II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 67

1882 Juli 2

Brief1 des Professors Dr. Lorenz von Stein an den Geheimen Oberregierungsrat Theodor Lohmann

Ausfertigung

[Ablehnung, von den internen Mitteilungen Theodor Lohmanns Gebrauch zu machen; wo individuelle Selbsthilfe möglich ist, darf der Staat nicht versorgend tätig werden]

Es war für mich eine wirkliche Freude, Ihren liebenswürdigen Brief zu empfangen, um so mehr als ich in der neuen Auflage meines “Gesundheitswesens” mehr als einmal in der Lage war, mich auf Ihre Auffassungen, namentlich über die Internationalität der Arbeitergesetzgebung zu berufen.2 Mit um so größerem Interesse habe ich nicht bloß Ihr für mich so wertvolles Schreiben sowie die Motive gelesen, die Sie mir zu senden so gütig waren. Ich muß bevormerken, daß ich von vornhinein Ihre Mitteilungen als rein private auffasse, und indem ich von denselben jeden wie immer gearteten Gebrauch endgültig mir versagen werde, glaube ich Ihren Intentionen nachzukommen.

Was nun den Inhalt der Sache betrifft, so habe ich mir, lange mit der Frage beschäftigt, allerdings meine Ansicht gebildet, und ich glaube nicht, daß wir in dieser Beziehung im wesentlichen dieselbe Grundlage anerkennen dürften. Da Sie mir die [ Druckseite 251 ] Ehre geben, mich um diese Auffassung zu fragen, so will ich versuchen, dieselbe hier so kurz als möglich zu schreiben. Es sind dabei zwei Punkte, in denen ich mit dem ganzen Gange dieser Entwicklung nicht ganz einverstanden sein kann. Der erste betrifft den Inhalt, oder wenn Sie wollen, das Prinzip der Vorlagen, der andere die Ausführung derselben. Was das Prinzip betrifft, so muß man davon ausgehen, wie ich meine, daß jene “Versorgungen” aller Art an und für sich nicht vom Staate auszugehen haben, sondern daß nach den obersten Grundsätzen der Verwaltungslehre der Staat auch hier wie in allen Dingen nur da und nur so weit einzugreifen hat, als der einzelne sich nicht selber durch eigene Kraft zu helfen imstande ist. Nun tritt offenbar der Ansatz in beiden vorliegenden Fällen in den Standpunkt ein, daß der Staat die Funktion des Individuums seinerseits in erster Linie übernehmen wolle, so daß die individuelle kapitalbildende Kraft dadurch in zweite Linie zurückgedrängt wird, und daher in meinen Augen die sehr große Gefahr entsteht, dem einzelnen die eigene persönliche Verantwortlichkeit, und damit die individuelle Kraft der Berechnung der Zukunft zu nehmen. Ich bin der Meinung, daß je mehr gerade hier der Staat auf dem gesetzgeberischen Wege tut, desto mehr der einzelne gefährdet wird; was doch am Ende die Lebensfähigkeit der Staaten so wie ihres Fortschrittes bedingt, die freie und sich selbst verantwortliche Kraft der Individualität, die in dem Grade überflüssiger wird, in welchem staatliche Maßregeln die Selbsttätigkeit darum überflüssig machen, damit der einzelne nicht darin leide, weil er die letztere nicht für seine Pflicht erkannt hat. Und aus diesen Gründen meine ich, daß die Grundlage solcher Gesetze das klare Bewußtsein von dem Verhältnis und der Verpflichtung der Funktion des eigenen Kapitals sein, und daher stets neben die [!] der Staatshilfe stehen sollte.

Was die Behandlung der Sache betrifft, so bin ich der unmaßgeblichen Meinung, daß es notwendig ist, neben demjenigen, was der Staat, respektive künftig noch für die “Enterbten” tun will, dasjenige aufgeführt werden sollte, was der Staat schon jetzt für die Hilfe der Arbeiter wirklich leistet. Leider fehlt uns, wie das niemand besser als Sie weiß, so gut als gar keine Staatsstatistik über das gesamte Hilfs- und Unterstützungswesen, so daß die Hunderte von Millionen, welche schon jetzt die besitzende Klasse der nicht besitzenden auszahlt, für das Bewußtsein der letzteren, und ebenso für das der Besitzenden überhaupt nicht vorhanden sind und die ganze Sache daher den Eindruck macht, als ob gerade jetzt erst und erst mit dem vorliegenden Gesetze und dem Tabakmonopol der Staat sich dieser Aufgabe bewußt geworden. Alle diese Gesetze sind in meinen Augen doch nur Teile des großen sozialen Verwaltungssystems, und würden vielleicht viele [die] Dinge anders sehen, wenn man jene Gesetze nicht auf das bisherige Piedestal erhoben hätte.

Doch Sie müssen mir verzeihen, daß ich Sie mit diesen subjektiven Ausführungen belästige. Gibt es bei Ihnen irgend eine kurze und übersichtliche Zusammenstellung der Gewerbegesetzgebung mit allen neuen Novellen? Ich möchte im obigen Sinne in den Ferien einige Bemerkungen auch über diese Gewerbegesetze schreiben; jedenfalls würden Sie mich durch Ihre gütige Nachweisung sehr verbinden.

Darf ich hoffen, daß die in so lieber Weise angeknüpfte Verbindung eine dauernde bleibt?

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Registerinformationen

Personen

  • Brentano, Prof. Dr. Lujo (1844─1931) Nationalökonom
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Stein, Prof. Dr. Lorenz von (1815─1890) Staatswissenschaftler
  • 1BArchP 90 Lo 2, Nr. 1, fol. 102─103 Rs. »
  • 2Das Gesundheitswesen, 2. Aufl., Stuttgart 1882, S. 35, 277 u. 280. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 67, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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