II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 52

1882 April 11 und 12

Kölnische Zeitung1 Nr. 100 und 101 Die Unfallversicherung im preußischen Volkswirtschaftsrate

Teildruck

[Information über den Verlauf der Verhandlungen und dabei aufgetretene Fraktionierungen; die Majorität im preußischen Volkswirtschaftsrat folgte dem falschen (öffentlich-rechtlichen) Rechtsprinzip, infolgedessen wird der Sozialdemokratie in die Hände gearbeitet, Darstellung weiterer Kontroversen]

Eine Frühjahrssession des Reichstags soll in den letzten Tagen dieses Monats wirklich eröffnet werden, und der preußische Volkswirtschaftsrat, der während der zweiten Hälfte des Monats März neben dem Landtage gesessen, hat schon eine ganze Reihe von volkswirtschaftlichen Entwürfen des Reichskanzleramts für diesen Reichstag vorberaten. Alle die andern Entwürfe sind von untergeordneter Bedeutung im Vergleich mit dem über die Unfallversicherung2 und dem über das Tabakmonopol. Noch läßt sich hoffen, daß vor dem letzteren der Reichstag durch den Bundesrat geschützt werden wird; in betreff der Unfallversicherung aber läßt sich das so wenig wünschen wie erwarten. Alle Parteien, alle Meinungen im Lande stimmen überein in dem Wunsche und wohl auch in der Hoffnung, daß diese wichtige soziale Aufgabe endlich nach den mehrjährigen Vorarbeiten und Streitverhandlungen gelöst, mindestens wesentlich gefördert und einer gesunden Lösung näher geführt werden, daß mindestens eine Verständigung über das maßgebende Prinzip und über die Grundzüge seiner praktischen Verwirklichung erreicht werden möge.

Leider hat die Vorberatung im Volkswirtschaftsrat zur Verstärkung dieser Hoffnung nur wenig geleistet. Der Volkswirtschaftsrat hat ─ mit der bereits bekannten Schwenkung des Fürsten Bismarck in Übereinstimmung ─ die früher geplante bürokratische Organisation einer “zentralisierten Staatsversicherung” als durchaus unpraktisch diesmal völlig beiseite liegen lassen und für eine berufsgenossenschaftliche Organisation sich entschieden. “Es ist”, wie der Referent Baare (Bochum) am 29. März in der elften Sitzung des permanenten Ausschusses rühmte, “gelungen, bis auf zwei allerdings wesentliche Punkte ─ den Reichszuschuß und die Beitragsleistung der Arbeiter zu den Versicherungsbeiträgen ─, nach angestrengter Arbeit einen Kompromiß zwischen den verschiedenen voneinander oft erheblich abweichenden Ansichten zustande zu bringen.” Ein “Kompromiß” aber über Einzelheiten, bei welchen die wesentlichsten und eigentlich maßgebenden Punkte streitig geblieben sind, hat für die praktische Lösung der Aufgabe nur einen geringen Wert. Wir haben [ Druckseite 199 ] die Protokolle der Beratungen im Reichs- und Staatsanzeiger vor uns. Danach unterscheiden wir zwei ziemlich beständige Parteigruppen, deren eine, meistens unter Führung der Herren Kalle3 (Wiesbaden), Heimendahl (Krefeld), Leyendecker4 und Mevissen5 (Köln), fast durchgängig mit den von uns an dieser Stelle und vom “Mitteldeutschen [recte: Mittelrheinischen] Fabrikantenverein” bisher vertretenen Auffassungen übereinstimmt, während die andere ─ um Baare (Bochum) und Wolf6 (Gladbach) gescharte ─ mehr von der Regierung unterstützt wurde und leider durchgängig die Mehrheit des Volkswirtschaftsrats auf ihrer Seite gehabt hat.7

Der Grundfehler der ganzen Beratung im Volkswirtschaftsrat war der, daß für ihn die verdienstvolle Arbeit der liberalen Fraktionen aus der jüngsten Herbstsession des Reichstags gar nicht vorhanden war, namentlich daß der Volkswirtschaftsrat sich über das dem Gesetze zugrundezulegende Rechtsprinzip Rechenschaft zu geben und Übereinstimmung herbeizuführen gar nicht einmal versucht hat. Solange man über das maßgebende Prinzip sich nicht verständigt hat, ist alle Übereinstimmung in den Folgerungen und bezüglich der Ausführungsorganisation nur willkürlich und zufällig. Mit Recht haben deshalb in der vorigen Herbstsession die liberalen Fraktionen das “Rechtsprinzip” bei ihren Beratungen durchaus vorangestellt und haben so wenigstens für dieses eine feste Übereinstimmung unter sich gewonnen, was freilich noch keineswegs ebenso für die Einzelheiten eines praktisch ausfuhrbaren Gesetzentwurfs der Fall war.

