II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 48

1882 März 27

Erlaß1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck an den Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher

Ausfertigung

[Gegenüber den Beschlüssen des Volkswirtschaftsrats bestehen keine Bedenken, vor allem wird allein das Umlageverfahren befürwortet: Der Staat und seine Einrichtungen werden “als permanent identische Persönlichkeiten” gekennzeichnet. Auf baldige Vorlage des zweiten Entwurfs des Unfallversicherungsgesetzes beim Bundesrat und Reichstag wird gedrängt]

Euer Exzellenz gefälliges Schreiben von gestern2 habe ich erhalten. Ich habe in der Hauptsache gegen die Beschlüsse des Volkswirtschaftsrats keine Bedenken, zumal ich auf redaktionelle Wendungen im jetzigen Stadium noch keinen Wert zu legen brauche.

Auf Seite 5 [hier: 178] unter IV 3 der Beschlüsse würde ich sonst bei Zuweisung in die Klasse Mitwirkung oder Endentscheidung durch staatliche Behörden wünschen.

Nr. 4 ebendaselbst ist mir nach Zweck und Tragweite nicht klar, da ich Vorakten nicht zur Hand habe. Nr. 6 ebendort legt den Postanstalten eine Arbeit auf, deren Umfang und Verhältnis zu den Arbeitskräften jetzt nicht übersehbar ist. ─ Seite 7 [hier: S. 179] enthält, soweit ich prima facie urteilen kann, der Sache nach die Hauptgrundzüge, auf die ich in der Regierungsvorlage Wert lege. ─ Wird es auf Seite 9 bei Nr. 12 [hier S. 180] nicht besser sein, die Minimalgrenze der Betriebsklasse nach der Summe der versicherten Beträge anstatt nach der Zahl der Köpfe zu berechnen? oder nach einem aus beiden Gesichtspunkten kombinierten Maßstabe? Derselbe wird in beiden Fällen nicht für alle Gefahrenklassen, die höchste wie die niedrigste, konstant bleiben können. Mit der Resolution Seite 11 [hier: S. 181] bin ich einverstanden, sehe aber nicht ein, warum unter X und XI auch die mit dieser Resolution verträglichen Details ausfallen sollen.

In Übereinstimmung mit den Motiven der Resolution ziehe ich von den beiden Alternativen der Regierungsvorlage, Seite 14 [hier: S. 170 f., vgl. Nr. 44 Anm. 9], die erstere zweifellos vor. Die Gesamtleistung wird nach beiden Systemen dieselbe bleiben, soweit nicht die verfrühte Zahlung des Zukunftsbedarfs Diskonto- und Zinsverluste herbeiführt. Die später erst steigende Leistung ist nicht nur effektiv leichter zu tragen, sondern erleichtert die Annahme des Gesetzes. ─ Das Gewicht des Interessenunterschieds zwischen den gegenwärtig beteiligten und den mit ihnen nicht identischen künftigen Genossen vermag ich nicht anzuerkennen. Der Wechsel der Individuen ist irrelevant, und die fragliche Ungerechtigkeit findet auf alle staatlichen Einrichtungen Anwendung, bei denen Lasten bald der Gegenwart zum Vorteile [ Druckseite 183 ] der Zukunft, bald umgekehrt auferlegt werden. Der Staat und seine Einrichtungen sind nur möglich, wenn sie als permanent identische Persönlichkeiten gedacht werden.3

Wer ist der Referent und Redakteur des Ausschußberichts? Ungeachtet der Redaktion spricht mich der Kern seiner Denkungsweise an.4

Dringend wünschenswert ist Beschleunigung der Arbeit, vielleicht selbst auf Kosten ihrer Solidität, da doch die Fassung eines dauernden Gesetzes in diesem Stadium5 nicht erforderlich wird. Zur Vorlage im Bundesrate wird eine besonders ausführliche Motivierung nicht erforderlich sein, nachdem die Bundesrats- und Reichstagsverhandlungen des vorigen Jahres und die Gesamtelaborate des Volkswirtschaftsrats, die ich allen Regierungen soweit es noch nicht geschehen, mitzuteilen bitte, ein mehr als ausreichendes Material zum Verständnis und zur Begründung der Vorlage darbieten.

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Eck, Paul (1822─1889) Direktor im Reichskanzleramt
  • 1BArchP 15.01 Nr. 382, fol. 224─225 Rs, von der Hand des Grafen Wilhelm von Bismarck; Geschäftsvermerke von Boetticher: Herrn Geh. R. Magdeburg, Herr Geh. R. Lohmann z. gef(älligen) Vortr(ag). Abschrift: ebd. 07.01 Nr. 508, fol. 321─323 Rs. »
  • 2Vgl. Nr. 47. »
  • 3Vgl. Nr. 44 Anm. 9. »
  • 4Vgl. dazu Nr. 51. »
  • 5Von Boetticher verließ nunmehr die Form der “Grundzüge” und betrieb mit Hilfe des Referenten Eduard Magdeburg die Anfertigung einer weiteren Fassung des Gesetzentwurfs (Zweitfassung gegenüber der Lohmannschen Erstfassung vom 5.12.1881, vgl. Nr. 27 u. 57), die bereits am 15.4.1882 vorlag. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 48, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0048

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