II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 66

1882 Juni 26

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an Professor Dr. Lorenz von Stein2

Ausfertigung

[Wunsch, daß die sozialpolitischen Ideen Bismarcks durch Lorenz von Stein einer öffentlichen Besprechnung unterzogen werden, interne Kritikpunkte werden aufgeführt]

Vielleicht erinnern Sie sich noch der Zusendung einiger aus der Verwaltung des Preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe hervorgegangenen Drucksachen, welche ich mich vor einigen Jahren zu machen beehrte.3 Die freundliche Aufnahme, welche dieselbe damals bei Ihnen fand, ermutigt mich, Ihnen auch die gegenwärtig dem Deutschen Reichstage vorliegenden sozialpolitischen Gesetzentwürfe zu übersenden, welche nach der mit Ende November ablaufenden Vertagung

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den wichtigsten Gegenstand unserer parlamentarischen Verhandlungen bilden werden. Ich mache kein Hehl daraus, daß ich dabei zum Teil von dem Wunsche geleitet werde, Sie möchten darin einen Anlaß finden, die legislatorischen Pläne des Reichskanzlers, welche darin niedergelegt sind, auch Ihrerseits einer öffentlichen Besprechung zu unterziehen. Wenn Sie überhaupt Zeit gehabt haben, die durch das Vorgehen des Reichskanzlers hervorgerufene Literatur4 zu verfolgen, so werden Sie wahrscheinlich mit mir der Ansicht sein, daß die Verwirrung und Unklarheit der einander entgegenstehenden Meinungen so groß wie möglich ist, und Sie werden dann verstehen, daß jemand, der mit diesen Dingen so nahe befaßt ist, eine wahre Sehnsucht hat, mal eine die Materie bis auf den Grund klärende und die Fragen, um deren Beantwortung es sich handelt, scharf präzisierende Darlegung zu erhalten, wie man sie aus Ihrer Feder zu erhalten gewohnt ist.

Obwohl mich ja ohne mein Zutun das Los getroffen hat, die sozialpolitischen Ideen des Reichskanzlers legislatorisch gestalten zu müssen, und ich mich demnach als den Verfasser sowohl des vorjährigen Entwurfs (mit der Reichsversicherungsanstalt) als auch der beiden beikommenden Entwürfe5 bekennen muß, so stehe ich zu denselben doch persönlich sehr kritisch und in wesentlichen Punkten geradezu ablehnend. Ich sehe namentlich in dem Grundgedanken des Reichskanzlers, die “Arbeiter” im Falle der Erwerbsunfähigkeit zu Pensionären des Staates zu machen, einen verhängnisvollen Irrtum und glaube, daß schon die bloße regierungsseitige Vertretung dieses Gedankens für unsere ganze sozialpolitische Entwicklung verderblich geworden ist, daß aber eine wirkliche Ausführung desselben unmöglich ist, und daher ein Versuch derselben uns in die bedenklichste Situation bringen würde.

Wenn der Reichskanzler den vorjährigen Entwurf selbst als unausführbar preisgegeben hat, so ist das hauptsächlich geschehen, weil er inmittelst die Idee der “Arbeiterversicherung auf der Grundlage korporativer Genossenschaften” in sich aufgenommen hatte und nun mit demselben Eifer verfolgte wie die frühere Idee der Staatsversicherung. Die legislatorische Gestaltung, welche diese Idee in dem Gesetzentwurf betreffend die Unfallversicherung gefunden, ist eine Arbeit, welche ich gegen mein entschieden abratendes Votum und ohne irgendwelche Vorarbeiten in kürzester Frist habe ausführen müssen, und von deren Mangelhaftigkeit ich selbst tiefer durchdrungen bin als sämtliche mir bisher zu Händen gekommenen Besprechungen. Ich bin noch gegenwärtig der Überzeugung, welche ich dem Reichskanzler bei der ersten und einzigen (!) Besprechung6 darüber ausgesprochen habe, daß es nämlich überhaupt unmöglich sei, eine derartige großartige genossenschaftliche Organisation auf gesetzlichem Wege und folglich mit den Mitteln polizeilichen Zwanges als eine lebensfähige ins Leben zu rufen.

Meine eigene Idee, welche ich schon längst bearbeitet hatte, ehe der Reichskanzler sich der sozialpolitischen Gesetzgebung annahm, ging dahin, die Haftpflicht der Arbeitgeber so zu verallgemeinern und zu verschärfen, daß die letzteren [ Druckseite 249 ] durch die drohende Entschädigungspflicht gezwungen wären, allgemein gegen Unfall zu versichern, und die Ausführung der Versicherung dadurch zu erleichtern und in die genossenschaftliche Bahn zu leiten, daß durch das Gesetz für den Fall der Eingehung einer vollständigen Versicherung durch den Arbeitgeber nicht nur limitierte Entschädigungssätze, sondern auch die Heranziehung der Arbeiter mit einem Maximalbeitrage (in Prozenten des Arbeitslohnes) zu den Kosten der Versicherung vorgesehen und für die Bildung von Unfallversicherungsgenossenschaften gesetzliche Normativbestimmungen erlassen würden. Also nicht ein direkter, sondern ein indirekter Versicherungszwang und Überlassung der Herstellung der zur rationellen Durchführung der Versicherung erforderlichen Organisationen an die Selbsttätigkeit der Beteiligten in den durch die Normativbestimmungen vorgezeichneten Bahnen.7