Der entscheidende Gegensatz der Rechtsprinzipien ist der: während die einen, zu welchen die Liberalen stehen, die Unfallversicherung aufbauen wollen aufgrund des bürgerlichen Rechts, auf Selbstversicherung und dem zivilistischen Haftpflichtprinzip, stehen die andern, zu welchen der Kanzler und die Mehrheit des Volkswirtschaftsrats sich gestellt haben, auf dem sozialistisch-staatsrechtlichen Prinzip der gesetzlichen Armenpflege. Unseresteils verkennen wir keineswegs die hohe Berechtigung [ Druckseite 200 ] des Grundsatzes der öffentlichen Armenpflege und halten dafür, daß die fortschreitende Ausbildung und Verbesserung der Einrichtungen der Armenpflege eine durchaus wesentliche Aufgabe jedes Volkes ist, das seinen Kulturstand heben und befestigen will. Aber jede Armenpflegeleistung muß unverbrüchlich festhalten an dem Maßstabe der national anerkannten “Notdurft”. Dieser Maßstab aber ist viel zu eng für die Leistungen, welche von einer gerechten Unfallversicherung allgemein gefordert werden, während doch die geforderte “Erweiterung der Leistungen der Unfallentschädigung” bei gleichzeitigem Festhalten des Rechtsprinzips der Armenpflege, wie der Kanzler und der Entwurf des Volkswirtschaftsrats das planen, unrettbar auf die abschüssige Bahn zur Sozialdemokratie, ja, schließlich in den völligen Kommunismus der “égalitaires” führen würde!

