II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 41

1882 Februar 17

Entwurf1 von Grundzügen für eine zweite Unfallversicherungsvorlage mit Direktiven des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck

Reinschrift mit Abänderungen/Randbemerkungen Bismarcks

[Zwangsgenossenschaften, Reichszuschuß, Höchstjahresarbeitsverdienst 1200 M, 8tägige Karenzzeit, Betriebsgenossenschaften nach Gefahrenklassen auf Bezirksebene, örtliche Genossenschaftsabteilungen für Leistungen von bis zu 13wöchiger Dauer]

Die Unfallversicherung wird in der Weise durchgeführt, daß jeder Unternehmer einer aGenossenschafta, b angehören muß und daß den aim Anschluß an die Gefah-

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renklassen zu bildendena, c Genossenschaften die Verpflichtung auferlegt wird, die gesetzlichen Entschädigungen unter Beihilfe des Reiches zu leisten. Die Beihilfe des Reiches bildet das Äquivalent, afür die aus der Ver[sicherun]g sich ergebende Erleichterung aller Gemeinden in ihrer Armenpflege u[nd] ist durch die Ungewiß Belastung der Industrie zugunsten staatlicher Zwecke so lange geboten, als die Wirkungen Unschädlichkeit dieser Belastung auf für die Konkurrenzfähigkeit unserer Industrie nicht erwiesen sein wird.a, d Die Arbeiter erhalten einen Entschädigungsanspruch nur für denjenigen Teil ihres Lohnes, welcher 1200 M pro Jahr oder 4 M pro Arbeitstag nicht übersteigt.

Die Feststellung der Entschädigungen wird den Vorständen der Genossenschaften übertragen; der Arbeiter kann gegen die Feststellung [den] aWeg der Beschwerde bei der staatlichen Aufsichtsbehörde u. gegen deren Entscheidunga den Rechtsweg beschreiten (wie nach dem alten Entwurf gegen die Feststellung der Reichsversicherungsanstalt).

Die Auszahlung der Entschädigungen erfolgt vorschußweise durch die aReichs-a postverwaltungen auf Anweisung der Genossenschaftsvorstände.

Halbjährig erhält jede Genossenschaft die Berechnung der für sie gemachten Auslagen, von denen sie der Postverwaltung zwei Drittel zu erstatten hat, während das letzte Drittel vom Reiche erstattet wird.

Kosten werden den Genossenschaften nicht berechnet, wogegen das Reich auch keinen Beitrag zu den Verwaltungskosten der Genossenschaften leistet.

Bei dieser Regelung der Sache fällt die sonst unentbehrliche aber höchst schwierige Kontrolle der Beiträge, zu welchen von seiten des Reiches Zuschüsse zu leisten wären, ganz weg. Für die Bildung der Genossenschaften ist es als Regel angenommen, daß für jeden Industriezweig2 oder für jede Betriebsart eine den Bezirk der höheren Verwaltungsbehörde umfassende Genossenschaft gebildet wird.

Diese Regel erleidet nach zwei Seiten hin Ausnahmen:

1. Wenn die in einem Bezirke vorhandenen Betriebe eines Industriezweiges oder einer Betriebsart nicht so viele Arbeiter beschäftigen, wie mindestens zur Errichtung einer leistungsfähigen Genossenschaft gehören, so werden so viele averwandtea Industriezweige oder Betriebsarten zusammengelegt, als erforderlich sind, um jene Voraussetzung zu erfüllen.

2. Für gewisse Industriezweige, welche mit der Gefahr von Massenverunglückungen verbunden sind, werden die Bezirke der Genossenschaften vom Bundesrat ohne Rücksicht auf die Bezirks- und Landesgrenzen festgestellt.

Die erstmalige Konstituierung der Genossenschaften erfolgt nach den von den höheren Verwaltungsbehörden aufgrund der Vorschriften des Bundesrats über die Einteilung der Betriebe aufgestellten Plänen und unter ihrer Leitung.

Später können sowohl die Genossenschaften selbst, wie die Vertreter der denselben angehörenden Industriezweige und Betriebsarten Abänderungen in der Zusammensetzung der Genossenschaften beantragen, welche immer dann auszuführen sind, wenn unter den Beteiligten Einverständnis darüber herrscht au. die Prästationsfahigkeit gesichert bleibta, während bei nicht vorhandener Einigung Entscheidung von Aufsichts wegen eintritt.

