II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 79

1883 April 25

Bericht1 über die vierte Sitzung der VIII. Reichstagskommission

Druck

[Informatorische Beratung über die §§ 5 und 6 der zweiten Unfallversicherungsvorlage, Verhältnis der Krankenversicherung zur Unfallversicherung]

Die Kommission des Reichstages zur Vorberatung des Gesetzentwurfs, betr. die Unfallversicherung der Arbeiter, verhandelte am 25. über die §§ 5 und 6 der Vorlage, die Grundzüge für die Entschädigung enthaltend, und insbesondere über die Frage, ob die Entschädigungspflicht erst nach Ablauf einer Karenzzeit eintreten solle oder nicht. Die Regierungsvorlage will bekanntlich die ersten dreizehn Wochen ohne alle Regressionsansprüche bei großen wie bei kleinen Unfällen den Krankenkassen überweisen. Der Zweck dieser Bestimmung ist ein doppelter: einmal soll das Geschäft der Unfallversicherung dadurch erheblich vereinfacht werden, denn die Folgen von mehr als 90 % aller Unfälle überdauern nicht 13 Wochen; sodann soll durch die Kontrolle, welche die von den Arbeitern verwaltete Krankenkasse übt, die Gefahr der Simulation vermieden werden. Diesen Vorteilen gegenüber steht aber der Nachteil, daß der Verletzte in den ersten 13 Wochen eine geringere Entschädigung erhalten würde als später, falls er über 13 Wochen hinaus erwerbsunfähig bliebe, bzw. als er nach dem Haftpflichtgesetz unter Umständen erhalten haben würde; und weiter, daß die Entschädigung während der ersten 13 Wochen zum größten Teile von den Arbeitern selbst (durch die Krankenkasse) getragen werden würde. Die Abgg. Paasche, Gutfleisch2, Hirsch und Eberty beantragen deshalb, die 13wöchentliche Karenzzeit auf Kosten der Krankenkassen einfach zu streichen. Zu dem hiernach abgeänderten § 5 beantragte Abg. Dr. Buhl einen Zusatz, wonach die Kosten des Heilverfahrens und die zu gewährende Rente für die Verletzten, welche der Gemeindekrankenversicherung, einer Ortskrankenkasse usw. angehören, für die ersten 4 Wochen gegen Zahlung von einem weiteren Sechstel des Versicherungsbeitrags seitens des Arbeitgebers von der Krankenkasse bezahlt werden sollen. Den Verletzten, welche einer Hilfskasse angehören, sollen die Kosten des Heilverfahrens für die ersten 4 Wochen und die während dieser Zeit zu gewährende Rente von dem Arbeitgeber direkt vergütet werden. Der Regierungskommissar Geh. Oberregierungsrat Lohmann erklärte, daß die verbündeten Regierungen nicht auf den 13 Wochen bestehen wollten, daß sie nur an dem Prinzip festhielten, daß die Krankenkassen, denen ja reichliche Entschädigung in den Drittel-Beiträgen der Arbeitgeber gewährt würde, wenigstens teilweise zu den Lasten der Unfallversicherung beizutragen hätten. Von dem Abg. Frhr. v. Hertling3 wurde der Antrag überreicht, den § 5 folgendermaßen zu fassen: “Der Schadener-

[ Druckseite 283 ]

satz soll im Falle der Verletzung bestehen: 1. in den Kosten des Heilverfahrens (ohne Karenzzeit), 2. in einer dem Verletzten vom Beginn der 5. Woche nach Eintritt des Unfalls an für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden Rente. Auf die zu gewährende Rente ist vom Beginn der 5. bis zum Beginn der 15. Woche das Krankengeld in Anrechnung zu bringen, welches der Verletzte nach § 6 des Krankenversicherungsgesetzes erhält.” Dieser Antrag wurde von Geh. Oberregierungsrat Lohmann als Boden der Verständigung bezeichnet, aber von den Abg. Buhl, Hirsch und Paasche bekämpft, indem letzterer besonders darauf hinwies, was aus denen werden solle, die aus irgend einem Grunde zur Zeit des Unfalles keiner Krankenkasse angehörten. Abg. Hirsch betonte, daß die Bemessung der Entschädigung auf zwei Drittel des bisherigen Verdienstes die Arbeiter hinreichend in das Interesse hineinziehe, sich vor Unfällen zu schützen, so daß die vorbeugende Wirkung des Hertlingschen Antrages nicht erst durch Belastung der Krankenkassen herbeigeführt zu werden brauche. Geh. Rat Bödiker führte noch aus, daß nach der Regierungsvorlage bereits 13/15 der ganzen Unfallslast den Unternehmern verblieben, und nur 2/15 den Arbeitern aufgebürdet werden sollten4, was den liberalen Mitgliedern Veranlassung gab zu bemerken, daß, wenn es sich um so minimale Beträge handele, man um so weniger Bedenken zu tragen brauche, im Interesse des sozialen Friedens die ganze Last des Unfalls den Betriebsunternehmern aufzuerlegen. Die Sitzung ward dann ohne Abstimmung über die Anträge vertagt. Der Vorsitzende brachte noch den Antrag Rickert5 im Reichstage zur Sprache und teilte mit, daß er bei Beratung desselben im Plenum erklären werde, die Kommission habe demselben ohnehin bereits entsprochen, das Plenum sei aber nicht imstande, die Lage der Arbeiten in der Kommission zu übersehen.

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Rickert, Heinrich (1833─1902) Redakteur, Landesdirektor a.D., MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • 1ZfV, 7. Jg. 1883, S. 199─200, Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 170─177 Rs. »
  • 2Dr. Egidi Gutfleisch (1844─1914), Rechtsanwalt, seit 1881 MdR (Liberale Vereinigung). »
  • 3Prof. Dr. Georg Freiherr von Hertling (1843─1919), Philosoph, seit 1875 MdR (Zentrum); vgl. über ihn die Einleitung. »
  • 4Tonio Bödiker hat nach seinen Ausführungen eine Notiz zu Protokoll gegeben, nach der sich ein Verhältnis von 16/18 : 2/18 ergab (BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 176 Rs.). »
  • 5Heinrich Rickert (1833─1902), Redakteur, Landesdirektor a.D., seit 1870 MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung); der Antrag Rickert und Genossen, betreffend die weitere geschäftliche Behandlung des Unfallversicherungsgesetzes (Sten.Ber.RT, 5. LP, II. Sess. 1882/83, Bd. 6, Anl. Nr. 261) war in der Sitzung vom 1.5.1883 behandelt worden (ebd., Bd. 3, S. 2257 ff.). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 79, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0079

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.