Die liberalen Fraktionen gingen für ihren Entwurf zur Unfallversicherung aus von der Überzeugung, daß derselbe erbaut werden müsse auf dem zivilistischen Rechtsprinzip der Haftpflicht.8 Die Mängel des Haftpflichtgesetzes vom 7. Juni 1871 bestehen einerseits darin, daß außer bei den in Eisenbahnbetrieben sich ereignenden Unglücksfallen den Betroffenen ein Anspruch auf Schadloshaltung nur dann zur Seite steht, wenn die Ursache allein auf ein Verschulden des Betriebsunternehmers zurückgeführt werden muß, und andererseits darin, daß der Entschädigungsanspruch nicht auf einen angemessenen Betrag des voraufgegangenen Verdienstes festgesetzt, sondern dessen Festsetzung dem Ermessen des Richters zu weit überlassen worden ist. Beide Mängel haben mit Notwendigkeit das Anrufen der richterlichen Entscheidung in den meisten Unglücksfällen zur Folge gehabt und dadurch zu vielen Mißständen, namentlich zur Verbitterung zwischen den Arbeitern und den Unternehmern Anlaß gegeben. Es sollte deshalb nunmehr festgehalten und zur Geltung gebracht werden, daß der Unternehmer zu einer besonders hohen Aufmerksamkeit in Bezug auf die Einrichtungen seines Betriebes, auf seine Maschinerien, auf die Auswahl seiner Werkführer und überhaupt aller Mitarbeiter verpflichtet bleibt, und auch durch eine erweisliche Mitschuld des Arbeiters von der Haftpflicht nicht völlig entbunden wird. Es muß geltend gemacht werden, daß “für den eingetretenen Unfall jeder haften soll, welcher aus Fahrlässigkeit zur Entstehung dieses Erfolges derart mitgewirkt hat, daß ohne seine Mitwirkung der Erfolg nicht eingetreten wäre. Er wird deshalb nicht dadurch straffrei, daß auch andern eine Fahrlässigkeit zur Last fällt, deren Hinzutreten den Erfolg erst ermöglicht hat”. (Erkenntnis des II. Strafsenats am Reichsgericht vom 25. Oktober 1881.9) Infolge dieser Anschauung sollte das Gesetz für jeden erlittenen Unfall, den der Arbeiter nicht nachweislich mit Absicht oder ganz ausschließlich durch eigne Verschuldung sich zugezogen hat, dem Arbeiter einen Entschädigungsanspruch zugestehen; aber nach Maßgabe der Mitschuld des Arbeiters würde der Arbeitgeber nur für einen Teil der vollen Schadloshaltung haften, für den andern allemal der mitschuldige Arbeiter selbst. Sofern es sich nun um die “Versicherung” dieser Schadloshaltungsanteile handeln soll, hat der Arbeitgeber und der Arbeiter jeder den ihm zur Last fallenden Anteil der vollen Schadloshaltung zu versichern. Nach der Anschauung des liberalen Entwurfs soll ein Zwang bestehen zur Sicherheitsstellung [ Druckseite 201 ] nur für den Arbeitgeber, nicht auch für den Arbeiter, der ja lediglich an sich selber schuldet. Es soll dem Arbeiter zunächst ganz freigestellt bleiben, seinen Anteil selber zu versichern oder auch im Falle des Unglücks diesen Anteil an dem Entschädigungsbetrage zu entbehren. Dies ist soweit durchaus folgerichtig entwickelt. Für einen “Zuschuß aus öffentlichen Mitteln” ist hier grundsätzlich nirgends Anlaß. Nur für jene Ausnahmefälle, wo die Entschädigung für den vom Unfall Betroffenen so klein würde, daß die Armenpflege ergänzend hinzutreten müßte, da würde man auch liberalerseits einem Zwange zu ergänzender Selbstversicherung der Arbeiter folgerichtigerweise nicht wohl widersprechen können. Soweit ist der liberale Grundgedanke völlig klar und durchsichtig. Nur bleibt behufs der praktischen Ausbildung im Gesetz es notwendig, ─ für die Verteilung der Entschädigungspflicht nach der Mitschuld eine maßgebende einfache Präsumtion gesetzlich festzustellen, wobei immer etwas gesetzgeberische Willkür und Entscheidung nach Zweckmäßigkeitsgründen unvermeidlich bleibt. Allein ist bei den Anträgen des Reichskanzleramts und des Volkswirtschaftsrats das weniger der Fall? Im Gegenteil! Hier fehlt überhaupt jeder andere grundsätzliche Rechtsmaßstab neben dem alleinigen der vermeintlichen volkswirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und des beliebigen Gutfindens. Der Volkswirtschaftsrat beriet eingehend über die Verteilung der “Beitragspflicht”, für welche ihn folgende Anträge vorlagen: 1) Neubauer10: Die Unternehmer tragen die Beitragspflicht, das Reich die Verwaltungskosten. 2) Mevissen: Die Unternehmer zahlen 80, das Reich 20 %. 3) v. Landsberg11: Die Unternehmer 70, die Arbeiter 20, das Reich 10 %. 4) Baare: Die Unternehmer 60, die Arbeiter 10, das Reich 30 %. 5) Graf Henckel12: Die Unternehmer zwei Drittel, das Reich und die Arbeiter zusammen ein Drittel. Sämtliche Anträge wurden abgelehnt und mit 16 gegen 6 Stimmen die Regierungsvorlage angenommen, wonach die Unternehmer zwei Drittel, das Reich ein Drittel leisten. Für alle diese Verteilungsmaßstäbe fehlt jedes Rechtsprinzip; es wird die Berufung auf ein solches auch nicht einmal versucht. Unantastbar bleibt allen gegenüber der volkswirtschaftliche Grundsatz bestehen, daß die Unfälle und Unfallentschädigungen zu den Produktionskosten gehören und in den Preisen der Produkte oder Leistungen ihre Bezahlung finden müssen, während jeder Zuschuß aus Steuern die Wirtschaft und die Preise in Verwirrung bringen müßten. Dieser Grundsatz ist vor allem festzuhalten!

