II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 45

1882 März 10

Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 171

Teildruck

[Kritik am Verfahren der privaten Unfallversicherungen im Schadensfall]

Wir haben leider schon oftmals Anlaß gefunden, auf die unerträgliche Lage der durch Unfälle erwerbsunfähig gewordenen Arbeiter hinzuweisen, die selbst, wenn sie dem Namen nach bei einer Versicherungsgesellschaft gegen Unfälle versichert waren, doch nicht zu ihrer ihnen rechtmäßigen zustehenden Unterstützung gelangen können, weil die betreffende Versicherungsgesellschaft sich weigert ─ oft unter den nichtigsten Vorwänden ─, der Verpflichtung zum Schadenersatz nachzukommen.1 In solchem Falle bleibt dem invaliden und erwerblos gewordenen Arbeiter nichts anderes übrig, als einen langwierigen und mit großen Auslagen verbundenen Prozeß gegen die renitente Versicherungsgesellschaft anzustrengen, der im besten Falle damit endigt, daß nach Ablauf mehrerer Jahre die Gesellschaft zur Zahlung verurteilt wird; mittlerweile und bis zur allendlichen Entscheidung in allen Instanzen hat aber der invalide Arbeiter Zeit gehabt, in Not und Elend zugrunde zu gehen. Überaus häufig ist auch der Fall, daß nach einem geschehenen Unfall die ersatzpflichtige Versicherungsgesellschaft sich anfänglich weigert zu zahlen und abwartet, bis der geschädigte Arbeiter gegen sie den gerichtlichen Klageweg beschreitet. Hat dann der Prozeß sich geraume Zeit hingezogen und ist der arme Arbeiter mittlerweile durch das lange Warten und die drückende Not, in der er sich

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befindet, mürbe geworden, so läßt die Versicherungsgesellschaft sich herbei, dem Arbeiter eine meist äußerst geringe Abfindungssumme anzubieten, falls er seinen berechtigten Anspruch auf volle Entschädigung fallen lassen wolle. Der mittellose, bedrängte Arbeiter ist oft gar nicht in der Lage, dieses Anerbieten auszuschlagen und zieht es vor, eine einmalige, wenn auch sehr geringe Summe sofort ausgezahlt zu erhalten als noch Jahre lang auf den Ausgang des Prozesses, den er seinem Bildungsgrade nach nicht zu beurteilen imstande ist, zu warten. Die Direktion der Versicherungsgesellschaft aber zahlt statt der von ihr rechtlich geschuldeten Tausende von Mark vielleicht nur ebenso viele Hunderte, vermehrt um ebensoviel Bruchteile an Prozenten die Dividendenzahlung auf ihre Aktien, und läßt sich am Schlusse des Jahres von ihren Aktionären für die “ausgezeichnete Geschäftsgebarung” einen Dank votieren.

Daß die Verhältnisse unter dem gegenwärtigen Walten der “freien Konkurrenz” und der “gewinnreichen Privatwirtschaft” auf dem Gebiete der Unfallversicherung in überaus zahlreichen Fällen tatsächlich sich so gestalten, wie wir oben geschildert, können wir mit zahlreichen Beispielen belegen; wir werden dies auch gelegentlich tun und die Namen einiger der dabei beteiligten Versicherungsgesellschaften nicht verschweigen. ─ Für heute wollen wir nur einen zu unserer Kenntnis gelangten Einzelfall hervorheben, der in wahrhaft erschreckender Weise die hier vorhandenen Mißstände beleuchtet.

