II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 51

1882 April 1

Bericht1 des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich von Boetticher an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Ausfertigung mit Randbemerkungen Bismarcks

[ Druckseite 196 ]

[Der Gesetzentwurf ist in Arbeit, dabei soll das Risiko zwischen lokalen Vereinigungen und reichsweiten Betriebsgefahrenklassen in einem prozentualen Verhältnis geteilt werden, die Arbeitsbelastung der Postverwaltung wird dadurch begrenzt sein, Informationen zur Entstehung des Konzepts der “Betriebsgefahrenklassen”]

Eure Durchlaucht haben mittels des Erlasses vom 27. März d. J.2 in Betreff der von dem Volkswirtschaftsrate zu den Grundzügen für die gesetzliche Regelung der Unfallversicherung der Arbeiter gefaßten Beschlüsse das Bedenken geäußert, daß der unter No. 6 auf Seite 5 der Zusammenstellung vermerkte Beschluß den Postanstalten eine Arbeit auferlege, deren Umfang und Verhältnis zu den Arbeitskräften jetzt nicht übersehbar sei.

Bei der gegenwärtig in Angriff genommenen Ausarbeitung des Gesetzentwurfs ist, soweit es sich um die Verteilung des Risikos der Unfallgefahr zwischen den das ganze Reich umfassenden Betriebsgefahrenklassen einerseits und den lokalen Genossenschaften und Verbänden andererseits handelt, aus praktischen Gründen eine Abweichung von den Beschlüssen des Volkswirtschaftsrats (No. 4 auf Seite 5 der Zusammenstellung) vorläufig in Aussicht genommen worden. Insofern Eure Durchlaucht nicht etwa anders bestimmen, besteht die Absicht, die Teilung des Risikos in der Weise vorzunehmen, daß die Gesamtsumme der innerhalb einer lokalen Vereinigung zu leistenden Entschädigungen nach Abzug des Reichszuschusses mit einer bestimmten Quote (etwa 15 bis 20 Pozent) für Rechnung der lokalen Vereinigung, mit dem Reste dagegen für Rechnung der durch das ganze Reich gehenden Betriebsgefahrenklasse aufgebracht werden soll.

Auf diesem Wege wird voraussichtlich eine stärkere Arbeitsbelastung der Postverwaltung, als sie in den Grundzügen der Regierungsvorlage und in dem von Eurer Durchlaucht in diesem Punkte nicht beanstandeten vorläufigen Gesetzentwurfe vorgesehen war, nicht eintreten.

Die Mitwirkung der Postverwaltung als Organ für die Auszahlung der Entschädigungsrenten bildet ein so wesentliches Glied der in Aussicht genommenen Regelung, daß der Verzicht 3 auf dieselbe erhebliche Abänderungen notwendig machen und damit die Ausarbeitung des Entwurfs verzögern würde.

Da nach der Eurer Durchlaucht vorliegenden Übersicht über die Ergebnisse der Unfallstatistik für den Umfang des Reiches im Laufe eines Jahres die Zahl der Unfälle mit tödlichem Ausgange auf 1986

mit nachfolgender dauernder Erwerbsunfähigkeit auf 1680

ermittelt, mithin die Zahl der daraus jährlich entstehenden Entschädigungsansprüche im ganzen auf 3666 oder rund auf etwa 4000 zu veranschlagen ist, so dürfte die Auszahlung und Verrechnung dieser sich auf das ganze Reich verteilenden Entschädigungsbeträge eine übermäßige Belastung der Arbeitskräfte der Postverwaltung voraussichtlich nicht zur Folge haben.4

Ich habe heute den Herrn Staatssekretär des Reichspostamts von der in Aussicht genommenen Heranziehung der Postverwaltung in Kenntnis gesetzt und denselben [ Druckseite 197 ] um Mitteilung derjenigen Bemerkungen ersucht, zu welchen diese Absicht ihm Anlaß geben möchte.