Die nähere Feststellung der Entschädigungsverteilung mag man den Erwägungen des bevorstehenden Reichstags getrost überlassen; von grundsätzlicher Bedeutung ist für uns und unsere Freunde nur die Ausschließung des vom Kanzler geforderten durchgängigen Reichsbeitrags von einem Drittel der Entschädigung oder der Versicherungsprämie aus den Steuern. Einen andern Rechtsgrund von Staats- oder Reichsbeiträgen als den der Armenpflegepflicht dürfen wir nimmer anerkennen, und dieser läßt sich jedenfalls nur bei jenen Ausnahmefällen anrufen, wo der Betrag der von den Unternehmern zu leistenden Entschädigung die armenrechtlich [ Druckseite 202 ] anerkannte “Notdurft” nicht deckt und ein Zwang zu einer ergänzenden Selbstversicherung der Niedrigkeit des Arbeitseinkommens halber für unzulässig erkannt wird. Will das Reichskanzleramt das Arbeitseinkommen von 750 M für so niedrig erklären, daß von ihm eine Prämienzahlung zur notwendigen ergänzenden Versicherung nicht mehr erhoben werden kann, so möchte man für diese Fälle einen Staatszuschuß allenfalls vorübergehend zulassen wollen. Sobald aber über diesen Maßstab grundsätzlich hinausgegangen wird, reißt man jede feste Scheidewand des heutigen Kulturstaats gegen den phantastischen Staat der Sozialdemokratie völlig ein, und es gibt nirgends noch einen grundsätzlichen Halt gegen den letztern!

Nach solchen Feststellungen über das grundlegende Rechtsprinzip13 erhebt sich nun die weitere Frage ─ nach den Grundzügen der Gestalt der auf demselben zu erbauenden Versicherungsanstalten. Davon morgen.

[II. Teil]

Die im preußischen Volkswirtschaftsrate gutgeheißenen Grundzüge der Gestalt der Unfallversicherungseinrichtungen sind im wesentlichen folgende: Es werden verschiedene Betriebsgefahrenklassen vom Bundesrate für das ganze Reich in der Weise gebildet, daß aufgrund der Unfallstatistik die Betriebe mit gleicher Betriebsgefahr zu einer Klasse vereinigt werden. Es werden Unfallversicherungsverbände nach geographischen Bezirken gebildet, welche alle Betriebe derselben umfassen. Jeder Betrieb wird dann von den Verbandsorganen der betreffenden Betriebsklasse überwiesen. Die Entschädigungen werden im ersten Jahre für Rechnung der Versicherungsverbände, nach Ablauf dieses Jahres für Rechnung der betreffenden Be-

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triebsklasse gezahlt, und zwar durch die Postanstalten. Die Feststellung der Entschädigung erfolgt durch die Verbandsorgane unter Vorbehalt des Rekurses an die Zentralinstanz. Über die festgestellten Entschädigungsansprüche wird von den Verbandsorganen der zuständigen Postanstalt eine Zahlungsanweisung übermittelt, welche Anstellungstermin und Höhe der zu zahlenden Entschädigung enthält. Halbjährlich haben die Verbände an die Reichszentralinstanz eine Nachweisung einzureichen über die Höhe der in ihrem Bezirke verdienten, zur Anrechnung bei der Entschädigungsfeststellung berechtigten Löhne und Gehälter. Gleichzeitig liefern die Postanstalten an die Reichszentralinstanz zwei Nachweisungen: die eine über die für Rechnung der Versicherungsverbände im Berichtshalbjahre gezahlten Entschädigungen überhaupt; die andere spezialisiert die gezahlten Entschädigungen nach den Betriebsklassen. Aufgrund dieses Materials stellt die Reichszentralinstanz fest, wieviel Pfennige auf die Mark des verdienten Lohnes jede Betriebsklasse an Versicherungsbeiträgen zu zahlen hat. Aufgrund der von ihnen aufgestellten Lohntabellen und des von der Zentralinstanz publizierten Tarifs stellen die Verbandsorgane für jedes ihrer Mitglieder den schuldigen Semestralbeitrag fest, erheben denselben und fuhren ihn an die Postanstalten ab usw. Es genügt das, um den Grundgedanken zu erkennen; die Einzelheiten der Gliederung und der Geschäftsführung lassen sich aus so kurzen Andeutungen ohnehin nicht genügend verstehen. Um diese mit Verständnis erörtern zu können, wird die Presse wohl die etwa zu erwartenden Vorberatungen in der nächsten Reichstagskommission abzuwarten haben. Der offenbare Grundgedanke ist der der “obligatorischen Berufsgenossenschaften”. Als Verpflichtungsgrund für die Arbeitgeber scheint nicht sowohl die zivilistische Haftpflicht als vielmehr die sozialpolitische Solidarität gedacht, und die gemeinsamen Kassen überhaupt fast mehr als “gewerbliche Hilfskassen”, denn als eigentliche Versicherungskassen. An Normen der Haftpflicht erinnert vornehmlich nur die vorgeschriebene Maßgabe, daß den vom Unfall Betroffenen die Schadloshaltung teilweise oder ganz versagt werden kann, “wenn derselbe durch sein eigenes grobes Verschulden den Unfall selbst herbeigeführt oder die Verletzung sich entweder vorsätzlich selbst zugefügt oder durch einen andern mit Vorbedacht hat zufügen lassen. Indem die liberalen Fraktionen in der vorigen Reichstagssession im Gegenteil den Rechtsgrund der Haftpflicht zur Grundlage der ganzen Einrichtung annahmen, kommen sie in erster Linie nur auf freie Genossenschaften, wollen selbst Versicherungsgesellschaften auf Aktien nicht unbedingt ausschließen und möchten Zwangsgenossenschaften und Staats- oder Reichsanstalten ─ nur subsidiär zulassen. Dieser Gegensatz der Gestaltung ist bedeutend und durchgreifend, ist maßgebend für die meisten und wichtigsten Einzelstreitfragen, wie eine kurze Erörterung der wichtigsten Streitpunkte alsbald erkennen lassen wird.

