II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 73

1882 November 26

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Schuldirektor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Lohmanns Facharbeiten sind von Prinzipien bestimmt, die aus geschichtsphilosophischen Auffassungen zur Rettung der Kultur vor einer sozialen Revolution herrühren, daraus folgen praktische Konsequenzen für die organisatorische Ausgestaltung der Unfallversicherungsvorlage]

[...] Was meine Facharbeiten anlangt, so ist es mir durchaus nicht überraschend, daß Du in meiner Stellung zu den Gesetzentwürfen ein Stück Doktrinarismus findest. Daß ich davon in gewissem Sinne nicht frei bin, weiß ich seit langem, nämlich in sofern, als ich mich nicht leicht entschließe, praktischen Bedürfnissen durch Maßregeln abzuhelfen, welche ich prinzipiell für falsch oder verwerflich halte. Inwieweit dies nun ein richtiger oder unrichtiger Standpunkt ist, hängt meines Erachtens lediglich von der Art ab, wie man seine Prinzipien gewinnt, und da ich mir schmeichle, dies wenigstens überwiegend nicht auf Doktrinaria, sondern (ich will

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mich mal etwas hochtrabend ausdrücken) auf geschichtsphilosophischem Wege zu tun, so sehe ich es als eine ganz naturgemäße Erfahrung an, daß ich in meiner praktischen Tätigkeit, so oft ich mich darauf einließ oder dazu genötigt wurde, bei der Lösung vorliegender gesetzgeberischer Aufgaben von der als richtig erkannten prinzipiellen Auffassung abzugehen, nach einiger Zeit immer wieder mich davon überzeugen mußte, daß diese Art “praktischer Politik” auf die Dauer nichts ausrichtet.

So steht die Sache auch im gegenwärtigen Falle. Nach meiner Überzeugung wird unsere auf der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Individuums beruhende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung durch die Bildung auf der Solidarität der Interessen beruhender Gemeinschaften (nenne man sie Genossenschaften, Korporationen oder wie sonst) ergänzt werden müssen, wenn wir nicht in einer sozialen Revolution unsere ganze Kultur aufs Spiel setzen wollen. Aber der Weg der Reformen ─ im Gegensatz zur Revolution ─ kann nicht der sein, daß man die bisher maßgebenden Kräfte zugunsten der wirksam zu machenden einfach zu ignorieren oder totzuschlagen versucht; das führt nur zur Reaktion und durch dieselbe umso gewisser zur Revolution. Man darf also die Forderungen, welche die fortschreitende Kultur an die Entwicklung der wirtschaftlichen Ordnung stellt, nicht dadurch erfüllen wollen, daß man ihre Erfüllung direkt zur Funktion von ad hoc dekretierten Genossenschaften macht, in welche man die einzelnen, um diese Dekrete wirksam zu machen, hineinzwingt, so daß die Zugehörigkeit zur Genossenschaft für den einzelnen in erster Linie die Quelle sonst nicht vorhandener Verpflichtungen wird; sondern man muß die zur Erfüllung jener Forderungen nötigen Leistungen zu einer Verpflichtung der einzelnen machen, diese aber so bemessen und konstruieren, daß der einzelne ein dringendes Interesse darin findet, die Verpflichtung nicht durch vereinzeltes Handeln zu erfüllen, sondern zu diesem Zwecke die gleichzeitig gesetzlich zu ermöglichende und zu regelnde Genossenschaft zu bilden bzw. ihr beizutreten. Nur auf diesem Wege wird man Individualismus und Sozialismus miteinander versöhnen, während man auf dem entgegengesetzten Wege beide miteinander in endlosen Kampf bringt, indem man die Sache so regelt, daß der einzelne dauernd das Interesse hat, sich der Genossenschaft und dadurch der Erfüllung der Verpflichtung zu entziehen: ein Interesse, zu dessen Bekämpfung man dann nur die Polizeimacht des Staates verwenden kann.