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Die Organisation der Genossenschaften ist so gedacht, daß jede derselben nach außen eine einheitliche Korporation bildet, ain sicha, e aber aus örtlich abgegrenzten Abteilungen besteht, welche nicht nur Verwaltungsorgane der Genossenschaften sein, sondern auch insofern eine selbständige sachliche Bedeutung haben sollen, als diejenigen Entschädigungen, welche für die Zeit der ersten 133 Wochen nach Eintritt des Unfalls zu leisten sind, lediglich durch Beiträge der Abteilung, in deren Bezirk der Unfall eingetreten ist, gedeckt werden sollen.

Da diese Entschädigungen auch von den Abteilungsvorständen festgestellt werden sollen, so wird auf diesem Wege erreicht, daß die vorübergehenden Entschädigungen im einfachsten Verfahren an Ort und Stelle festgestellt werden und sowohl diese Feststellung als auch die Kontrolle gegen Simulation denjenigen obliegt, welche aalsa Zahlungspflichtige das nächste Interesse an der Verhütung ungerechtfertigter Ausgaben haben. Unter diesen Umständen kann die Karenzzeit unbedenklich auf 8 Tage eingeschränkt werden.

Diese ersten 8 Tage sollten, soweit nicht vorhandene Hilfskassen eintreten, dadurch gedeckt werden, daß der Unternehmer eine mäßige Unterstützung leistet.

Durch die Befugnis, Vorschriften zur Verhütung von Unfällen für die ihnen angehörenden Betriebe zu erlassen und dieselben durch Beauftragte überwachen zu lassen, werden die Genossenschaften in die Lage versetzt, für die Minderung der Kosten der Unfallversicherung Sorge zu tragen und damit zugleich das öffentliche Interesse der Unfallversicherung wahrzunehmen. Die Einteilung der Betriebe, nach welcher die Bildung der Genossenschaften zu erfolgen hat, wird dem Bundesrate vorbehalten. Sie eignet sich nicht für gesetzliche Feststellung und setzt die Ausführung der Berufs- und der Unfallstatistik voraus; während das, was durch das Gesetz geregelt wird, auch vorher geregelt werden kann.

[Ursprüngliche Fassung des Referenten]

b Unfallversicherung
c Unfallversicherungs
d dafür, daß die Beiträge, welche zur Deckung der von den Genossenschaften zu leisten- den Entschädigungen erforderlich sind, lediglich von den Unternehmern ohne Heranzie- hung der Arbeiter aufgebracht werden sollen. Mit Rücksicht auf diese gänzliche Befrei- ung von Beiträgen erhalten die Arbeiter
e im innern
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Registerinformationen

Personen

  • Behrend, Moritz (1836─1915) Papiermühlenpächter Bismarcks
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Duttenhofer, Max (1843─1903) Ingenieur und Chemiker
  • Heyking, Edmund Freiherr von (1850─1915) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Lange, Peter (1832─1902) Oberförster und Amtsvorsteher in Friedrichsruh
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Martius, Dr. Carl Alexander (1838─1920) Chemiker und Industrieller
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • Vohwinkel, Friedrich (1840─1900) Fabrikbesitzer und Holzgroßhändler, Gelsenkirchen
  • Westphal, Ernst (1836─nach 1922) Oberförster in Varzin
  • 1BArchP 15.01 Nr. 382, fol. 157─162 Rs.; Die Abänderungen Bismarcks sind durch a-a gekennzeichnet. Das Aktenstück ist weder abgezeichnet noch datiert, es ist nur durch das Geschäftszeichen II 265/82 gekennzeichnet. Das Stück wurde am 28.2.1882 zu den Akten des Reichsamts des Innern gegeben und diente Lohmann als Grundlage für seine Ausarbeitung der Grundzüge, vgl. Nr. 44. Sicher ist, daß diese Reinschrift im Reichsamt des Innern mit durch den Kanzlisten Jahn erstellt wurde (vgl. BArchP 15.01 Nr. 388, fol. 209 u. 211 sowie Nr. 389, fol. 64 ff.), als Konzipient ist Eduard Magdeburg zu vermuten, der seit Ende Februar/Anfang März 1882 als Referent für Unfallversicherung im Reichsamt des Innern wirkte (Lohmann wirkte von da ab als ─ vorgesetzter ─ Koreferent), “Parallelfall” zu Nr. 97? Boetticher war ein Gönner Magdeburgs, den er seit seiner Zeit als Oberpräsident in Schleswig schätzte, als letzterer Landrat des Kreises Sonderburg (Nordschleswig) war. Boetticher hatte auch Magdeburg in das Reichsamt des Innern geholt und konnte sich seiner Loyalität sicher sein. »
  • 2B.: Gefahrenklassen »
  • 3B.: ?, 13 unterstrichen »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 41, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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