Die wichtigsten noch ungelösten Streitfragen beziehen sich auf 1) Art und Umfang des Versicherungszwanges und 2) Art und Normativbedingungen der zuzulassenden Versicherungsanstalten.

Darin stimmen alle bisher hervorgetretenen Meinungen überein, daß die Betriebsunternehmer allerdings verpflichtet sein sollen, für ihren Anteil an der Schadloshaltung, in welcher Höhe derselbe auch immer durch das Gesetz bestimmt werden möge, eine “vorschriftsmäßige Sicherheit” zu bestellen. Über die Art und Weise, in welcher diese Sicherheitsbestellung erfolgen muß, soll schließlich das [ Druckseite 204 ] Gesetz alle nötigen Bestimmungen treffen, kann aber vielleicht vorläufig ein gewisser Spielraum den Verordnungen des Bundesrats überlassen werden. Dagegen gehen die Meinungen noch immer auseinander in Bezug auf die Frage, ─ ob und wie weit die ergänzende Selbstversicherung der Arbeiter ebenfalls obligatorisch gemacht werden soll. Bei den liberalen Fraktionen, besonders den weiter linksstehenden, herrscht eine entschiedene Abneigung gegen jeden Versicherungszwang wider die Arbeiter. Der Kanzler sträubt sich gleichfalls gegen jeden solchen Zwang, der jedenfalls in den Arbeiterkreisen noch überwiegend unpopulär ist. Anderseits forderten hervorragende Männer im Volkswirtschaftsrat, namentlich auch der Referent, Herr Baare (Bochum), entschieden die obligatorische “Beitrags-” und also wohl auch Versicherungspflicht der Arbeiter, und zwar einesteils, damit der erforderliche Beitrag der Unternehmer nicht zu erdrückend schwer werde, und andernteils, damit die Arbeiter dadurch moralisch gehoben und zur rechten Mitwirkung bei den erforderlichen schiedsrichterlichen oder genossenschaftlichen Entscheidungen über die Entschädigungsbemessung für konkrete Unfallfälle befähigt werden. Der erste dieser Gründe kann nicht allgemein zugegeben werden. Bei den höhern Stufen des Lohneinkommens trägt der Arbeiter die Folgen seiner Nichtversicherung selber in dem Ausfall, den er an dem Entschädigungsbetrage zu erleiden hat; der Unternehmer trägt in jedem Falle nur den ihm gesetzlich zuerkannten Antreil von 2/3 oder etwa auch nur 1/2. Bei den niedrigsten Stufen des Lohneinkommens, z. B. etwa bei einem Einkommen von nicht über 750 M, würden 2/3 oder 1/2 vielleicht nicht einmal überall jene “Notdurft” völlig decken, welche einen Anspruch auf Beihilfe durch die Armenpflege hätte. Für solche Fälle würde der Zwang zu einer ergänzenden Selbstversicherung des Arbeiters sich rechtfertigen lassen. Würde dies abgelehnt, weil von 750 M nichts abgezogen werden könne, so würde dann grundsätzlich nichts übrig bleiben, als nach eingetretenem Unfall die Entschädigungsrente aus Armenpflegemitteln bis zu einem gesetzlich normierten Mindestbetrage zu ergänzen. Der andere Grund würde nicht grade zu allgemeiner Zwangsversicherung für die Arbeiter führen müssen, sondern etwa nur dazu, die freiwillige ergänzende Selbstversicherung zu gesetzlicher Wählbarkeitsbedingung für die Arbeitermitglieder der Unfallschiedsgerichte zu machen. Von der fortschreitenden Bildung und Lebenshaltung der Arbeiter würde man hoffen dürfen, daß die ergänzende Selbstversicherung mit der Zeit durchaus populär und ziemlich allgemein werden würde.

