenschaften [ Druckseite 298 ] nicht unter allen Umständen an bestimmte territoriale Grenzen gebunden wird. Trotzdem sei die Fähigkeit der so gebildeten Verbindungen zur Tragung der gesamten Unfallslast in allen Fällen sehr zweifelhaft. Er halte fest daran, daß den Verbänden nur ein Teil der Versicherungslast aufzuerlegen, der größere Rest aber von der Gesamtheit der versicherungspflichtigen Betriebe im ganzen Reich zu übernehmen sei. In längeren Ausführungen verbreitet sich Redner sodann über den Gedanken der freiwilligen Genossenschaft.

Geh. Oberregierungsrat Lohmann macht darauf aufmerksam, daß der Vorredner, im Unterschied zu Moufang und Wichmann, Zwangsgenossenschaften wolle. Dadurch werde freilich das Umlageverfahren gerettet werden, aber Herr Lohren komme mit sich selbst in Widerspruch.12

Abg. Grad13 erblickt in den Moufangschen Anträgen das beste Mittel zur Verringerung der Unfallgefahr, da territoriale Verbände zur Überwachung der Vorbeugungsmaßregeln gegen Unfälle am meisten geeignet seien.

Abg. Dr. Moufang erläutert nochmals seinen Antrag, namentlich im Punkte des Austritts von Unternehmern aus den Verbänden zum Zweck der Bildung von Genossenschaften. Er betont, daß dieser Austritt nur unter Genehmigung der Regierung und unter der Bedingung, daß durch den Austritt der betr. Betriebsverband nicht leistungsunfahig wird, erfolgen können soll. Gegen Absatz 2 § 11 des Antrags a Wichmann spricht er sich nicht prinzipiell ablehnenda aus.

Um 1/2 11 Uhr wird die Debatte auf morgen abend 8 Uhr vertagt und die Sitzung geschlossen.