Und damit komme ich zu den unmittelbar praktischen Konsequenzen des falschen Prinzips in dem Unfallversicherungsgesetzentwurf. Weil nach dem zugrunde gelegten Prinzip die Bildung der Genossenschaften (und Verbände) nicht der Initiative des einzelnen überlassen werden kann, so muß das Gesetz (bzw. aufgrund des Gesetzes die Staatsbehörde) von vornherein die sachliche und örtliche Abgrenzung der Genossenschaften vornehmen, und zwar, da es ganz unmöglich ist, alle die verschiedenen Momente, welche für eine rationelle Abgrenzung maßgebend sind, im voraus zu übersehen, auf gut Glück. Man kann meines Erachtens schon jetzt an der Hand der ad hoc erhobenen und sehr unsichren Unfallstatistik sich überzeugen, daß die Einteilung in Gefahrenklassen, welche dem ganzen System zugrunde liegt, zu höchst unpraktischen Ergebnissen führen wird, ohne daß man doch imstande wäre, etwas Besseres an die Stelle zu setzen. Ebenso ist es mir nicht mehr zweifelhaft, daß von den “Betriebsgenossenschaften”, welche eigentlich allein von allen vorgesehenen Bildungen wirklich der Idee der Genossenschaft einigermaßen [ Druckseite 274 ] entsprechen würden, nur sehr wenige werden errichtet werden können, da die Fälle, in denen in einem oder in zwei benachbarten Bezirken von einem Industriezweige so viele Betriebe vorhanden sind als zu einer lebensfähigen Genossenschaft gehören, sehr selten sind. Die Betriebsverbände aber werden immer sehr anorganische Gebilde bleiben, weil sie bei der Disparität der Interessen der dazu Vereinigten zur Pflege genossenschaftlichen Lebens untauglich sind; zumal alle Ordnungen, welche zur Ausgleichung der disparaten Interessen erforderlich sind, weil der Verband auf direktem Zwang beruht, wieder von vornherein durch Gesetz oder staatliche Regelung geschaffen werden müssen, und damit dem Genossenschaftsleben das belebende Element, welches bei freiwillig gebildeten Genossenschaften gerade in der Notwendigkeit der Ausgleichung der Interessen liegen würde, entgeht. Es ist nicht ohne Grund, wenn von gegnerischer Seite behauptet ist, daß man auf dem Wege des Gesetzentwurfs nicht zu sich selbstverwaltenden Genossenschaften, sondern zu vom Staate verwalteten Gebilden gelangen würde.3

Du siehst einen Vorzug des Entwurfs darin, daß für alle der Zwang bleibt, einer Korporation beizutreten, daß aber möglichst frei bleibt, welcher; aber Du übersiehst dabei, daß diese letztere Freiheit bei der erstmaligen Bildung der Korporationen äqual Null ist. Das kann auch nicht anders sein, weil ein direkter Zwang nur durchführbar ist, wenn das, was erzwungen werden soll, von vornherein feststeht. Die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit aber, in der Zusammensetzung der Genossenschaften und Verbände auf Initiative der Beteiligten Abänderungen eintreten zu lassen, ist von solchen Weitläufigkeiten bedingt und so verklausuliert, daß sie praktisch nur geringen Wert hat. Für diesen Teil des Gesetzentwurfs paßt noch vollständig, was darüber in den anliegenden Bemerkungen gesagt ist, während der Inhalt der letzteren im übrigen nicht genau mehr zutrifft, weil der Gesetzentwurf inmittelst vielfache Veränderungen erlitten hat. Nichtsdestoweniger werden sie Dich doch vielleicht über manche praktischen Gesichtspunkte orientieren, und deshalb schicke ich sie mit, bitte aber um demnächstige Rücksendung. [...]

Registerinformationen

Personen

  • Crailsheim, Krafft Frhr. von (1841─1926) bayer. Außenminister
  • Lerchenfeld-Koefering, Hugo Graf von und zu (1843─1925) bayer. Gesandter in Berlin
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 161─163 Rs. »
  • 2Die ausgelassenen Abschnitte betreffen Kirchen- und Familienangelegenheiten. »
  • 3Vgl. Nr. 62. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 73, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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