Ein Mädchen von 18 Jahren, das in Rummelsburg in der Wollspinnerei des Herrn L. beschäftigt war, erlitt daselbst während der Arbeit an einer Maschine am 3. September 1880 eine schwere Beschädigung, infolge deren ihr die linke Hand amputiert werden mußte. Die Ursache des Unfalles bestand darin, daß, trotz seit Jahr und Tag wiederholter Mahnungen, die Maschinen der Fabrik mit keinen Schutzblechen versehen worden waren, letztere sind erst infolge des in Rede stehenden Unfalls in jener Fabrik endlich angebracht worden. Das verunglückte Mädchen war in der Z[üricher?] Unfallversicherungsgesellschaft versichert; die Agenten dieser Gesellschaft weigerten sich aber, die fällig gewordene Entschädigungssumme auszuzahlen, boten indessen den Eltern des erwerbsunfähig gewordenen Mädchens an, eine einmalige Abfindungssumme von 225 M ─ sage 225 M ─ auszuzahlen. Die Eltern des Mädchens gingen begreiflicherweise auf diese Proposition nicht ein und machten, da der Unfall als haftpflichtig bezeichnet worden war, eine Klage gegen die Gesellschaft anhängig. In den Prozeßverhandlungen suchten nun die Agenten der Versicherungsgesellschaft darzutun, daß der betreffende Unfall kein haftpfichtiger gewesen sei und zwar deshalb, weil in dem Momente des erlittenen Unfalls das Mädchen eine Arbeit verrichtet habe, die ihr nicht direkt aufgetragen worden sei, obwohl dem Mädchen in der Fabrik gar keine fest begrenzte Arbeitsleistung zugewiesen worden war, sondern sie zu den verschiedenartigsten Dienstleistungen benutzt wurde. Dieser Einwand wirft in der Tat ein höchst charakteristisches Licht auf den Segen des gegenwärtigen Haftpflichtgesetzes. Seitdem währt dieser Prozeß des armen Mädchens contra Unfallversicherungsgesellschaft fort und ist noch nicht einmal in der ersten Instanz erledigt. Das erwerbsunfähige Mädchen aber fällt ihren in sehr ärmlichen Verhältnissen befindlichen Eltern, die bereits mehrere unerwachsene Kinder ernähren müssen, zur Last.

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Registerinformationen

Personen

  • Stephany, Friedrich Wilhelm (1830─1912) Chefredakteur der “Vossischen Zeitung”
  • 1Eine derartige Veröffentlichung erfolgte z. B. in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung Nr. 572 v. 8.12.1881: Einem auf einer Fabrik in Düsseldorf beschäftigten Arbeiter wurde im Februar des Jahres 1880 durch Herabfallen des großen Hammers, dessen Einrichtung schadhaft gewesen und welcher bestimmungswidrig durch einen Knaben bedient worden, die rechte Hand vollständig zerschmettert, und wurde er dadurch völlig erwerbsunfähig. Durch gerichtliches Erkenntnis vom Juni 1881 sind demselben 750 Mark jährliche Pension zugesprochen worden; die Versicherungsgesellschaft aber appellierte dagegen, und der neue Gerichtstermin wurde erst auf den September 1882 anberaumt. Der Verwendung des Anwalts ist es nun zwar gelungen durchzusetzen, daß der zweite Termin schon im November d. J. stattgefunden hat, und ist dem Beschädigten in diesem eine Pension von 500 M zuerkannt worden; indessen würden nach Ablauf der Appellationsfrist, selbst wenn diese nicht zu neuem Appell benutzt wird, vor Anfang des Jahres 1882 die Auszahlungen nicht erfolgen, und wären somit fast volle zwei Jahre vergangen, ehe ein durch Unfall erwerbsunfähig gewordener Arbeiter, der dazu noch Vater von sieben Kindern ist, zu seinem von zwei Instanzen anerkannten Recht auf Unterstützung gelangen kommte. Welche Härte für den Arbeiter liegt in diesem Usus der Versicherungsgesellschaften, nur durch Prozeß zur Zahlung sich bewegen zu lassen, in Verbindung mit einem so langsamen Gerichtsverfahren ─ welche Versuchung für den Arbeiter, sich durch einmalige Abfindung beschwichtigen zu lassen. Im vorliegenden Falle waren dem Betroffenen von der Versicherungsgesellschaft 1000 M als Abfindungssumme angeboten worden. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 45, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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