II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 85

1883 Mai 27

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Pastor Dr. Ernst Wyneken2

Ausfertigung, Teildruck3

[Bericht über Reichstag und Reichskanzler]

[...] Lange beunruhigt es mich schon, daß ich von Dir, seit Du in Edesheim bist, noch gar nichts weiß. Ob Du oder ich zuletzt geschrieben, weiß ich nicht mehr; wahrscheinlich Du. Aber es geht mir, wie in dieser Zeit wahrscheinlich auch Dir; habe nicht die mindeste Lust zum Schreiben, nicht mal sonntags, weil ich mich nach der täglichen Balgerei mit dem Reichstag immer freue, wenn ich Ruhe habe. Von unseren Zuständen hast Du keine Idee, Zustandekommen der Unfallversicherung ganz aussichtslos4, Krankenversicherung würde Bismarck am liebsten zu Falle bringen, es müßte aber so gedreht werden, daß er dem Reichstage die Schuld

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geben könnte.5 Seit vorgestern ist Boetticher wieder da, noch nicht vollständig hergestellt, tritt aber seinen Dienst wieder an. Hatte aber auch wohl den Eindruck, daß mit Bismarck jetzt eigentlich nichts mehr anzufangen sei. Sitzt in seinen vier Pfählen und tiftelt sich allerlei aus auf Grundlage von Voraussetzungen, die bloß in seinem Kopfe existieren, und sieht jeden für einen Schafskopf oder Bösewicht an, der anderer Meinung ist.6 [...]

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Registerinformationen

Personen

  • Bamberger, Ludwig (1823─1899) Politiker und Schriftsteller, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • Bleichröder, Gerson (1822─1893) Bankier, Wirtschaftsberater Bismarcks
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Gutfleisch, Dr. Egidi (1844─1914) Rechtsanwalt, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Lange, Peter (1832─1902) Oberförster und Amtsvorsteher in Friedrichsruh
  • Schulze-Delitzsch, Dr. Hermann (1808─1883) Kreisrichter a.D., MdR (Fortschritt)
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 167─168 Rs. »
  • 2Wyneken hatte aufgrund eines disziplinarischen Vorgehens gegen ihn (wegen interner Kritik an der Annexion Hannovers) seine Direktorenstelle aufgegeben, am 23.4.1883 wurde er ordiniert und trat zum 1.5.1883 eine Pfarrstelle in Edesheim an. »
  • 3Die ausgelassenen Abschnitte betreffen Familienangelegenheiten. »
  • 4Wohl Anspielung auf die recht positive Aufnahme des Präjudizialantrags Hertlings (vgl. Nr. 83), der Lohmanns eigenen Intentionen weitgehend entsprach. »
  • 5Das Krankenversicherungsgesetz wurde am 31.5.1883 verabschiedet. »
  • 6Bismarcks “Tüfteleien” dürften das private Versicherungswesen und dessen evtl. Verstaatlichung betroffen haben. Jedenfalls berichtet ─ allerdings unter dem Datum 29.5. ─ Arthur von Brauer über einen bürokratischen “Bierabend” bei Bismarck, an dem auch Bödiker und Lohmann teilnahmen: Der Kanzler sprach beinahe ausschließlich von den sozialpolitischen Aufgaben, die ihn damals besonders beschäftigten. Er meinte, die ganze Lebens-, Krankheits- und Unfallversicherung müsse auf den Staat übergehn; es sei gegen die Moral, die Privatspekulation aus menschlichem Mißgeschick Nutzen ziehen zu lassen. Auch eine Verstaatlichung der Mobiliar- und Immobiliar-Feuerversicherung müsse erstrebt werden, “unter nachbarlicher Kontrolle”, der Brandstiftungen wegen. Es sei doch ein ungesunder Zustand, wenn einige Feuerversicherungsgesellschaften 50 % Dividenden machten. Bei einer staatlichen Regelung müßten die Gemeinden, der Kreis, die Provinz, je nach Häufigkeit der Brände in ihrem Bezirk, zu höheren oder geringeren Beiträgen herangezogen werden. Er schien nur eine preußische staatliche Brandversicherung, keine deutsche, im Auge zu haben. (Im Dienste Bismarcks, Berlin 1936, S. 163) Bei diesen Plänen spielten private Erfahrungen des Kanzlers als Gutsbesitzer und damit als gewichtiger Vertragspartner von Hagel- und Feuerversicherungen eine erhebliche Rolle. Im November 1882 hatte ihn die “Vaterländische Feuer- und Hagelversicherungs-AG” in Elberfeld informiert, daß sie eine Prämienanhebung zwischen 25 und 50 Prozent für die nächste, Anfang 1883 beginnende Vertragsperiode beabsichtige, da sie zwischen 1872 und 1882 in Schleswig-Holstein 600 000 M Verlust erlitten habe (davon 25 191 M auf Bismarcks Grundstück); zu gleicher Zeit las Bismarck in der Börsenbeilage zum “Reichsanzeiger”, daß die “Elberfelder” ihre Dividende von 20 auf 37,5 Prozent erhöht hatte! (Otto Pflanze, Bismarck und the Development of Germany, Bd. 3, Princeton 1990, S. 166; ergänzend: Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Frankfurt und Berlin 1978, S. 363). Bismarck als Gutsbesitzer hatte im Vorjahr über seinen Wirtschaftsberater, den Bankier Gerson Bleichröder, seinen Gutsverwalter Peter Lange beauftragt, für die Feuerversicherung seiner Gebäude eine Gesellschaft mit eine(r) billigere(n) Prämie als die Elberfelder zu suchen (Schreiben v. 5.12.1882, Wirtschaftsarchiv Friedrichsruh, Acta betr. die Versicherung der Gebäude gegen Feuersgefahr 1872─1883). Lange ermittelte, daß die Versicherungsgesellschaften am gleichen Strang gewöhnlich ziehen bzw. sich keine gegenseitige Konkurrenz machen; für den Generalagenten der Magdeburger Feuerversicherungs-AG hatte dann aber doch die Aussicht, mit seiner Durchlaucht in Verbindung zu treten, einen hohen Reiz, so daß er eine relativ günstigere Prämie anbot. (Schreiben Lange an Bleichröder v. 9.12. 1882, ebd.) Darauf schloß Lange mit der Magdeburger Versicherungs-AG für sämtliche Gebäude eine entsprechende, wohl günstigere Versicherung ab, vgl. auch Nr. 148 Anm. 7. In diesem Zusammenhang nicht genau verorten läßt sich eine ungenaue Tagebuchnotiz Ludwig Bambergers vom August 1883 (Bismarcks großes Spiel. Die geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers. Eingeleitet und herausgegeben von Ernst Feder. 2. Aufl., Frankfurt/M. 1933, S. 335 f.) »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 85, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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