Nicht minder als um den Reichszuschuß und um die Beitragspflicht der Arbeiter wird noch immer lebhaft gestritten um die Errichtung und die Zulassung geeigneter Versicherungsanstalten. Der Reichskanzler ist von seinem ersten Plane, der Errichtung einer bürokratisch eingerichteten zentralisierten Reichsversicherungsanstalt, gänzlich zurückgekommen; aber an der Abweisung verschiedener konkurrierender Versicherungsanstalten und vor allem an der Abweisung jedes Mitbewerbs von Aktiengesellschaften scheint noch immer festgehalten zu werden. Die Liberalen, auch die gemäßigteren, bleiben dabei stehen, und namentlich Herr Kalle hat ihre Auffassung noch im Volkswirtschaftsrat (am 25. März) lebhaft verteidigt, daß die von der Mehrheit geplanten korporativen Verbände als von oben herab organisierte Zwangsgenossenschaften ihren Zweck nur sehr unvollkommen würden erreichen können. Die Zuteilung der Betriebe an verschiedene “Gefahrenklassen” kann [ Druckseite 205 ] für eine gerechte Abmessung der Risiken, die bei ganz gleichartigen Betrieben je nach der Tüchtigkeit der Unternehmer und ihrer Betriebsbeamten immer doch gar sehr verschieden sind, und für die so wünschenswerte Einwirkung auf Verminderung der Unfälle niemals das leisten, was der Miterwerb verschiedener Versicherungsanstalten ganz sicher und gleichsam ganz von selber leistet. Deshalb streiten die Liberalen dafür, daß auch Aktiengesellschaften und vor allem freie Genossenschaften auf Gegenseitigkeit zu vollgültigen Unfallversicherungen in freiem Mitbewerb zugelassen werden, unter der Bedingung, daß sie den reichsgesetzlich vorzuschreibenden Normativbedingungen (rücksichtlich der aufzustellenden Schiedsgerichte, der zu bestellenden Sicherheit usw.) sich genau unterwerfen. Aus dem für die Unternehmer bestehenden Zwange zur genügenden Versicherung ergibt sich dann freilich noch immer die Notwendigkeit, daß eine Kasse oder Anstalt geschaffen werde, bei der die Betreffenden unter allen Umständen in der Lage sind, ihrer Versicherungspflicht zu genügen. Hierfür möchte es vielleicht der einfachste Weg sein, alle jene Unternehmungen, welche ihrer Versicherungspflicht nicht freiwillig bei einer andern zugelassenen Kasse genügt haben, einer subsidiären Zwangsgenossenschaft zu gegenseitiger Versicherung zuzuweisen, aus welcher sie der voraussichtlich höhern Prämien halber möglichst bald in andere Anstalten überzugehen sich bemühen würden. ─ Zu den notwendigsten Normativbedingungen für alle Unfallversicherungsanstalten würde es gehören, daß das Gesetz, wie namentlich auch der Abgeordnete Mevissen (Köln) im Volkswirtschaftsrat mit Nachdruck forderte, jenes System der Sicherstellung vorschreibe, “nach welchem jedesmal die im abgelaufenen Halbjahre entstandenen Entschädigungsansprüche sogleich volle Deckung” zu finden haben, d. h. durch Hinterlegung derjenigen Summen, “welche erforderlich sind, um neben den einmaligen Leistungen auch die aufgrund der Entschädigungsansprüche zu leistenden fortlaufenden Renten bis zu ihrem Erlöschen zahlen zu können”. Die Annahme dieser Kapitalien und die Übernahme der entsprechenden Rentenverpflichtungen würde wohl unbedenklich unter Reichsverwaltung gestellt werden. Es würde allerdings der baldige Anfang des großen Werks sehr erleichtert werden, wenn man sich begnügen wollte, nur die Deckung für die jährlich fälligen Rentenzahlungen jährlich zu erheben; aber ein solches System würde aus dem leichten Anfang bald zum desto schwereren Fortgang, d. h. zu einer leichtsinnigen Entlastung der Gegenwart auf Kosten der Zukunft führen. Die infolge des geforderten soliden Systems in der Unfallrentenkasse des Reichs sich ansammelnden Kapitalbeträge würden ja nicht totliegen, sondern in wirtschaftlich werdender Weise der Industrie wieder zugeführt werden, wie das auch jetzt schon bei allen bisherigen Versicherungsanstalten mit den aufzusparenden Reservefonds regelmäßig der Fall ist.