Registerinformationen

Personen

  • Grad, Charles (1842─1890) Fabrikbesitzer und Schriftsteller, MdR (Protestpartei)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Schirmeister, Heinrich von (1817─1892) Landrat a.D., MdR (Liberale Vereinigung)
  • Wendt-Papenhausen, Karl Freiherr von (1832─1903) Rittergutsbesitzer, MdR (Zentrum)
  • 1BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 175─178, Unterstreichungen durch Bismarck, seine jeweiligen Randstriche sind durch a-a gekennzeichnet. Protokollant war Dr. Friedrich Boettcher. Konzept des Sitzungsprotokolls: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 230─234. »
  • 2Anwesend als Regierungsvertreter: Herr Geh.Ober.Reg.Rat Lohmann, Herr Direktor Bosse, Herr Geh.Rat Bödiker, Herr Geh.Rat Magdeburg, Herr Reg.Rat v. Woedtke, Herr Geh.Ober.Reg.Rat Dr. Meyer. Entschuldigt: die Herren von Kulmiz, Löwe, Dr. Hirsch, Graf Schönborn, Dr. Greve. »
  • 3Überliefert: BArchP 15.01 Nr. 384 (Ausschuß-Drucksache Nr. 14), fol. 115: Die Versicherung erfolgt durch die Unternehmer der unter § 1 fallenden Betriebe auf Gegenseitigkeit, und zwar entweder a) durch die Gesamtheit der einem Betriebsverbande zugehörigen Unternehmer, nach Maßgabe der Gefahrenklasse (§ 10), welcher der einzelne Betrieb zugeteilt ist, ober b) von der Gesamtheit der Mitglieder einer Betriebsgenossenschaft. Sämtliche im Reichsgebiet belegenen nach § 1 versicherungspflichtigen Betriebe sind in Betriebsverbände zu vereinigen, deren Umfang und Größe der Bundesrat auf Vorschlag der einzelnen Bundesregierungen festzustetzen hat, unter besonderer Berücksichtigung der staatlichen und prinzipiellen Abgrenzungen und der Leistungsfähigkeit der darin bestehenden Betriebe. Dem so festgestellten Betriebsverband sind alle innerhalb des Bezirks liegenden Betriebe zugehörig. Von den Zentralbehörden der Bundesstaaten kann auf Antrag und nach Anhörung der Interessenten bestimmt werden, daß einzelne Betriebe aus dem Betriebsverband ausscheiden, um sich mit gleichartigen Betrieben anderer Bezirke zu einer Betriebsgenossenschaft zu vereinigen. »
  • 4Überliefert ebd, fol. 116 (Unterantrag zu Wichmann, ADrs.Nr. 15): Die Versicherung erfolgt durch die Unternehmer der unter § 1 fallenden Betriebe. Diejenigen im Bezirke einer höheren Verwaltungsbehörde belegenen Betriebe, deren Unternehmer nicht nachweisen, daß sie einer Versicherungsgenossenschaft angehören oder bei einer zum Zwecke dieser Versicherung im Deutschen Reich zugelassenen Versicherungsanstalt versichert sind, bilden zusammen einen Betriebsverband. Die Zentralbehörden der Bundesstaaten können bestimmen, daß Betriebsverbände für andere Bezirke als diejenigen der höheren Verwaltungsbehörden zu bilden sind. Ebenso kann der Bundesrat nach Benehmen mit den beteiligten Landesregierungen die Bezirke von Betriebsverbänden unabhängig von den Landesgrenzen feststellen. »
  • 5Überliefert: BArchP 15.01 Nr. 384, fol. 117 (ADrs.Nr. 16). »
  • 6Rudolf Wichmann (1826─1900), Rittergutsbesitzer, seit 1877 MdR (konservativ). Der Antrag Wichmann ─ Freiherr v. Maltzahn-Gültz (ADrs.Nr. 13) ist überliefert: BArchP 15.01 Nr. 384, fol. 114. »
  • 7Vgl. Nr. 82. »
  • 8Der bereits erwähnte Antrag Wichmann ─ v. Maltzahn-Gültz lautete: § 7. Die Versicherung erfolgt durch die Unternehmer der unter § 1 fallenden Betriebe auf Gegenseitigkeit, und zwar in der Weise, daß die nach §§ 5, 6 zu leistenden Entschädigungen: 1. mit ... Prozent der Gesamtheit aller Unternehmer des Betriebsverbandes, welchem der von dem Unfall betroffene Betrieb angehört (§ 11), 2. mit ... Prozent von der Gesamtheit aller Unternehmer der Berufsgenossenschaft, welcher der von dem Unfall betroffene Betrieb angehört (§ 12), zur Last fallen. § 11. (1) Sämtliche, mit Ausnahme der im Absatz 2 bezeichneten, in dem Bezirk einer höheren Verwaltungsbehörde belegenen Betriebe bilden einen Betriebsverband. (2) Diejenigen Betriebe, deren Unternehmer nachweisen, daß sie gemäß vom Bundesrate zu erlassender Normativbestimmungen für die in ihren Betrieben beschäftigten Personen volle Sicherheit gegen alle Unfälle gewähren, sind zum Beitritt zu dem Betriebsverband nicht verpflichtet. § 12. Die demselben Industriezweige angehörenden Betriebe eines, mehrerer oder sämtlicher Betriebsverbände werden zu Berufsgenossenschaften vereinigt, je nach der Gesamtzahl der in denselben beschäftigten Personen. Die Mitgliederzahl etc. (Abs. 2 des § 11 R[egierungs] V[orlage]). Auf Antrag der Beteiligten (Abs. 3 § 11 RV) kann eine Berufsgenossenschaft für Betriebe gleichartiger Industriezweige gebildet werden. »
  • 9Lohmann hat das dann aber doch gemacht: Anlage A pp. v. Juni 1883; vgl. Nr. 91. »
  • 10Vgl. zu diesem grundlegenden Verständnis Lohmanns Nr. 67 u. 72. »
  • 11In der Zeitschrift für Versicherungswesen wurde über Lohmanns Verhalten berichtet: Geh. O.Reg.Rat Lohmann, seine teilweisen Bedenken gegen die Anträge äußernd, verwahrte sich gegen die Annahme, als wenn er mit dieser Diskussion die Geneigtheit der verbündeten Regierungen, auf diese Anträge irgendwie einzugehen, zugestehe. (7. Jg. 1883, Nr. 21 v. 4.6.1883, S. 280). ─ Die ersatzweise (substitutive) Zulassung freiwilliger Genossenschaften entsprach Lohmanns persönlichen Intentionen, so hatte er auch bei der gesetzlichen Krankenversicherung die traditionellen Hilfskassen unter normativen Vorgaben “ersatzweise” zugelassen; für Bismarck waren dadurch dem Voluntarismus zu weite Konzessionen gemacht (Vgl. Nr. 54 Anm. 3), und auch bei der Unfallversicherung lehnte er dieses Prinzip strikt ab, seine Unterstreichungen zeigen, daß er diese “persönliche” Einlassung Lohmanns mit starkem Mißfallen betrachtete. »
  • 12Auf eine Mitteilung Lohrens gegenüber Heinrich v. Poschinger geht wohl folgende Mitteilung zurück: Insbesondere, war er (Lohren) es, der die Stellung des Geheimrats Lohmann in der Kommission des Reichstags für das Unfallversicherungsgesetz erschütterte, indem er im Gegensatz zu dem Regierungskommissar dafür eintrat, daß die Unfallversicherung auf der Basis der Berufsgenossenschaft in das Leben trat, was bekanntlich auch eine Lieblingsidee Bismarcks war. (Heinrich von Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Bd. 3, Breslau 1896, S. 122 f.) »
  • 13Charles Grad (1842─1890), Fabrikbesitzer und Schriftsteller, seit 1877 MdR (Protestpartei). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 87, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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