Diese Idee ist natürlich für denjenigen unannehmbar, welcher von der Auffassung befangen ist, daß man die sozialpolitische Entwicklung eines Volkes, ähnlich wie diejenige seiner Stellung nach außen, durch Verwendung von Machtmitteln mit einem Schlage auf eine vermeintlich höhere Stufe bringen könne. Eine Rückkehr zu derselben wird, wenn sie auch an maßgebender Stelle für das Richtige erkannt werden sollte, dadurch außerordentlich erschwert werden, daß im Laufe der öffentlichen Diskussion infolge des gegenseitigen Überbietens der Parteien und der Regierung in “Arbeiterfreundlichkeit” zwei meiner Überzeugung nach unrichtige Forderungen bereits von allen Seiten als berechtigt anerkannt sind: die unbedingte nicht bloß rechtliche, sondern auch faktische Sicherstellung der Entschädigungsforderung des durch Unfall geschädigten Arbeiters und die Nichtheranziehung des Arbeiters zu Versicherungsbeiträgen. Die Befriedigung der ersteren Forderung bedingt ein starkes Eingreifen des Staates in die Organisation und Verwaltung der Versicherungsveranstaltungen, die Befriedigung der zweiten nimmt dem zu regelnden Verhältnis gerade dasjenige Element, wodurch es zu einer fruchtbaren Grundlage für entwicklungsfähige Arbeitgeber und Arbeiter auf dem Boden der Interessengemeinschaft verbindende Organisationen werden könnte.8

Ganz anders steht es in dieser Beziehung mit der Krankenversicherungsvorlage, welche vom Reichskanzler eigentlich nur aus Not (zur Deckung der 13wöchigen sogenannten Karenzzeit) zugelassen ist und wegen der dabei unvermeidlichen Beitragspflicht der Arbeiter von ihm fast als ein “untergeschobenes Kind” angesehen wird.9 Die Krankenversicherung kann meines Erachtens nur durch Einführung direkten Zwanges hergestellt werden. Meine frühere Abneigung gegen den Versicherungszwang überhaupt habe ich fallen lassen, seitdem ich bei dem Studium von Brentanos Schrift über die “Arbeiterversicherung”10 mich überzeugt habe, daß das auch nach Brentano als notwendig zu erstrebende Ziel, die Versicherungsbeiträge allgemein zu einem Bestandteile des Arbeitslohnes zu machen, auf keinem anderen [ Druckseite 250 ] Wege jemals erreicht werden wird. Die mit dem direkten Versicherungszwange gegebene Notwendigkeit, auch die Organisation der Versicherung gesetzlich zu regeln, stößt bei der Krankenversicherung, welche lokal enger begrenzte Veranstaltungen zuläßt und fordert, nicht, wie bei der Unfallversicherung, auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Ich halte den Gesetzentwurf über die Krankenversicherung für verbesserungsbedürftig, aber auch fähig, und für durchführbar.

Entschuldigen Sie, verehrter Herr Professor, wenn ich der Versuchung nicht habe widerstehen können, wenigstens auf einige Punkte, welche bei dieser ungemein schwierigen Materie in Betracht kommen, etwas näher einzugehen. Ich wiederhole, daß es mir von allergrößtem Werte sein würde, wenigstens über die Hauptfragen Ihre Meinung kennenzulernen. Indessen weiß ich sehr wohl, daß es wesentlich von dem gegenwärtigen Stande Ihrer wissenschaftlichen Arbeiten abhängen wird, ob Sie imstande sein werden, diesen Fragen Ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ich enthalte mich daher auch, eine direkte Bitte an Sie zu richten. ─ Ihren neuesten Aufsatz in Schmollers Jahrbüchern11 habe ich mit Interesse und Befriedigung gelesen.

Registerinformationen

Personen

  • Brentano, Prof. Dr. Lujo (1844─1931) Nationalökonom
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Stein, Prof. Dr. Lorenz von (1815─1890) Staatswissenschaftler
  • 1Schlesw.-Holst. Landesbibliothek Kiel, Nachl. L. v. Stein Cb 102.4.02:05. »
  • 2Dr. Lorenz von Stein (1815─1890), Staatswissenschaftler, seit 1855 Professor für politische Ökonomie in Wien. »
  • 3Brief Lohmanns an Lorenz von Stein vom 30.9.1878 (ebd.); vgl. den Abdruck in Bd. 3 (Arbeiterschutz) der 1. Abteilung dieser Quellensammlung (1995). »
  • 4Vgl. dazu August Miaskowski, Zur Geschichte und Literatur des Arbeiterversicherungswesens in Deutschland, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 38, 1882, S. 474 ff. »
  • 5Im Hinblick auf die zweite Unfallversicherungsvorlage gilt das nur begrenzt, vgl. Nr. 57. »
  • 6Vgl. Nr. 26. »
  • 7Vgl. dazu Nr. 11 und Bd. 2 der 1. Abt. dieser Quellensammlung (1993). »
  • 8Anspielung auf Nr. 37. »
  • 9Vgl. Nr. 65 und die Einleitung. »
  • 10Der Arbeiterversicherungszwang, seine Voraussetzungen und seine Folgen, Berlin 1881. Brentano hatte allerdings den Versicherungszwang nur zugunsten bzw. im Rahmen von Gewerkvereinskassen befürwortet, nicht zugunsten einer gesetzlichen Krankenversicherung, die Gewerkvereinskassen nur substitutiv vorsah. »
  • 11Einige Bemerkungen über das internationale Verwaltungsrecht, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, Bd. 6, 1882, S. 395 ff. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 66, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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