In den hier nur flüchtig angedeuteten Wegen würde von dem großen Werke der Unfallversicherung jeder gefährliche sozialistische Charakter ferngehalten und ein heilsamer Mitbewerb unter den Versicherungsanstalten gewährt werden können. Bezüglich der Einzelheiten der Ausführung sollten die parlamentarischen Gruppen nicht eigensinnig sein; nur bezüglich der tiefsteingreifenden und folgereichsten praktischen Entscheidungen dürfen und müssen sie unbeugsam feststehen. Und falls man über die folgenreichsten der praktischen Entscheidungen sich einigen kann, sollte man über jene theoretischen maßgebenden Prinzipien, aus welchen [ Druckseite 206 ] man dieselben etwa gefolgert hat, lieber im Gesetze stillschweigend hinweggehen und rechthaberische Erhitzung vermeiden; indem es genügt, die richtigen Folgerungen aufgestellt zu haben und es dann den Rechtslehrern zu überlassen, behufs Auslegung und nötigenfalls auch Fortbildung der gesetzlichen Vorschriften den prinzipiellen Grund wissenschaftlich zu ermitteln. Möchte so die große Angelegenheit, deren Wichtigkeit und Unerläßlichkeit von allen Parteien ─ trotz aller fortdauernden Verschiedenheit der Meinungen über das “wie” ─ ganz einmütig anerkannt wird, vom Reichstage in seiner Frühjahrssession zum praktischen Abschluß gebracht oder mindestens wesentlich gefördert werden!

