II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 50

1882 März 31

Erlaß1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck an den Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher

Ausfertigung

[Die Ergebnisse der Unfallstatistik sollen bereits zur Ausarbeitung der Motive für die Gesetzesvorlage beim Bundesrat genutzt werden. Die Gefährlichkeit der Betriebe ist weniger von den Produkten als von Produktionsprozeß und -technik abhängig; einige der mitgeteilten Ergebnisse sind nicht plausibel]

Das mit gef[älligem] Schreiben vom 28. d. M.2 erhaltene, sehr interessante Material remittiere ich hierbei mit verbindlichstem Danke. Wenn wir auch den vollen Gebrauch davon erst bei der Redaktion des Gesetzes und nicht schon bei Feststellung der Grundzüge werden machen können, so glaube ich, daß doch für die Motive, mit welchen wir die Vorlage der Grundzüge beim Bundesrat begleiten, eine ausgiebige Benutzung der gesammelten Daten sich empfehlen wird. Schon hierbei werden wir m. E. die Gruppen der Betriebe anders einteilen müssen als sie in der Anlage zusammengestellt sind. Die Einteilung der Gefahren- und Versicherungsklassen wird weniger von dem Gegenstande des Betriebes als von den Mitteln und Werkzeugen desselben abhängig sein.

Die Gefährlichkeit des Betriebes wird im großen und ganzen bedingt durch die Beschäftigung unter der Erde (Bergbau), durch die Verwendung von Maschinen mit elementarer Triebkraft, durch die explosive oder korrosive Natur der Fabrikate oder Hilfsmittel und durch die Gefahr des Fallens und Einstürzens bei Bauten. Der Gegenstand des Betriebs kommt dabei weniger in Betracht, die Quarzmühlen sind gefährlich als Mühlen, nicht als Vorbereitung zur Glaserzeugung, die Gefahr bei Reismühlen und Zuckerfabriken liegt nicht in der Rubrik der Nahrungsmittel, sondern der Mühlen und Maschinen. Ich bitte zu erwägen, ob es sich nicht empfiehlt, zunächst 4 oder 5 große Kategorien der Gefährlichkeit aufzustellen:

1. Bergbau

2. Maschinen, mit der Unterabteilung verschiedener Mühlenwerke,

3. Chemische Gifte im weiteren Sinne und Verbrennungen,

4. Bauten.

[ Druckseite 195 ]

Jede dieser allgemeinen Rubriken würde in eine beliebige Zahl von Unterabteilungen verschiedener Gefährlichkeit zerfallen, wobei ich immer nicht glaube, daß der Name und die Gattung der verarbeiteten oder erzeugten Gegenstände entscheidende Anhaltspunkte werden abgeben können. Vielleicht empfiehlt es sich, obige vier Hauptabteilungen und die Unterabteilungen derselben zunächst ganz mechanisch nach dem Durchschnitt ihrer Todesfälle, ihrer Invaliditäten und ihrer Krankheitstage, resp. nach dem Durchschnitt der durch alle drei verursachten Kostensumme auf eine bestimmte Kopfzahl zu ordnen und diese Klassifikation bei Motivierung der Vorlage an den Bundesrat zu benutzen. Es würde das nicht ausschließen, daß man das gesamte Material in der Gestalt wie es uns heute vorliegt, als Kontrolle und Ergänzung der Motive zur Kenntnis des Bundesrats bringt.

Ich habe angenommen, daß die Nachweisungen die Zahl aller unter das beabsichtigte Gesetz fallenden Betriebe umfassen und erschöpfen, bin aber durch einige Sätze hierüber zweifelhaft geworden. Sollte es z. B. im ganzen Reich nur 259 männliche und 220 weibliche Arbeiter für Jute geben? Sollte Tabak nicht mehr als 20 000 männliche und 27 000 weibliche Arbeiter beschäftigen? Sollte es in Preußen nur 25 Bäcker und Konditoren geben, die mit Maschinen arbeiten? Bei anderen Betrieben scheinen mir die Zahlen mit den Gesamtbetrieben im Reiche zu stimmen. Sind vielleicht für einige nur Probezählungen vorgenommen, ohne die Gesamtzahl der im Reiche vorhandenen Betriebsstätten zu erschöpfen?

Vorläufig würde ich hierüber um eine gefällige Äußerung bitten, möchte Ihnen aber das Material, da es in duplo vielleicht nicht vorhanden ist, dort wo es gebraucht wird, nicht länger vorenthalten. Zum vollem Verständnis desselben würde ich doch nur durch mündliche Orientierung gelangen können. Ich möchte vor allem die baldige Herstellung und Einbringung der bundesrätlichen Vorlage nicht aufhalten.3

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 15.01 Nr. 407, fol. 197─199 Rs., von der Hand des Grafen Wilhelm von Bismarck (aus Friedrichsruh), Abschrift: ebd. 07.01 Nr. 528, fol. 107─110. »
  • 2Vgl. Nr. 59. »
  • 3Aktennotiz Bödikers: Pro not(itia). Vorstehende Verfügung ist auf gebrochenem Bogen abgeschrieben worden; in marginé sind die erforderten Aufklärungen gegeben, und sodann ist das ganze von des Herrn Chefs Exzellenz zum mündlichen Vortrage bei Sr. Durchlaucht mit nach Friedrichsruh genommen. Bei der Abschrift dürfte es sich um die in Anm. 1 genannte handeln, die allerdings keine Randbemerkungen aufweist. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 50, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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