Auf die von Eurer Durchlaucht in dem Erlasse vom 27. März d. J. gestellte Frage, wer der Referent und Redakteur des Ausschußberichtes sei, beehre ich mich gehorsamst anzuzeigen, daß der Gedanke der Verteilung des Risikos der Unfallversicherung auf Betriebsgefahrenklassen des Reiches ursprünglich von einem, diesseits zu einer Beratung zugezogenen Versicherungstechniker Kleeberg5 angeregt worden ist. Der Vorschlag entsprach dem bei der Beratung der Grundzüge im Volkswirtschaftsrate hervorgetretenen Wunsche nach “Verlegung der Garantie der Unfallversicherung in die weitesten Kreise.”6 Er wurde daher unter der Hand einigen Mitgliedern des Volkswirtschaftsrats zugänglich gemacht, demnächst von dem Geheimen Kommerzienrat Heimendahl7 aufgenommen und unter dessen Namen als Antrag im permanenten Ausschusse des Volkswirtschaftsrats eingebracht. Die Beratung des Antrags in einer Kommission des permanenten Ausschusses, als deren Referent der Geheime Kommerzienrat Baare8 fungierte, hatte nach langwierigen Verhandlungen die durchgreifende Umgestaltung desselben zum Ergebnis. Die Form für diese Umgestaltung mußte in der Schlußsitzung der Kommission, welche tief in die Nacht hinein dauerte, gefunden werden und ist im wesentlichen durch die Hilfe des Geheimen Oberregierungsrats Lohmann zustande gekommen. Die von diesem in der Kommissionssitzung entworfene Formulierung ist im wesentlichen sowohl von dem permanenten Ausschusse wie demnächst auch vom Volkswirtschaftsrate unverändert angenommen worden.9

[ Druckseite 198 ]

Registerinformationen

Personen

  • Baare, Louis (1821─1897) Generaldirektor des Bochumer Vereins, Mitglied des preuß. Volkswirtschaftsrats
  • Brüggemann, Dr. Karl-Heinrich (1810─1887) Redakteur
  • Heimendahl, Alexander (1828─1890) Rentier, ehem. Textilindustrieller, Mitglied des preuß. Volkswirtschaftsrats
  • Kleeberg, Hermann (1840─1896) Versicherungsunternehmer
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 1─5 Rs., mit Geschäftsvermerk, mündlich erledigt 2.4; Entwurf von der Hand Magdeburgs mit Abänderungen von Bosse und Lohmann, BArchP 15.01 Nr. 382, fol. 236─238 Rs. »
  • 2Vgl. Nr. 48. »
  • 3B: nicht beabsichtigt; im Gegenteil »
  • 4B.: Generell nicht, aber in einzelnen Bezirken »
  • 5Hermann Kleeberg (1840─1896), Versicherungsunternehmer, gründete mehrere Versicherungsunternehmen, u.a. 1871 die Allgemeine Unfallversicherungsbank in Leipzig. ─ Seine Hinzuziehung als Berater ergibt sich aus den gedruckten Verhandlungsprotokollen nicht, Bismarck präferierte diesen Gedanken der (Betriebs-)Gefahrenklassen im übrigen schon vor den Sitzungen des Volkswirtschaftsrates, vgl. Nr. 27 Anm. 6 und Nr. 47 Anm. 8. »
  • 6Vgl.Nr. 47 Anm. 6. »
  • 7Alexander Heimendahl (1828─1890), Rentier, ehem. Textilindustrieller in Krefeld. Dieser legte in der 9. Sitzung des permanenten Ausschusses einen umfangreichen Organisationsplan vor (BArchP 15.01 Nr. 382, fol. 196─196 Rs., Protokolle, fol. 209─210), dessen 1. Punkt bestimmte: Es werden öffentliche Unfallversicherungsverbände je für den Umfang des Bezirks einer oder mehrerer höherer Verwaltungsbehörden (vielleicht Provinzen?) gebildet. Diese staatlichen Verbände umfassen sämtliche versicherungspflichtigen Betriebe. In diesem Sinne hatte sich auch Louis Baare (im übrigen auch Gegner der Zwangsgenossenschaften!) gegen die von der Regierung vorgelegten Grundzüge ausgesprochen: Die Bildung von Genossenschaften nach dem Maße der Unfallgefahr, ohne Rücksicht auf die innere Verwandtschaft der Industriezweige, halte ich, wenn es sich nicht um rein lokale Schöpfungen handelt, nicht für zweckmäßig. (ebd.) »
  • 8Louis Baare (1821─1897), Generaldirektor des Bochumer Vereins; vgl. zu diesem auch Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung (1993). »
  • 9B.: ich bin durchaus für die Mitwirkung der Post in dem beabsichtigten Sinne und habe nur auf die eventuell und sporadisch nötige Verstärkung der Kräfte aufmerksam gemacht. Gebühren kann die Post für ihre Leistungen nicht beziehen. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 51, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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