Registerinformationen

Personen

  • Baare, Louis (1821─1897) Generaldirektor des Bochumer Vereins, Mitglied des preuß. Volkswirtschaftsrats
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Henckel von Donnersmarck, Guido Graf (1830─1916) Industriemagnat, Mitglied des preuß. Volkswirtschaftsrats
  • Kalle, Fritz (1837─1915) Industrieller, MdR (nationalliberal)
  • Landsberg-Velen zu Steinfurth, Ignaz Frhr. von (1830─1915) Kammerherr, Landrat, MdR (Zentrum)
  • Leyendecker, Wilhelm (1816─1891) Industrieller
  • Mevissen, Gustav (1815─1899) Großindustrieller
  • Neubauer, August (1815─1900) Spediteur u. Zuckerhändler, Mitglied des preuß. Volkswirtschaftsrats
  • Wilhelm I. (1797─1888) Deutscher Kaiser und König von Preußen
  • Wolff, Friedrich (1825─1914) Textilindustrieller
  • 1Die Kölnische Zeitung war eine der führenden nationalliberalen Zeitungen. Sie erschien seit 1802 im Verlag Du Mont; Autor des Artikels war vermutlich Karl-Heinrich Brüggemann. »
  • 2Vgl. hierzu die Ausführungen Theodor Lohmanns im Volkswirtschaftsrat: Protokolle über die Sitzungen des Preußischen Volkswirtschaftsrats vom 28.2. bis zum 25.3.1882, Berlin 1882, S. 73─92, 207─222, 293─328; Teilabdruck auch bei: Heinrich von Poschinger, Bismarck und der Bundesrat, Bd. 5, Stuttgart u. Leipzig 1901, S. 58 ff. »
  • 3Fritz Kalle (1837─1915), Industrieller, Mitbegründer des mittelrheinischen Fabrikantenvereins, seit 1873 MdR (nationalliberal). »
  • 4Wilhelm Leyendecker (1816─1891), Industrieller, Gründer der Fa. Leyendecker & Co. in Ehrenfeld bei Köln. (Die Angabe Ernst Leyendecker in Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung, Nr. 202 Anm. 2, ist irrtümlich erfolgt.) »
  • 5Gustav Mevissen (1815─1899), Großindustrieller, seit 1866 MdHerrenhauses. »
  • 6Friedrich (Fritz) Wolff (1825─1914), Textilindustrieller, Teilhaber der Firma Wolff, Schlafhorst und Bruel in München-Gladbach, wie Baare Repräsentant des Cdl im Volkswirtschaftsrat; vgl. Nr. 47 Anm. 4. »
  • 7Am 30.4.1884 polemisierte die Norddt. Allgemeine Zeitung Nr. 201 gegen diese Darstellung mit einer Bemerkung aus angeblich “industriellen Sphären”: Die “Kölnische” in ihrer Nr. 100 angeblich aufgrund der ihr vorliegenden Protokolle des Volkswirtschaftsrats zwei Gruppen, wofür die “Kölnische” uns auch nicht den Schatten eines Beweises beibringen kann, und es ist namentlich unbegreiflich, wie die “Kölnische” die fast vollständig isolierte Stellung des Herr Kalle mit irgendeiner Gruppe auch nur annähernd, und wie sie ferner den Herrn Mevissen mit dem Herr Leyendecker irgendwie identifizieren und ihn von den Freunden der Vorlage trennen kann. Ist die “Kölnische” mit der zufalligen winzigen Majorität des Plenums des Volkswirtschaftsrats beim Tabakmonopol sehr zufrieden gewesen, und will sie dieser Majorität eine entscheidende Bedeutung beimessen, so ist wieder bei der Unfallversicherung für sie eine tatsächliche und große Majorität keinen Pfennig wert, weil sie, die “Kölnische”, resp. der betreffende Artikelschreiber eine andere Ansicht hat. »
  • 8Vgl. Nr. 37. »
  • 9Nicht ermittelt. »
  • 10August Neubauer (1815─1900), Magdeburger Spediteur u. Zuckerhändler, Kommerzienrat. »
  • 11Ignaz Freiherr von Landsberg-Steinfurth (1830─1915), Kammerherr, Landrat, seit 1871 MdR (Zentrum). »
  • 12Guido Graf Henckel von Donnersmarck (1830─1916), oberschlesischer Industriemagnat. »
  • 13Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung (Nr. 201 v. 30.4.1882) polemisierte folgendermaßen hiergegen: Die “Kölnische” steift sich bei dieser Frage jetzt noch auf das Rechtsprinzip, welches unserer Ansicht nach überhaupt neueren Datums und erst mit dem Haftpflichtgesetz für den kleineren Teil der Bevölkerung geschaffen, aber wunderlicherweise für den weit größeren Teil noch heute nicht als Recht gültig ist. Wo bleibt dabei überhaupt die Rechtsgleichheit, wenn ein Teil der Unternehmer für Unfälle seiner Beschäftigten aufkommen muß, als Dank, daß er dieselben regelmäßig beschäftigt und für ihre Existenz sorgt, während ein weit größerer Teil der Unternehmer für die Unfälle nicht haftbar ist und hierfür die Allgemeinheit eintreten muß, wozu auch wieder der erstere Teil mit beitragen muß. Der Gebrauch von Phrasen, daß man auf der abschüssigen Bahn zur Sozialdemokratie sei, ja schließlich beim völligen Kommunismus der “égalitaires” anlangen werde und als unantastbar allen gegenüber einen volkswirtschaftlichen Grundsatz proklamieren, daß die Unfälle und Unfallentschädigungen zu den Produktionskosten gehören und in den Preisen der Produkte oder Leistungen ihre Bezahlung finden müssen, ist der “Kölnischen” eigen, die es ja mit unbewiesenen Lehrmeinungen nicht sehr ernstlich nimmt. Unserer bescheidenen Meinung nach ist diese Lehrmeinung überhaupt selbst noch neueren Datums, und es läßt sich ihr mit größerem Rechte entgegenstellen, die Allgemeinheit sei für die Unfälle in der Produktion allein verantwortlich, denn für sie arbeitet der Arbeiter, und zwar für Kapital und Konsument ebenso, wie für den jeweiligen Unternehmer und für sich selbst! Und es ist die Allgemeinheit viel besser in Anspruch zu nehmen, weil sie auch den eigentlichen sozialen und wirtschaftlichen Vorteil davon hat, und weil sie viel leichter und richtiger in Anspruch genommen werden kann, als ein Teil derjenigen Unternehmer, welche unter das Gesetz fallen. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 52, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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